Die Krankmacher

Nie waren wir so gesund wie heute. Doch mit allen möglichen Check-ups und immer tieferen Grenzwerten machen uns Ärzte und Pharmaindustrie trotzdem zu Patienten. Ein äusserst lukratives Geschäft.

(Bild: Domo Löw)

Nie waren wir so gesund wie heute. Doch mit allen möglichen Check-ups und immer tieferen Grenzwerten machen uns Ärzte und Pharmaindustrie trotzdem zu Patienten. Ein äusserst lukratives Geschäft.

Fühlen Sie sich gesund? Schön, aber das muss gar nichts heissen. Vielleicht ist Ihr Blutdruck zu hoch – und Sie wissen es nur noch nicht. Bluthochdruck gehört zu den Hauptrisiken für Hirnschlag, Herzinfarkt und plötzlichen Herztod. In der Schweiz hat jede vierte erwachsene Person einen zu hohen Blutdruck. Ein Drittel der Betroffenen weiss nichts davon. Das zu ändern ist das Ziel der «Nationalen Blutdruck-Offensive» der Schweizerischen Herzstiftung. Empfehlung: Einmal jährlich messen lassen.

Auch bei Diabetes und erhöhten Cholesterin-Werten beklagen Präventionsfachleute gebetsmühlen­artig, dass die Diagnose oft viel zu spät gestellt werde. Ihre Empfehlung: regelmässig testen. Zur Sensibilisierung der Bevölkerung werden Kam­pagnen gefahren – von grossflächigen Medienoffensiven bis hin zu Tests in Apotheken und Einkaufszentren.

Prä wie Prävention

Prävention eben. Wer kann dagegen sein? Die Kehrseite der Medaille: Mit dem Früherkennungswahn, sagen Kritiker, wird jede Abweichung von der Norm pathologisiert. Immer öfter werden fragwürdige Risikofaktoren für eine Krankheit behandelt, noch bevor die ersten Symptome vorhanden sind. Prä heisst die Zaubersilbe, mit der schon mögliche Vorboten einer allfälligen Gesundheitsstörung zur Krankheit erklärt werden.

Beispiel Prähypertonie. Die US-Leitlinien sehen die Schwelle für eine medikamentöse Behandlung von Bluthochdruck bei 130/80 mm Hg. Distanzierten sich europäische Ärzte anfangs noch deutlich von der 2003 eingeführten neuen Grenze in den US-Richtlinien, hielt sie 2007 langsam Einzug in die EU-Richtlinien. Der Begriff «Prähypertonie» existiert offiziell bei uns in der Klassifikation von Bluthochdruck bis heute nicht. Behandelt wird sie trotzdem immer öfter.

«Natürlich gibt es sie noch, Ärzte, die einen auch bei einem Blutdruck von 140/90 mm Hg erst einmal gründlich anschauen, bevor sie ein Medikament verschreiben», sagt Axel Rowedder, ärztlicher Leiter der Praxis Medix toujours in Basel. «Aber der Druck, die US-Richtlinien zu übernehmen, ist in der ganzen westlichen Welt vorhanden.»

Beispiel Prädiabetes: Galt bis vor Kurzem ein Blutzuckerwert von 7 mmol/l als Untergrenze für eine ­medikamentöse Therapie, definierten die Amerikaner einen neuen Grenzwert. Ab 5,3 mmol/l spricht man seither von Prädiabetes. Die Folgen von Diabetes: Organ- und Nervenschädigungen, amputierte Glieder, Blindheit. Wie viele Frühdiabetiker tatsächlich erkranken, steht auf einem anderen Blatt. Die Anzahl Patienten hat sich mit der Herabsetzung der Grenze in den USA schlagartig verdoppelt.

Cholesterinsenker ohne Messung

Cholesterinsenker sind die weltweit meistverkauften Medikamente. Angeführt wird die Hitparade von Pfizers Lipitor. «Bei uns erhält jeder Patient stan­dard­mäs­sig Cholesterinsenker, wenn er einen Herzinfarkt erlitten hat», erklärt Arzt Rowedder. In den USA dagegen würden heute Risikopatienten – männlich, rundlich und ein bisschen älter – zum Teil ohne Messung der Blutfettwerte behandelt. Anders herum formuliert: In den USA ist der Markt mehr oder weniger gesättigt, in Europa dürfte noch etwas zu holen sein.

Sieben der 20 umsatzstärksten Medikamente in der Schweiz behandeln Bluthochdruck, Diabetes und erhöhtes Cholesterin. Lassen sich durch Präventionsmassnahmen und Absenkung der Behandlungsschwelle nur 50’000 zusätzliche Patienten finden, beschert das der Pharmaindustrie einen Mehrumsatz von gut und gern 25 Millionen Franken im Jahr.

Am lukrativsten sind Patienten mit Altersdiabetes, denn bei ihnen sind meistens auch Blutdruck und Cholesterin erhöht. Solche Menschen nehmen über den Tag verteilt oft einen ganzen Mix von Medikamenten ein – manche davon zur Bekämpfung der Nebenwirkungen von anderen.

