Ein weihnächtlicher Bilderbogen

Zur Einstimmung auf die Heilige Nacht hat uns Christoph Simon, amtierender Schweizer Meister der Slam Poetry, eine Geschichte geschrieben.

«Ich gebe zu: Weihnachten ist für mich tatsächlich eine besinnliche, zauberhafte Zeit.» (Bild: Christoph Simon)

Zur Einstimmung auf die Heilige Nacht hat uns Christoph Simon, amtierender Schweizer Meister der Slam Poetry, eine Geschichte geschrieben.

Liebe Leserschaft

Ich weiss. Wer einen Slam Poeten einlädt, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, hegt die Hoffnung, er werde ein paar Tabus brechen. Sich dem Fest mit schwarzem Humor nähern. Es tut mir leid, ich kann diese Erwartung nicht erfüllen. Die Familie verzankt sich zwar am Heiligen Abend regelmässig – aber wer ist nicht überfordert, wenn er an einem Anlass gleichzeitig Veranstalter, Publikum und Auftretenden zu spielen hat? Warum sollte ich darüber herziehen wollen?

«Dann gib uns wenigstens satirische Gesellschaftskritik!»

Ach je. Da ich keine christlichen Werte hochhalte (die Liebe wurde nicht von Jesus erfunden), ist es mir auch völlig gleichgültig, wenn Weihnachten zum grossen Konsumfest «entartet».

Ich gebe zu: Weihnachten ist für mich tatsächlich eine besinnliche, zauberhafte Zeit. Man bastelt was für seine Liebsten. Versucht, den edlen Teil von sich herauszukehren. Deshalb wage ichs, Euch einen stillen Text anzutragen.

Morgens und abends – ein weihnächtlicher Bilderbogen

Am Morgen des 24. Dezember erzählt Frau Waltenspül dem wehrlosen Beamten am Postschalter ihren nächtlichen Traum von Hirten und Engeln.

Am Morgen schreibt Frau Fischer ihre Kellerschlüssel mit «Keller» an.

Am Morgen sagt Herr Camenzind mit einem sentimentalen Seufzer zu seiner Tochter vor der Pizzeria: «Hier habe ich deine Mutter kennengelernt. Damals nannte sich das noch Gasthof.» Soweit die Tochter informiert ist, hat Herr Camenzind hier auch ihre Stiefmutter kennengelernt.

Am Abend nimmt das scharf gewürzte Tex-Mex bei der Mutter seiner Tochter Herrn Camenzinds sämtliche Kräfte in Anspruch.

Am Morgen halten die Autos in der 20er-Zone tatsächlich an und winken Frau Selimi, beladen mit einer Nordmanntanne, grosszügig über die Strasse.

Am Abend hat Frau Selimi die Tanne aufgestellt und mit Kerzen, Glaskugeln, Deko-Schnee (schwer entflammbar), Filzeule und Goldstern geschmückt. Es kann nicht genug dran hängen. Die Enkel und Urenkel jagen einander um den Baum und ignorieren fröhlich die Warnschreie der Erziehungsberechtigten.

Am Morgen drückt Herr Seitz im Büroturm für alle den Liftknopf.
Am Abend klebt Herr Seitz in der Siedlung frohsinnig-besinnliche Bemerkungen an die Haustüren der Nachbarn.

Am Morgen informieren sich die Senioren-Generalabonnenten Häfliger und Suppiger unter Häfligers Regenschirm auf einem Bänkchen am Bahnhof gegenseitig über aktuelle Fahrleitungsstörungen auf dem SBB-Netz.

Am Abend repetieren Herr Häfliger und Herr Suppiger den Zugfahrplan vor Inbetriebnahme des neuen Lötschberg-Basistunnels, während sie sich zur Christnachtfeier mit Gospelchor, Glühwein und Punsch in die Kirche begeben.

Am Morgen kauft sich Verena den Film «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel» und genug Lametta, um damit den Gurten zu schmücken.

Am Abend schaut Verena «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel», während ihr Partner abräumt, den Abwasch macht, die Tischflächen von Kerzenwachs und die Wohnung halbwegs vom Lametta befreit und dieses heimlich in den Wohnzimmerschrank zurücklegt.

Am Morgen trägt Hebamme Claudia die Daten ihrer Neugeborenen im Jahreskalender ein.

Am Morgen setzt Ibraim ein 5000-Teile-Alpen-Panorama-Puzzle zusammen.

Am Abend reicht Ibraim sein auf Karton geklebtes 5000-Teile-Alpen-Panorama-Puzzle übers Balkongeländer seiner grossen Liebe Claudia, die weder von Ibraims Liebe noch vom Geschenk etwas ahnt, und die Festtage mit zwei Hausgeburten füllt.

