Endstation Grenze

Dem Abschnitt «St-Louis-Grenze» im St. Johann wird kaum Beachtung geschenkt. Zu Unrecht: Dort spielt sich die Welt im Kleinen ab.

Kein Ort fürs Tête-à-tête: Das Café de la douane in St-Louis, nur zwei Schritte von Basel entfernt, ist beliebt bei Spielern, die auf Pferde wetten. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Dem Abschnitt «St-Louis-Grenze» im St. Johann wird kaum Beachtung geschenkt. Zu Unrecht: Dort spielt sich die Welt im Kleinen ab.

Hey Mann, was tun wir an der Grenze?» Die Frage des Teenagers verhallt im Tram. Seine Kumpels haben sie wohl gehört, es scheint aber stumme Einigkeit zu herrschen: Eine solche Frage erfordert keine Antwort. Das Ziel ist nicht die Endstation. Da kann der Tramfahrer noch lange durch den Lautsprecher von «St-Louis-Grenze» erzählen. Die Teenager steigen vorher am Voltaplatz aus. Wie die meisten Fahrgäste des 11er-Trams. Ein paar wenige fahren eine Station weiter bis zur Hüningerstrasse. Dort leeren sich die Waggons endgültig. Zumindest jetzt, am Nachmittag, wo keine Grenzgänger auf dem Heimweg sind.

Der Chauffeur fährt allein zur Endstation. Und noch bevor er das Tram zum Stehen bringt, macht er den Bogen in Richtung Zentrum – bereit, wieder durch die Stadt nach Aesch zu fahren. Nicht einmal die Tramschnauze schaut in Richtung Grenze.
Zwischen dem St.-Johann-Quartier und dem elsässischen St-Louis liegt sie, diese «St-Louis-Grenze». Manche ­Autofahrer haben Pech und müssen am Zoll anhalten. Ausweiskontrolle, Blick in den Kofferraum, das Übliche. Wer nichts zu verbergen hat, darf weiterfahren. Und das tun sie auch, die Menschen hier. Sie passieren die Grenze.

Die wenigsten kommen wegen des Grenzgebiets selber. Die wenigsten – aber es gibt sie, die Menschen an der Endstation. Manche kommen und bleiben. Hans Rudolf Humbel (67) ist so einer. Er wohnt im letzten Haus vor der Grenze. Durch die Latten des Zauns auf seinem Sitzplatz sieht er das Gebäude der Grenzwache, vom Schlafzimmer aus das Restaurant Zollstübli.

Geld wechseln, auf Pferde wetten

«Es ist speziell hier», sagt Humbel. «Zwei Schritte – und ich bin im Ausland.» Von dort aus sind es nochmals zwei Schritte bis in sein Lieblingsrestaurant. Humbel zeichnet mit den Armen einen Berg in die Luft. «Für nur wenige Euros bekommt man da solche Portionen Sauerkraut mit Würsten.» In der Beiz neben seinem Lieblingslokal war er noch nie. «Den Kaffee trinke ich zu Hause.» Und ein Spieler, das sei er nicht. Dabei wäre das Paradies so nah.

Spieler nehmen auch einen langen Weg in Kauf, um in der Grenzbeiz zu wetten. Das grüne Schild des Pferdewetten-Anbieters PMU prangt am Eingang – wie im tiefsten Frankreich. Achtzig Prozent der Gäste seien Schweizer, sagt der Wirt. «Manche besitzen selber Pferde, sie verstehen was davon.» Ihm ist es recht: «Es läuft gut.»

Auch die Wechselstube auf der Schweizer Seite am Ende der Elsässerstrasse profitiert von den Spielern. Bevor sie die Grenze passieren, wechseln sie Franken in Euro. Der Kurs ist gut wie nie. Schweizer geben gern Geld im Elsass aus. Früher war es umgekehrt.

Fünf Lebensmittelgeschäfte befanden sich einst an der Grenze zu St-Louis. Heute gibt es nicht mal mehr eine Bäckerei. Vor gut einem Jahr schloss die Kühner-Gyger-Filiale. «Die Frequentierung war nicht mehr dieselbe», sagt die Verantwortliche. Jetzt befindet sich ein Kiosk in dem Lokal. Daneben eine UBS-Filiale, die Wechselstube, eine Tankstelle. Und drei Beizen.

Büroleute ersetzen Arbeiter

Die fünf Lebensmittelgeschäfte liefen damals wie verrückt. Nach dem Krieg fuhren Elsässer mit dem Velo hierhin, um Zucker und Kaffee zu kaufen. Die Schweiz war die grosse Konkurrenz. So gross, dass eine Tramlinie von St-Louis nach Basel 1957 eingestellt wurde. Elsässer sollen in Frankreich kaufen, hiess es dort. Das winzige Grenzgebiet hatte einen dörflichen Charakter. Und hat es noch immer. Wenn auch auf eine an­dere Art.

