Ein Gratis-Tag in Basel

Mittagsschlaf im Möbelhaus, Fithalten beim Probetraining, Übernachten beim Couchsurfing, im Restaurant nur Hahnenwasser bestellen: Wer will kann allerlei kostenlose Angebote in Anspruch nehmen. Die TagesWoche hat es 24 Stunden lang versucht.

Mittagsschlaf im Möbelhaus, Fithalten beim Probetraining, Übernachten beim Couchsurfing, im Restaurant nur Hahnenwasser bestellen: Wer will kann allerlei kostenlose Angebote in Anspruch nehmen. Die TagesWoche hat es 24 Stunden lang versucht.

Geh los und nutze möglichst ­viele Gratisangebote.» Diesen Auftrag erhielt ich an der Redaktionssitzung. Wie schwierig das sein würde, erwähnte ­natürlich keiner. Einen Tag lang kon­sumieren und keinen Rappen ausgeben – da muss man unglaublich dreist vorgehen. Eine Eigenschaft, die ich vom vergangenen Montagabend an 24 Stunden lang kultivierte.

18:00 Uhr. «Möchten Sie sich etwas Bestimmtes anschauen?», fragt die Verkäuferin im Basler Optikergeschäft Visilab freundlich. «Nein, ich möchte nur gerne die Bügel meiner Sonnenbrille anziehen lassen.» Es ist kühl im Laden, aber ich schwitze. Die Brille richten und reinigen lassen, das habe ich schon hundert Mal gemacht – aber immer bei meinem Optiker. Diese Aktion finde ich dreist, die Verkäuferin wohl auch.

Nach einem Blick auf meine billige Sonnenbrille, ist für sie klar: Der Mann ist kein potenzieller Kunde, die Brille Schrott. «Gerne», sagt sie und lächelt verkrampft. Ihr Ausdruck lässt keinen Zweifel, sie würde lieber die zwei wartenden Kunden bedienen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, tue so, als ob mich die anderen Brillen interessierten.

Die junge Verkäuferin kämpft mit meiner Brille, die Schrauben klemmen. Ein Versuch, zwei Versuche. Mir wirds immer unwohler. Noch ein Versuch. Nach fünf Minuten ist es endlich vorbei. «Was bin ich Ihnen schuldig?», frage ich, obwohl ich weiss, dass ihre Antwort sein wird: «Nichts, das ist Service für unsere Kunden.»

18:15 Uhr. Die Terrasse vom Restaurant Nooch beim St.-Jakob-Park ist gut gefüllt. Ich setze mich an einen der wenigen freien Tische. «Guten Abend, möchten Sie essen oder nur etwas trinken?» Der junge Mann lächelt freundlich. «Nur ein Glas Wasser, bitte.» «Mit oder ohne Kohlensäure?» «Hahnenwasser, bitte», sage ich und lächle verschämt.

Beim Mittagessen vor dem Selbstversuch hatte ich ein erstes Mal nur Hahnenwasser bestellt – aber zum Menü. Der Service-Angestellte war nicht weniger verwirrt als der Kellner nun. Mein Gefühl aber war deutlich besser. Das freundliche Lächeln des Kellners ist zu jenem Ausdruck geworden, der mir jedes Mal in dieser Si­tuation begegnen sollte: Der Mund lächelt verkrampft, die Augen verraten ­Irri­tation und Erstaunen.

«Nur ein Hahnenwasser?», fragt er nach. «Ja, bitte.» Er nickt, geht wortlos weg und kehrt mit einem Glas zurück. «Danke», sagte ich freundlich und vertiefe mich in mein Handy. Gratis- WLAN, muss schliesslich auch ausgenutzt werden. Mir ist nicht wohl, die anderen Tische sind voll. Die Leute trinken Bier, bestellen Essen. Nach zehn Minuten packe ich das Glas und gehe an den Tresen. «Vielen Dank, was schulde ich Ihnen?» «Nichts, das ist okay.»

19:00 Uhr. Für die Nacht habe ich mir eine Schlafgelegenheit über Couchsurfing.org organisiert. Auf der Plattform können sich Leute anmelden, die ihr Sofa oder Gästezimmer Reisenden zur Verfügung stellen – kostenlos. Das Paar, das mich aufnimmt, treffe ich am Rhein. Sie haben mich zum Schwimmen eingeladen. Und wie gute Gastgeber so sind, leihen sie mir einen Schwimmsack, ein Badetuch und laden mich zu einem Bier ein.

