Ein Priester in der Grauzone: Der verurteilte Stefan K. soll Pfarrer von Riehen werden

Stefan K. wurde 2012 wegen sexueller Handlung an einem Kind verurteilt. Jetzt soll er Pfarrer von Riehen werden. Es gibt gute Gründe dafür. Aber auch Grund zu zweifeln.

Einzelne Mitglieder der Riehener Kirchgemeinde wollen Stefan K. als Pfarrer verhindern. Er hatte vor einigen Jahren Jugendlichen die Füsse massiert und ihnen Geld gegeben.

Der Geistliche Stefan K.* ist einen kleinen Schritt von seiner Läuterung entfernt. Die Gemeinde St. Franziskus, zuständig für die Katholiken in Riehen und Bettingen, hat ihn zu ihrem neuen Pfarrer ernannt. Kommt das Referendum gegen seine Wahl nicht zustande, ist K. bald wieder dort, wo er vor Jahren schon einmal war.

2012 wurde der heute 48-Jährige im Kanton Thurgau wegen der sexuellen Handlung an einem Kind verurteilt. Stefan K. war in Aadorf als Pfarrer angestellt, das Opfer des Übergriffs ein jugendlicher Katholik. Die Staatsanwaltschaft verhängte gegen ihn eine bedingte Geldstrafe von 4000 Franken mit einer Bewährungsfrist von drei Jahren. K. akzeptierte den Strafbefehl.

Skepsis in der Gemeinde

In Riehen fragen sich nun Gemeindemitglieder, ob K. mit dieser Vorgeschichte ihr Pfarrer werden soll. Wie das «Regionaljournal Basel» berichtete, wollen sie ein Referendum erwirken und so versuchen, seine Wahl in letzter Minute zu verhindern. Kommen bis zum 26. September 100 Unterschriften zusammen, entscheidet das Riehener Kirchenvolk an der Urne über die Pfarrerwahl.

Mit dem Referendum stellen sich die Kritiker gegen den Entscheid der Pfarrwahlkommission. Diese präsidiert der Basler Rechtsanwalt Stefan Suter. Er hegt Zweifel an den Motiven der Kritiker: «Das sind Leute, die gerne im Versteckten agieren. In ihrem Widerspruch steckt auch viel Moralin drin.»

Was K. getan habe, sei «nicht besonders schlau» gewesen, «aber auch nicht das Delikt des Jahrhunderts» – wenn es denn überhaupt eines gewesen sei. Er hätte den Strafbefehl sicher angefochten, sagt Suter.

Doch warum hat Stefan K. das nicht getan? Die Frage bleibt offen, der Priester spricht nicht mit Journalisten.

Orientierten sich die Massagen am kirchlichen Ritus der Fusswaschung? Oder waren sie sexuell konnotiert?

Was damals in Aadorf vorgefallen ist, lässt sich einigermassen präzise rekonstruieren. Wichtige Leerstellen bleiben zwar, aber es gibt Aussagen der Staatsanwaltschaft und von Personen, die in den Fall involviert waren.

Ihnen zufolge lud K. über Jahre hinweg Jugendliche aus seiner Gemeinde für Fussmassagen in privatem Rahmen ein. Das bestätigen Anwalt Suter und auch das Bistum. Die Staatsanwaltschaft äussert sich nicht dazu. Welchen Charakter diese Massagen hatten, bleibt unklar. Orientierten sie sich am kirchlichen Ritus der Fusswaschung? Waren sie sexuell konnotiert und somit lustgetrieben?

Bei der Massage eines 15-Jährigen ging es für die Thurgauer Justiz um Letzteres: «Für einen objektiven Betrachter hatte die Tat einen klar sexuellen Bezug», erklärte der zuständige Staatsanwalt Jonas Bruderer nach der Verurteilung im «St. Galler Tagblatt». Bei weiteren Fussmassagen an anderen Jugendlichen stellte er keine strafrechtliche Relevanz fest.

Viel Wirbel nach der Verhaftung 2012

An den privaten Treffen wurden indes nicht bloss Füsse massiert, sondern es floss auch Geld. Auch das sagte Staatsanwalt Bruderer dem «St. Galler Tagblatt»: «Ich kann bestätigen, dass der Pfarrer den Knaben bei den Treffen Geld gegeben hat.» Auf Anfrage der TagesWoche bestätigt die Staatsanwaltschaft Thurgau den Wahrheitsgehalt der damaligen Aussagen. Das ist eine der wichtigen offenen Fragen: Warum bezahlte K. die Jugendlichen damals?

Ins Rollen gebracht hatte die Untersuchung der Vater eines Jugendlichen. Er wandte sich an die Polizei, nachdem sein Sohn vom Besuch beim Priester mit viel Geld nach Hause kam. Stefan K. wurde festgenommen und einen Monat lang in Untersuchungshaft gesteckt. Der damalige Bischof des Bistums Basel, Kurt Koch, stellte ihn frei, und K. gab nach der Entlassung aus der Haft das Pfarramt ab. Über zwei Jahre dauerten die Ermittlungen bis zum Strafbefehl gegen K.