Pharmaindustrie zieht die Schrauben an

Um uns unser Kranksein bewusst zu machen, halten sich die Pharmamultis Marketingabteilungen und PR-Agenturen. Das Vorgehen ist immer das Gleiche: Am Anfang steht eine Sensibilisierungskampagne, die aufzeigt, dass gesundheitliche Probleme wie Übergewicht, Diabetes oder Osteoporose jedes Jahr Hunderte von Millionen Franken kosten. Die übelsten aller möglichen Folgen werden aufgezählt. Anschliessend erklären die Mediziner und die Medien das Leiden zur «Volkskrankheit».

Zur Unterstützung der Prävention alimentiert die Industrie Betroffenenorganisationen, finanziert Be­ratungstelefone, sponsert Medienberichte, Symposien und Seminare. Natürlich darf auch der obligate ­betroffene Promi nicht fehlen. Aktuelles Beispiel: das Coming-out des einstigen Managers von Schalke 04, Rudi Assauer, an Alzheimer zu leiden.

Jeder Fünfte wird depressiv

Bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen ist die Grenze zwischen normaler und krankhafter Reaktion auf ein Ereignis noch schwieriger zu ziehen als bei einem körperlichen Leiden. Die Folge: Viele Depressionen bleiben undiagnostiziert. In der Schweiz gehen Psychiater davon aus, dass jede fünfte Person im Lauf ihres Lebens an einer klinisch relevanten Depression erkrankt. Um über die «Volkskrankheit Nr. 1» («Der Spiegel») aufzuklären, tourt die Deutsche Depressions-Liga bis September auf Tandems durchs Land.

Wie jetzt? Sie fühlen sich gar nicht niedergeschlagen? Dann leiden Sie vielleicht am hinterhältigen Sissi-Syndrom, benannt nach der beliebten Kaiserin: Sie verbergen Ihre Depressionen so raffiniert, dass Sie sie selbst nicht mehr spüren. Kann man aber behandeln.

Auch die Aufmerksamkeitsstörung ADHS oder ADS musste lange um Anerkennung kämpfen. Zur Unterstützung warb Novartis mit der hibbeligen «Krake Hippihopp» für ihre «kleine, weisse Tablette» Ritalin. Heute ist das Syndrom etabliert, die Tablette bekommen nicht nur krankhaft zapplige, sondern auch einfach lästige Kinder. Und als neuen Markt hat Novartis die Erwachsenen entdeckt. Händereiben beim Hersteller.

Jede(r) zweite stirbt den Kreislauf-Tod

Hätten Sie gewusst, dass jeder zweite Deutsche an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung oder einem Schlaganfall stirbt? Hauptursache: Bluthochdruck. Wer nichts gegen die «Zeitbombe in unserem Körper» tut, nimmt schwere, chronische Erkrankungen und ein verkürztes Leben in Kauf.

1999 warnte die Herzstiftung in einer Broschüre zum Thema: «Betroffen ist jede zweite Frau, und insgesamt sterben daran doppelt so viele Frauen wie an allen Formen von Krebs zusammen.» Das stimmt sogar, doch die Hälfte der verstorbenen Frauen war über 85 Jahre alt.

Was in keiner Präventionsbroschüre steht, hat der «Beobachter» vor einigen Jahren berechnet: Wenn tausend 45-jährige Männer zehn Jahre lang blutdrucksenkende Medikamente nehmen, kostet das inklusive Arzthonorare und Behandlung von Nebenwirkungen rund 7 Millionen Franken. Damit lassen sich 16 Herzinfarkte, Hirnschläge und ähnliche Ereignisse vermeiden. Kosten pro verhindertes Ereignis: rund 440 000 Franken. Zum Vergleich: Die Akutbehandlung eines Herzinfarkts kostet 10 000 bis 20 000 Franken. Lohnt sich das? Diese Frage zu beantworten ist freilich nicht Sache des Mediziners. Und die Gesellschaft ist damit überfordert.

Kostentreiber Prävention

Die Schweiz hat nach den USA das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt. Im Jahr 2009 kostete es uns 61 Milliarden Franken. Zum Vergleich: 2000 waren es noch knapp 43 Milliarden. Schon heute geben wir 653 Franken pro Einwohner aus – im Monat. Die Prävention, darin sind sich Gesundheitsökonomen einig, gehört zu den grossen Kostentreibern. Wollen wir uns das wirklich leisten? Die meisten werden mit Nein antworten. Ändern wird sich trotzdem nichts. Denn bremsen lässt sich die Kostenspirale kaum.

Wer es versucht, zieht den Zorn einer ganzen Branche auf sich. Das musste das Swiss Medical Board erleben, das im Auftrag der Schweizerischen Gesundheitsdirektoren-Konferenz Behandlungen auf Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit prüft. Die Institution kam zum Ergebnis, dass der flächendeckende PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs ungeeignet sei. Das Swiss Medical Board empfahl weiter, die Untersuchung aus dem Leistungskatalog der Grundversicherung zu streichen.