Normalerweise wäre es angebracht, dass der Gast zumindest eine Runde ausgibt, aber ein Gratistag sieht Nettigkeiten nicht vor. Eine harte Übung. Als ob das nicht schon genug wäre, muss ich zu allem Übel bei ihren Freunden Zigaretten schnorren. Die kostenlose Duschmöglichkeit am Rhein lasse ich aus, ich kann ja später bei meinen Gastgebern duschen.

21:00 Uhr. Den Weg zur Wohnung des jungen Paares müssen wir zu Fuss gehen. Nach dem Aus von «Basel rollt» im Jahr 2000 gibt es keinen kosten­losen Veloverleih mehr. Immerhin gibt es die Möglichkeit, sein Fahrrad kostenlos zu reparieren. Man muss bei ­Veloplus zwar selbst Hand anlegen, das Spezialwerkzeug steht einem aber kostenlos zur Verfügung. Was aber noch wichtiger ist, die Angestellten helfen mit Rat weiter. Ohne Rad aber kein Thema für mich.

21:15 Uhr. Couchsurfing ist eigentlich wirklich nur eine Plattform für Schlafgelegenheiten. Die Gastgeber sind nicht verpflichtet einen zu bewirten. Ich habe Glück. Das junge Paar lädt mich jedoch zum Abendessen ein. Es gibt vorzügliches Couscous mit Ratatouille. Wenn schon dreist, dann richtig, denke ich und nehme einen Nachschlag.

Normalerweise revanchieren sich die Gäste mit einer Flasche Wein oder beteiligen sich an den Kosten, erzählen meine Gastgeber von anderen Besuchern. Ich nicke verständnisvoll, sage «Versteht sich ja» und verabschiede mich ins Gästezimmer auf meine Matratze. Mein schlechtes Gewissen ist inzwischen grösser als ich.

22:00 Uhr. Vor dem Schlafengehen gönne ich mir noch die erste Episode von «Newsroom». Die Serie läuft in der Schweiz noch gar nicht, aber dank ­einer guten Download-Seite und dem Gratis-WLAN im Unternehmen Mitte habe ich am Nachmittag innerhalb von kurzer Zeit die gesamte erste Staffel heruntergeladen. Zudem noch ein paar Songs, die ich mir vor dem Schlafen anhöre. Hemmungen habe ich dabei keine: Die Rolling Stones werden nicht arm, weil ich ein paar Lieder heruntergeladen habe, und da «Newsroom» noch gar nicht in der Schweiz läuft, denk ich mir: Pech.

8:30 Uhr. Augen auf, Handy an – und schon lese ich die neuesten Nachrichten. Einerseits auf den kostenlosen Websites wie jene von TagesWoche, «20 Minuten», «Tages-An­zeiger» oder ausländischen wie «Spiegel», andererseits aber auch Artikel aus den eigentlich kostenpflichtigen Zeitungen. Wer auf Twitter ist und die richtigen Leute abonniert hat, findet zum Beispiel die Links zu den kostenpflichtigen Artikeln des ­«Tages-Anzeigers».

9:00 Uhr. Zwischenstopp auf dem Voltaplatz beim offenen Bücherschrank. Hier kann man Bücher kostenlos mitnehmen – wie auch aus dem Buchregal im Unternehmen Mitte. Die Auswahl ist gross, auffällig viele Sachbücher. Ich schnappe mir «Contonville» von Dieter Zwicky. «Wer Zwickys Geschichten kennt, hat wieder einen Grund weniger, über die Schweizer Literatur zu jammern», lobt die «NZZ am Sonntag» auf dem Buchdeckel.

11:00 Uhr. Der junge Mann am Empfang vom Fitnessclub Indigo lächelt. «Herzlich willkommen zum Probetraining!» Ich versuche, cool zu bleiben. Lasse mir das Rund-um-Sorglos-Paket des Clubs vorstellen. Es gibt kostenlose Getränke, ein Frotteetuch zum Trainieren, eines zum Duschen. Der Trainer ist ein Supertyp. Hört zu, notiert mir einen Plan, geht die Übungen mit mir durch, korrigiert, instruiert. Nach 60 Minuten bin ich tot, körperlich, aber auch seelisch. Ich fühle mich wie ein Betrüger. Jedes Mal, wenn der Coach gesagt hat, «wenn du dich dann für uns entscheidest», habe ich fast die Gewichte fallen lassen.