Am Morgen sieht Michael konzentriert auf die Ausstechformen (12-teiliges Arche-Noah-Set), als könnten ihm die Giraffe, das Schweinchen, der Schmetterling oder das Nilpferdchen sagen, was er als nächstes anteigen soll – Mailänderli oder Brunsli?

Am Abend zählt Michael seiner Gefährtin Margot beim Mailänderli- und Brunsliznacht am Fluss fünf Dinge im ablaufenden Jahr auf, für die er dankbar ist; eine Aufzählung, die Margots Glücksempfinden bis ins neue Jahr heben wird.

Am Morgen geht Herr Hug mit einer Migros-Tragetasche aus dem Haus, um der Brockenstube seine Postkartensammlung 1880–1951 zu schenken; kehrt aber mitsamt seiner Postkarten und zusätzlich erstandenen vergilbten Fotos von Bahnen, Velos, Trams, Gasthöfen und Brauereien von 1870–1920 zurück.

Am Abend übergibt Herr Hug seinen Grossneffen die Postkartensammlung 1880–1951 und erzählt von den Weihnachtsfesten seiner Kindheit: «Bevor bei uns irgendjemand beschenkt wurde, musste man sitzen, singen, spazieren gehen und erst dann, mit durchfrorenen Fingern, durfte man endlich die Päckchen öffnen. Erhielten wir zu viele Geschenke, wurde die Hälfte weggeschlossen und fürs nächste Jahr aufgehoben.»

Am Morgen betrachtet sich Raymond im Badezimmerspiegel daheim bei den Eltern und sieht das Gesicht eines alleinstehenden Fünfundvierzigjährigen, der beste Jahre nie gehabt hat und nicht mehr haben wird. In einem Schönheitswettbewerb würde man sein Geld nur unter Zwang auf mich setzen, denkt Raymond bitter, und nicht einmal meine Mutter hat mich je mit Christbaumschmuck verwechselt.

Am Abend betrachtet Raymonds Mutter ihren Sohn im abgedimmten Licht rund ums Fondue Chinoise und bezeichnet sein Gesicht als «das Gesicht eines Mannes auf dem Höhepunkt seines Schaffens, ein Gesicht, das mit jedem Jahr an Reiz gewinnt.»

«Hör auf, Müeti», wehrt Raymond ab, gerührt und beschwipst. Später betrachtet er sich abermals im Badezimmerspiegel und muss der Mutter Recht geben: «Doch, doch – ich bin schon das, was ein Maler sucht, wenn er die Staffelei auf die Weide stellt und den Horizont nach einer Person absucht, um sie neben einen Heuhaufen zu pinseln.»

Am Morgen klettert Maxim Junior auf den Geschenketurm in der Mitte der Stube, und noch ehe es Grossmutter mütterlicherseits verhindern kann, springt er ab, dreht einen Salto und landet sicher auf den Füssen. Das Herz von Grossmutter mütterlicherseits bleibt beinahe stehen. Am Abend herrscht Gedränge im Zimmer von Grossmutter väterlicherseits im Altersheim. Maxim Junior hat sich gewünscht, dass sie zu Beginn der Familienzusammenkunft «Puppchen, du bist mein Augenstern» auf der elektrischen Heimorgel spielt, aber das hat sie vom Programm gestrichen und durch «Stille Nacht» ersetzt. «Wir lassen uns von diesem kleinen Schrullkopf doch nicht alles vorschreiben», sagt Grossmutter väterlicherseits mit einem trotzigen Lächeln.

Am Morgen kommt Herr Pfenninger beim Primarschulhaus vorbei, wo ihm der Samichlaus einst das Bein gestellt hat. Herr Pfenninger und sein Labrador gehen oft am Schulhaus vorbei, ohne dass Herr Pfenninger an Lehrer Strittmatter im Samichlauskostüm denken muss, aber heute fällt ihm alles wieder ein. Wie der Lehrer sie alle gequält hat, nicht nur im Dezember. Wenn man träumend aus dem Fenster geschaut hat, das Kinn in die Hand gestützt, hat er einem den Ellbogen vom Fensterbrett gestossen.

Am Abend steht Herr Pfenninger mit seinem Labrador in der 20er-Zone und winkt die Autos der satt und müde Heimfahrenden vorbei.

Am Abend schreibt Frau Fischer ihre Estrichschlüssel mit «Estrich» an.

Am Abend des 24. Dezember erzählt der Postbeamte seinen schläfrigen Kindern Frau Waltenspüls Traum von Engeln und Hirten.

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Christoph Simon ist Autor und Slam Poet. Er lebt mit seiner Familie in Bern.   

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