«Stefan K. hat sehr gute Arbeit geleistet, er war ein aussergewöhnlich empathischer Seelsorger.»

Pfarrer Daniel Bachmann, Förderer von Stefan K.

Aadorf hatte der Pfarrer da längst verlassen. Und damit auch seinen langjährigen Weggefährten und Förderer Daniel Bachmann. Den Theologen schmerzt die ganze Affäre noch heute.  Im Jahr 2000 lernte er K. kennen, das Einvernehmen war von Anfang an gut, ein Vertrauensverhältnis schnell etabliert. Bachmann war damals Pfarrer, Stefan K. frisch ausgebildeter Vikar mit einer Anstellung in der Seelsorge. «Er hat sehr gute Arbeit geleistet», erinnert sich Bachmann, «ein aussergewöhnlich empathischer Seelsorger.»

2004 wechselte Bachmann nach Frauenfeld und wurde Spitalpfarrer, Stefan K. trat seine Nachfolge in Aadorf an. Im Gemeindedienst blieb Bachmann mit einem Teilzeitpensum tätig. An einem Samstag im März 2010 erhielt er den  Anruf, K. sei festgenommen worden, es gehe um Missbrauchsvorwürfe. «Ich bin aus allen Wolken gefallen», sagt Bachmann. Er rief noch am selben Abend Bischof Koch an, informierte dann seine Mitarbeiter.

Am folgenden Montag, um 14.30 Uhr – Bachmann erinnert sich noch an die Uhrzeit – stellte die Staatsanwaltschaft Thurgau eine Mitteilung ins Netz. «Zehn Minuten später hatte ich den ersten Journalisten dran und um 15 Uhr vermeldete SRF die Nachricht.» Der «Blick» titelte «Erster Schweizer Pädo-Pfarrer sitzt in U-Haft». Bachmann sagt, in jener Zeit habe er gelernt, seriösen Journalismus von unseriösem zu trennen.

Eine Frage der Auslegung?

Die Verunsicherung in der Gemeinde war gross. Für etwas Beruhigung sorgte später die Mitteilung der Staatsanwaltschaft, sie ermittle nicht wegen qualifiziertem, also schwerem Missbrauch. Bachmann sagt: «Von dem Moment an konnte ich wieder mit K. sprechen.»

Sie hätten sich im Seelsorgeteam für folgenden Umgang mit Stefan K. entschieden: «Wir erwarteten von ihm, dass er für seine Taten geradesteht. Für uns war aber zugleich klar, dass wir den Menschen Stefan K. nicht fallen lassen würden.» Die Tat müsse man von der Beurteilung des Täters trennen.

Mit K. blieb er über die Jahre verbunden. Er verfolgte seinen Anlauf, in Riehen Fuss zu fassen und einen Neuanfang zu starten, sie telefonierten oft. Während seiner Bewährungszeit arbeitete K. als Aushilfe in der Seelsorge, predigte vereinzelt in der Kornfeldkirche. Bachmann empfahl K. auch die Zusage, als die Pfarrei in Riehen ihn zum Pfarrer küren wollte.

«Ich habe immer gehofft, dass er wieder eine Chance erhält», sagt Bachmann. «Er hat keinen sexuellen Übergriff begangen, sondern etwas gemacht, was in der heutigen Zeit nicht geht.» Man solle ihn nicht falsch verstehen: «Kindsmissbrauch ist eine der schrecklichsten Taten überhaupt», sagt Bachmann und formuliert dann sein «Aber», spricht die «Grauzone» an, in der sich jeder Jugendarbeiter bewege: «Heute können Sie Kindern nicht mal über den Kopf streichen, ohne in Verdacht zu geraten.»

«Papst Franziskus hat von einer Null-Toleranz gesprochen. Ich habs gewusst, die Kirche und die Bischöfe ändern sich nie!»

Ein Kommentator auf dem Kirchenportal kath.ch 

In Bachmanns Lesart fand kein sexueller Übergriff statt, sondern eine missverständliche Fussmassage, die dank der heutigen Sensitivität als Grenzüberschreitung in den Intimbereich eines Kindes und damit als Straftat ausgelegt wird. Warum K. die Jugendlichen für ihren Besuch bezahlt hat? Bachmann sagt: «Er war ein lieber Kerl. Er hat Jugendlichen geholfen, die Geld brauchten.»

In der katholischen Community wird der Fall kontrovers diskutiert. Auf der Facebook-Seite des grossen Kirchenportals kath.ch schreibt eine Frau: «Jede und jeder hat eine zweite Chance verdient!»

Auch Skeptiker melden sich zu Wort: «Papst Franziskus hat von einer Null-Toleranz gesprochen. Ich habs gewusst, die Kirche und die Bischöfe ändern sich nie!», meint ein Mann. Weil in der Rechtfertigung die routinierten Ausreden anklingen, die man von dieser Institution schon zu oft gehört hat?