12:30 Uhr. Mit einem Mordshunger vom Fitnesstraining geht es an den Marktplatz. Die Taktik ist: langsam laufen, Blickkontakt zu den Stand­betreibern suchen. Aktiv auf die Stände zugehen und sagen «Was darf ich gratis probieren?» – das kriege ich nicht hin. «Ein Stück Salsiz vielleicht?», erlöst mich der Herr beim ­Trockenfleisch. Das Wursträdchen schmeckt gut, so gut, dass ich gerne noch ein Stück hätte. Leider gibt es keinen Nachschlag.

Im Globus geht die Misere weiter. keine einzige Probierschale, kein Angebot: ein schlechter Tag! Wie schlecht, bekomme ich im Manor endgültig zu spüren. Die Wassermelone: weg. Der Käse: weg. An der Fleischtheke gibt es nichts. Letzte Hoffnung: die Backecke. Und ich habe Glück, drei Stück Ciabatta-Brot liegen unter der Plastikkuppel. Ein Blick nach links, einer nach rechts. Kuppel auf und weg ist das Brot.

Ich gehe weiter durch den Laden. Eine Runde, zwei, drei. Endlich: Das Brot wird aufgefüllt. Blick nach links, Blick nach rechts – zack, vier Stück geschnappt. Dieses Mal Baguette, köstlich. Wassermelone, Käse, Fleisch – immer noch leer. Ich drehe wieder Runden. Eine, zwei, drei. Nach 30 Minuten gebe ich auf. Hungrig.

13:30 Uhr. Der Verkäufer hat zuerst etwas blöd geguckt, dann hat er sich doch noch getraut, die Frage zu stellen: «Kann ich Ihnen helfen?» Ich sass direkt vor der Wand mit den Fernsehern. «Ja, ich würde gerne in 3-D fernsehen.» «Ist leider aktuell nicht möglich.» «Schade.» «Ja, wirklich», sagt er und geht. Ich bleibe sitzen, starre weiter gebannt auf einen der Fernseher. Der Ton ist nur ganz leise zu hören, die Fern­bedienung liegt nicht herum. Glücklicherweise läuft die Serie mit Unter­titeln. Nach 20 Minuten ist mir die Lust dennoch vergangen, ich kann nicht zappen und die Nonnenserie interessiert mich nicht wirklich.

14:30 Uhr. Auf der Terrasse vom «Schluuch» sitzen zwei ältere Herren. Einer trinkt eine Stange, der andere ein Cola. «Na, was darf es sein?», fragt die Service-Angestellte. «Ein Glas Hahnenwasser bitte», presche ich dieses Mal direkt vor. Sie schaut skeptisch, zögert, dann fragt sie nochmals nach: «Ein Hahnenwasser?» Die beiden Herren schauen von ihrer Zeitung auf, fokussieren mich, dann senken sie ihren Blick wieder. Einer schüttelt den Kopf. Als die Angestellte zurückkommt, bin ich überrascht. Sie hat Eis ins Wasser getan, legt einen Bierdeckel hin, schaut mich an und sagt: «Zum Wohl.»

15:00 Uhr. Wecker gestellt, auf der Bico-Matratze ausgebreitet, schliesse ich die Augen im Möbelladen Pfister. 20 Minuten sind das Ziel, ein Power-Nap. «Entschuldigung! Entschuldigung!», höre ich irgendwann aus der Ferne, aber der Verkäufer steht vor mir. Ich habe geschlafen – trotz Fahrstuhlmusik und Scheinwerfern, die direkt auf die Betten ausgerichtet sind. «Sie benötigen keine Beratung, nehme ich mal an?», fragt der Verkäufer grinsend. «Was, eh, nein, danke.» «Ok», und weg war er wieder. Es wirkte fast so, als ob er sich die Schläfer gewöhnt sei.

16:00 Uhr. «Sie hören rechts tiefe Töne schlecht», sagt der Mann in der Hörberatung Basel. Dass ich mir nach einem Gratishörtest Sorgen machen würde, hätte ich nicht gedacht. Nun weiss ich, dass meine Grossmutter in Zukunft nicht die Einzige ist, die man anschreien muss. «Zur Sicherheit sollten Sie Ihr Gehör jährlich testen lassen», sagt der Mann zum Abschied. Immerhin einen Trost gibt es: Es ist auch beim nächsten Mal kostenlos.

18:00 Uhr. Meine Arme schmerzen, der Magen knurrt, mein rechtes Ohr macht mir Sorgen und ich habe ausser Wasser noch nichts getrunken. Nun ist der Stress aber vorbei, die 24 Stunden um – und ich darf wieder zahlen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.08.12

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