Mit ADHS wird heute schnell einmal störendes Verhalten erklärt. Manchmal auch zu schnell.
Lino ist 13 Jahre alt, manchmal ist er schlecht gelaunt und frech, manchmal gut drauf und wohlerzogen. Ein typischer Teenager eben – anstrengend bis nervtötend für die Erziehungsberechtigten. Lino war allerdings schon früher so. Er galt stets als schwieriges Kind; intelligent, aber aufsässig. Ein Nein, ob von Eltern oder Lehrern ausgesprochen, akzeptierte er nicht einfach, sondern stellte es zur Diskussion. Grenzen bedeuteten für Lino meistens, sie erst einmal zu überschreiten. Er wolle das nicht, erklärte er jeweils, er könne nicht anders.
Lino ist deshalb in den vergangenen Jahren schon in einigen Arztpraxen gesessen, psychologisch abgeklärt und behandelt worden. Eine Zeit lang auch mit Ritalin, einem Medikament, das für die Therapie des unter dem Kürzel ADHS bekannten Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms eingesetzt wird. Der behandelnde Psychologe diagnostizierte bei Lino zwar kein eindeutiges ADHS, aber die damalige Lehrerin erklärte den Eltern, sie unterrichte Lino nur weiter, wenn dieser Ritalin nehme.
«Ich konnte mich nun besser konzentrieren», sagt Lino, «aber sonst ging es mir einfach Scheisse.» Er habe keinen Hunger mehr gehabt, konnte nicht mehr schlafen. Seine Mutter erzählt, irgendwann habe Lino gesagt, er wolle nicht mehr leben. Linos Eltern beschlossen, das Medikament sofort abzusetzen und die Schule zu wechseln.
ADHS ist heute eines der am häufigsten beschriebenen Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen. Die Schätzungen darüber, wie viele davon betroffen sind, gehen zum Teil weit auseinander. In der Schweiz spricht man von 3 bis 10 Prozent, in den USA bis gegen 20 Prozent. Ein Unterschied, der den Kritikern, die ADHS als subjektiv getroffene Diagnose bezeichnen, recht zu geben scheint.
Halt, sagt Rolf-Dieter Stieglitz, leitender Psychologe an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) in Basel, es würden zwar unterschiedliche Diagnosesysteme angewendet, doch die Kriterien seien grundsätzlich übereinstimmend. Die unterschiedlichen Zahlen kämen daher, so Stieglitz, «dass die Amerikaner die Schwelle niedriger ansetzen als wir».
Ritalin für Erwachsene
Das heisst, im Gegensatz zu den USA würden hier für eine seriöse ADHS-Diagnose nebst der Störung der Aufmerksamkeit noch weitere Symptombereiche wie Hyperaktivität und Impulsivität sowie Beeinträchtigungen aus mehreren Lebensbereichen berücksichtigt. Stieglitz, der an den UPK eine Sprechstunde für ADHS-Patienten leitet, räumt allerdings ein, dass auch hier manchmal «zu schnell und ohne hinreichende Kenntnisse» Medikamente gegen ADHS verschrieben würden. «Eine wirklich gute Abklärung ist sehr aufwendig, und die Gefahr besteht tatsächlich, jedes Fehlverhalten mit ADHS zu erklären.»
Fakt ist, dass der Verbrauch von Methylphenidat-Präparaten wie Ritalin und Concerta, mit denen das Syndrom behandelt wird, seit den 1990er-Jahren auch in der Schweiz kontinuierlich gestiegen ist (siehe Grafik). Novartis stellt zwei solcher Präparate her – das altbekannte Ritalin und das neuere Focalin –, gibt aber keine länderspezifischen Zahlen bekannt. Doch: Weltweit hat sich der Umsatz seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt, von damals 241 Millionen Schweizer Franken mit Ritalin auf 550 Millionen US-Dollar im Jahr 2011 mit Ritalin und Focalin.
Methylphenidat ist eine amphetaminähnliche Substanz und erhöht im Hirn die Konzentration des Botenstoffs Dopamin, der bei ADHS nicht in ausreichender Menge vorhanden ist. Methylphenidat fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Gemäss Stieglitz wird der Verbrauch wohl weiter ansteigen: «Nicht unbedingt bei den Kindern, aber bei den Erwachsenen.» Weil ADHS bei den Erwachsenen erst seit rund zehn Jahren erkannt sei und weil man heute wisse, dass etwa 65 Prozent der Kinder mit ADHS auch als Erwachsene noch daran litten.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12