Manchmal steht Humbel vor seinem Haus und beobachtet das Geschehen. Wie die Grenzwächter Reisende kontrollieren – und zum Teil nicht weiterfahren lassen. Wie Fussgänger aus der Wechselstube kommen und im Beizchen über der Grenze verschwinden. Wie Mitarbeiter ansässiger Firmen in einem der drei Restaurants einkehren – viele davon mit Krawatte.

Anna Bechtel war vor 30 Jah­ren schon einmal Wirtin des «Zollstübli». Seit vergangenem Sommer ist sie es wieder. «Ein interessanter Ort», sagt sie. Aber ein anderer als früher. Anna Bechtel muss neuerdings Englisch sprechen. «Damals reichten Franzö­sischkenntnisse», sagt sie. Seinerzeit, als die Arbeiter der Sandoz zum Essen kamen und Tisch an Tisch mit den Firmenchefs sassen. Auch die heutigen Novartis-Angestellten speisen im «Zollstübli», Arbeiter befinden sich allerdings nur noch wenige darunter. Englisch sprechende «Büroleute» hätten sie ersetzt, sagt Anna Bechtel.

Einige davon wohnen im selben Haus wie Humbel – Novartis hat dort Ap­partements gemietet. Englisch spricht Anna Bechtel aber auch mit Gästen des Hotels auf der elsässischen Seite der Grenze, die nichts mit der Pharma zu schaffen haben. «Viele Touristen übernachten dort, bevor sie am nächsten Morgen weiterfliegen.» Es ist das Hotel, in dessen Restaurant Hans Rudolf Humbel gern isst. Oft mit seiner Freundin, die er vermutlich nie kennengelernt hätte, würde er anderswo leben.

Kleine Weltreise bis zur Grenze

Vom Elsass her kommend wollte die Freundin vor einigen Jahren ein Billett für das 11er-Tram lösen. Da sich ihr die Logik des Automaten nicht erschloss, kam ihr Hans Rudolf Humbel zu Hilfe. Die beiden fuhren zwei Stationen gemeinsam – und tauschten Telefonnummern aus. Inzwischen haben sie einen Sohn. Dieser lebt allerdings bei Humbels Freundin im Elsass, die Zwei-Zimmer-Wohnung an der Grenze wäre zu klein. Zumal Humbel dort auch sein Treuhandbüro untergebracht hat.

Die meisten seiner Kunden wohnen im Gundeldinger-Quartier, wo auch er bis zu seinem Umzug vor zwölf Jahren lebte. «Für sie ist es eine Weltreise, zu mir zu kommen», sagt Humbel. Wohl wissend, dass der Weg von ihm in die Stadt eigentlich ein kurzer ist: Das Tram braucht vom Marktplatz acht Minuten. Dennoch finden Fremde kaum den Weg zu diesem Fleck. Das merkt man dann, wenn die Serviertochter im Restaurant Landesgrenze feststellt: «Sie waren noch nie da.»

Sie kennt ihre Gäste, viele sind FCB-Fans. Es gibt sogar einen FCB-Stammtisch. Fotos der Mannschaft hängen an der Wand. Hier riecht es, wie es früher in Beizen roch. Nach Essen und Rauch. Die «Landesgrenze» ist «Fümoar»-Mitglied. Genau gegenüber befindet sich eine der kleinsten UBS-Filialen überhaupt. Im Gegensatz zu Lebensmittelläden lohnt es sich für die Bank, den Standort aufrechtzuerhalten. Es gibt viele Elsässer, die dort Geld wechseln oder ihr Lohnkonto bei der UBS haben. «Wir werden die Filiale behalten», sagt Samuel Holzach, Regional­direktor Basel.

Linie 11 wird nicht verlängert

Auch sonst wird hier in naher Zukunft vieles bleiben, wie es ist. Die gros­sen Veränderungen hat das Gebiet mit der Fertigstellung der Nordtan­gente, den Neubauten im Bereich Voltaplatz und dem Novartis-Campus hinter sich. Im Bereich öffentlicher Verkehr sehen die Verantwortlichen noch Potenzial.

«Verkehrstechnisch würde es Sinn machen, die Linie 11 bis zum Bahnhof in St-Louis zu verlängern», sagt Andreas Büttiker, Direktor der verantwortlichen Baselland Transport AG. Dann bräuchte es auch den Bus nicht mehr, der vom Elsass zur Schifflände fährt. Bisher sind das allerdings erst Träumereien: Im Konzept «Tramnetz 2020» ist keine 11er-Verlängerung vorgesehen. Die Linie 3 aber soll künftig über Burgfelden nach St-Louis fahren. Und «St-Louis-Grenze» bleibt, was es ist: eine kleine Welt. Und eine Endstation.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12

Nächster Artikel