Ein Aufschrei ging durch die Ärzteschaft und die Presse. Selbst in der «Schweizer Illustrierten» wurde die Empfehlung als unverantwortlich kritisiert. «Die SI sollte mal eine Homestory machen über einen 50-jährigen Mann, dem unnötigerweise die Prostata entfernt wurde und der seither den Urin nicht mehr halten kann», sagt Medix-toujours-Arzt Axel Rowedder. «Von denen gibt es einige. Nur hört oder liest man nie von ihnen.»

Beliebig erweiterbare Krankheiten-Liste

Zu einem ähnlich vernichtenden Befund kommen Kritiker bei der Brustkrebsvorsorge. Etwa der Forscher Gerd Gigerenzer vom Berliner Max-Planck-Institut: «Beim Mammografie-Screening wird häufig gesagt, es reduziere das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 25 Prozent», so Gigerenzer in einem «Spiegel»-Interview. «Wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, sieht man, dass von 1000 Frauen ohne Mammografie-Screening innerhalb von zehn Jahren vier an Brustkrebs sterben. Mit Screening sind es drei.» Gleichwohl gehört die Untersuchung zum Leistungskatalog der Grundversicherung – ohne Selbstbehalt.

Lungenkrankheiten, Depressionen, Altersdemenz: Die Liste der Krankheiten, die wir haben können, ohne es zu wissen, lässt sich beliebig erweitern. Rowedder: «Jedes Fachgebiet hat seinen Graubereich, wo die Diagnose nicht so eindeutig zu stellen ist.» Und wenn man bei Haarausfall oder nachlassender Lust und Potenz im Rentenalter nicht wirklich von Krankheiten sprechen kann – diagnostizierbar, und vor allem behandelbar, sind diese Leiden alleweil: Xenical gegen Übergewicht, Propecia gegen Haarausfall, Viagra gegen die ermattete Manneskraft.

Alles ist möglich

Nicht zu vergessen: der unerfüllte Kinderwunsch. Jedem dürfte klar sein, dass ein weiblicher Körper mit 66 keine Zwillinge mehr gebären sollte. Möglich gemacht wird das Kinderkriegen trotzdem – dank Fortpflanzungsmedizin.

Wer das Vorgehen der Gesundheitsindustrie kritisiert, läuft immer auch Gefahr, ernsthaft Betroffene zu verletzen oder gar als Simulanten zu stigmatisieren. Vielleicht liegt es daran, dass das «Disease Mongering» (Erfinden von Krankheiten) – vor rund zehn Jahren noch ein echtes Trendthema – heute kaum mehr interessiert. «Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass die Kritiker resigniert haben», sagt der Journalist und Gesundheitsberater Urs Zanoni. «Die Gegenseite ist einfach übermächtig.»

Hier kommen wir Patienten ins Spiel. Medix-toujours-Arzt Axel Rowedder teilt uns in zwei Gruppen: Da sind zum einen die Unwilligen, die vom Arzt am liebsten gar nichts wissen wollen. Und dann sind da jene, die jede Störung der täglichen Befindlichkeit sofort behandeln lassen wollen. Etwa die diffuse, anhaltende Müdigkeit. Man fühlt sich nicht mehr so leistungs­fähig. «Manchen reicht ein zweiter grippaler Infekt in einem Winter als Beleg für eine Schwächung des Immunsystems.»

Check-up-Industrie wächst

Was macht man? Man geht zum Check-up. In den letzten Jahrzehnten ist in der Schweiz eine veritable Check-up-Industrie entstanden. Das Angebot reicht vom Blutdruck-Test in der Apotheke bis zum Check-up-Center, wo sich Gutbetuchte ihre Gesundheit von Spezialisten zertifizieren lassen können.

Rowedder ortet hier eine Erwartungshaltung, der weder Arzt noch Medizin gerecht werden können. «Man lässt einen Check-up machen wie beim Auto, und wenn der Arzt eine gute Verfassung attestiert, geht man davon aus, dass einem die nächsten zwei Jahre nichts passiert. Dabei kann man mit einem glanzvollen Resultat aus der Praxis laufen und auf der Strasse den plötzlichen Herztod sterben.»

Umgekehrt gilt natürlich, dass wer behandelt werden will, auch behandelt wird. Wenn nicht bei diesem Arzt, dann eben beim nächsten. Oder man konsultiert direkt einen Spezialisten. Ganz nach dem Motto: Es gibt keine gesunden Menschen. Es gibt nur schlecht untersuchte.

  • Beachten Sie die Links zu weiterführenden Informationen auf der Rückseite dieses Artikels.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12

Aktualisierung 10.3.12: Die Mood-Tour der Deutschen Depressions-Liga legt Wert auf die Berichtigung, dass sie nicht per Bus, sondern per Tandems durch Deutschland tourt. «Bytheway: die Mood-Tour möchte niemanden einreden, er solle früher zum Arzt oder so, sondern möchte einen Beitrag leisten das D-Wort zu entsigmatisieren.» 

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