Jahrzehntelang war Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche verbreitete Praxis. Bis heute verharmlost und vertuscht sie das. Straftäter wurden oft versetzt statt zur Rechenschaft gezogen, wenn ihr verbrecherisches Treiben in einer Gemeinde an die Oberfläche gelangte.

Ist Stefan K. so ein Fall? Einer, dem die Kirche eine zweite Chance gewährt, statt konsequent zu handeln? Tue Busse und dir wird vergeben?

Vor der Wahl: Gutachten oder  Image

Zumindest ein Vorwurf lässt sich nicht erheben: Dass das Bistum Basel als Arbeitgeber von Stefan K. die Sache vertuscht hätte. Schon Bischof Koch handelte sofort, veranlasste die Freistellung. Und auch sein Nachfolger Felix Gmür befasste sich intensiv mit der Causa und auch in der gebotenen Transparenz. Gmür hat die geplante Anstellung in Riehen abgesegnet.

Hansruedi Huber ist Gmürs Sprecher und als solcher sehr interessiert an der Aussenwirkung des Bischofs und des Bistums. Huber reagierte alarmiert, als aus Riehen die Anfrage eintraf, K. das Pfarramt zu übertragen. Er ging zu Gmür und sagte: «Egal wie viele Gutachten es gibt, aber diese Anstellung ist politisch nicht machbar!»

Der Bischof erwiderte Huber, dass er sich als Bischof nicht am Image, sondern am Evangelium orientiere. Gmür nahm sich Zeit, wog die Ansprüche der verschiedenen Beteiligten ab, berücksichtigte auch das gesellschaftliche Ziel der Resozialisierung. Huber sagt nun: «Nachdem drei unabhängige Gutachten nach menschlichem Ermessen keine Rückfallgefahr attestiert hatten, die Bewährungszeit ohne Einsprachen abgelaufen war und auch der Vatikan bereits vor Jahren nur einen Verweis gefordert hatte, lagen keine staatlichen und kirchlichen Hindernisse mehr vor, sodass die Wahlfähigkeit bestätigt werden konnte.»

Das psychologische Gutachten ordnet Stefan K. auf der Skala von 1 bis 10 bei einer 1 ein: nicht pädophil.

Tatsächlich ist die kircheninterne Prüf- und Meldestelle für Missbrauchsfälle der vatikanischen Glaubenskongregation, nach Untersuchung des Falls K., zum Schluss gekommen, ein Verweis reiche aus, ein Entzug der Misso Canonica gehe zu weit. Das Gremium ist allerdings umstritten. Es steht regelmässig in der Kritik, nicht angemessen mit Missbrauchsvorwürfen umzugehen.

Von den Gutachten ist vor allem eines werthaltig. Verfasst hat es die Psychologin Monika Egli-Alge vom Forensischen Institut Ostschweiz. Das Institut wird von Justizbehörden regelmässig zu Rate gezogen, um Beurteilungen von pädophilen Straftätern vorzunehmen. Das Ostschweizer Gutachten ordnet Stefan K. auf der Skala von 1 bis 10 bei einer 1 ein: nicht pädophil.

Kein Ausweg aus dem Dilemma

Alle Zweifel beseitigt? So einfach ist die Sache nicht. In einer neuen Studie aus Deutschland, die erstmals systematisch den Kindsmissbrauch katholischer Amtsträger untersuchte, findet sich eine Analyse zu den Motiven der übergriffigen Geistlichen. Von 50 Beschuldigten sahen die Forscher nur 14 als fixiert pädophil an. Bei 29 Befragten, die sich an Kindern vergangen hatten, fanden sich keine pädophilen Anzeichen, sondern «ein regressives Muster», das «sich vor allem durch Verdrängung sexueller Bedürfnisse, fehlende sexuelle Reife und soziale Gehemmtheit charakterisieren lässt».

Die Antwort auf die Frage pädophil oder nicht vermittelt deshalb keine Orientierung. Sie hilft nicht, die Guten von den Bösen zu trennen. Und letztlich auch nicht, das Missbrauchsproblem einzugrenzen. Die Tradition der sexuellen Übergriffe in der katholischen Kirche, das weiss man schon länger, wurzelt tiefer als in etwelchen krankhaften Neigungen.

Stefan K. werden die Zweifel vermutlich auch dann begleiten, wenn er in Riehen als neuer Pfarrer arbeiten darf. Ob berechtigt oder nicht. Wer verurteilt wird, verliert das Stigma des Schuldigen nicht so schnell.

Auch die katholische Kirche, das Bistum Basel, steckt im Dilemma fest. Darf sie mit ihrer Vorgeschichte nach Schuldsprüchen noch relativieren, differenzieren? Darf sie Zweifel zulassen?


* Name der Redaktion bekannt.

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