«Er will eine Kirche, die niemanden ausschliesst»

Von der aktuellen Familiensynode im Vatikan kommen revolutionäre Botschaften – für katholische Verhältnisse. Wie kann diese Öffnung von einem Papst ausgehen, der selbst ein Reaktionär war? Ein Gespräch mit dem Biographen Paul Vallely.

Franziskus Anfang Oktober im Vatikan. Auf seiner Brust das eiserne Kreuz, das er schon als Bischof von Buenos Aires trug und dem goldenen Papstkreuz vorzieht. (Bild: Pool)

Von der aktuellen Familiensynode im Vatikan kommen revolutionäre Botschaften – für katholische Verhältnisse. Wie kann diese Öffnung von einem Papst ausgehen, der selbst ein Reaktionär war? Ein Gespräch mit dem Biographen Paul Vallely.

Vor einigen Tagen gab es eine kleine Revolution im Vatikan, wo zurzeit eine Synode über Ehe und Familie stattfindet. «Homosexuelle können die christliche Gemeinschaft bereichern», heisst es in einem Zwischenbericht. Auch wenn Homosexuellen die Ehe nach wie vor verwehrt ist, sprechen Beobachter von einem «Erdbeben» im Vatikan. Es ist nicht lange her, dass der Papst Emeritus, Joseph Ratzinger, mit dem Wort Anomalie um sich warf, wenn es um Homosexualität ging.

Papst Franziskus hat den Ruf eines Revolutionärs. Er verzichtet auf Pomp und ist an der Demokratisierung des Vatikans interessiert. Zu Beginn der laufenden Synode sagte er, er wolle vor allem zuhören und weniger reden. Doch wie viel Umwälzung ist überhaupt möglich in der katholischen Kirche? Und wie kommt es, dass sie ausgerechnet von Franziskus ausgehen soll, der in den 1970er-Jahren als Provinzial der argentinischen Jesuiten selber als Reaktionär bekannt war?

Wir haben diese Fragen dem Briten Paul Vallely bei einem Telefongespräch gestellt. Vor Kurzem erschien von ihm eine Biographie über den Papst auf Deutsch, die bereits von den englischsprachigen Medien hoch gelobt wurde.

Herr Vallely, die Gesten der Bescheidenheit waren das Auffälligste, als Jorge Mario Bergoglio im März 2013 sein Amt als Papst Franziskus antrat. Verschiedene Stimmen legten ihm das als Effekthascherei aus.

Was die Kritiker und auch einige seiner Fans nicht verstehen, ist, dass die Bescheidenheit nichts mit seinem Charakter zu tun hat. Er ist nicht etwa scheu und auch nicht jemand, der in der Ecke sitzt und sich sagt, ich bin ein Niemand. Er war immer ein robuster Anführer. Bergoglio hat einen stählernen Kern. Was er aus seinen Fehlern lernte, und er spricht häufig von seinen Fehlern, war, dass er seine Führung auf Zuhören und Demut aufbauen muss. In seiner Ansprache, mit der er am 5. Oktober die Familiensynode eröffnete, sagte er, er würde während der Diskussionen zuhören, nicht sprechen. Der neue Stil, den er ins Papstamt einbringt, schliesst jeden ein und lässt ihm seine Meinung, ob er mit ihr übereinstimmt, oder nicht. Seiner Auffassung nach ist ein christlicher Führer kein König, sondern ein Schäfer, der für seine Herde sorgt, bottom up. Seine Bescheidenheit ist kalkuliert, aber echt. Sie ist ein Werkzeug.

Ein Satz, der dem Papst wichtig ist, lautet: «Wahre Macht ist Dienst.» Worin besteht heutzutage die Macht des Papstes?

Jesus wäscht seinen Jüngern die Füsse und sagt: «Wer der Führer ist, muss der Niedrigste sein.» Die Kirche weiss das. Doch durch die Jahrhunderte war der Papst wie ein König, der allen sagt, was sie tun sollen. Franziskus hat eingesehen, dass er diesen Fehler als Provinzal der Jesuiten gemacht hat – und sich davon abgewandt. Die Macht des Papstes besteht darin, den Menschen vorzuleben, was ein Christ ist. Deswegen lebt er im Vatikan in einer Herberge, fährt ein kleines Auto, er trägt sein eigenes Portemonnaie und zahlt im Hotel seine Rechnung. Telefonate erledigt er selber. Es ist sprichwörtlich geworden: «Hallo, hier ist Bergoglio.» Was er sagen will: Um ein Führer zu sein, muss man ein normaler Mensch sein.

Wird er mit dieser Art der Führung die katholische Kirche reformieren können?

Das ist zumindest, was er versucht. Als die Vatikan-Bank von Kardinälen und Bischöfen geführt wurde, wurde daraus eine skandalgeschüttelte Organisation. Deswegen bringt er Banker von ausserhalb in den Betrieb, die etwas von modernem Managment verstehen. Er wäscht die Füsse von Frauen und Muslimen, was gegen die Regeln der Kirche verstösst. Das erste Mal, als er Rom verliess, ging er zu den Flüchtlingen nach Lampedusa. All diese Gesten stellen die Vatikanische Welt auf den Kopf. Eine Welt, die zuvor nach den gleichen Machtkonzepten funktionierte, wie die säkulare Welt. Einige finden das erfrischend, Andere alarmierend.

Paul Vallely
schreibt Bücher und journalistische Beiträge über Religion, Ethik und Entwicklungsregionen, unter anderem für den «Independent» und den «Guardian». Er war Berater in der Afrika-Kommission der brittischen Regierung und hat Lehrtätigkeiten in Chester und Manchester.

Ihr Buch trägt auf deutsch den Titel «Vom Reaktionär zum Revolutionär». Darin liest man, dass Bergoglio auch in seinen antipolitischen und konservativen Jahren grosses Augenmerk auf die Unterstützung der Armen legte. Ist das nicht ein Widerspruch?

Bergoglio war immer der Meinung, dass die Kirche den Armen beistehen muss. Aber in seinen jungen Jahren hatte er ihnen gegenüber eine patriarchalische Haltung. Die Kirche sollte Dinge für die Armen tun, top down, und die Armen sollten die dankbaren Empfänger der Wohltaten sein. Er wollte, dass die Kirche Suppenküchen anbietet und die Messe für die Armen liest. Aber er wollte keine kirchliche Organisation, die den Armen hilft, auf eigenen Füssen zu stehen. Auch keine Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Er hielt das für politische Aktivität, welche die Jesuiten spalten würde. Es war eine gefährliche Zeit, da die argentinische Regierung in dieser Zeit misstrauisch war gegenüber jeder politischen Aktivität. Bergoglio fürchtete, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf die Kirche lenken würde.

Es ging also um die Gefahr, die von der Obrigkeit ausging.

Ja, aber es war auch seine Überzeugung zu dieser Zeit. Weil die Jesuiten in Buenos Aires in diesem Thema gespalten waren, sandte Rom ihn nach Córdoba. Dort machte er, als er etwa 50 Jahre alt war, eine Wandlung durch. In einem Interview, das nach meinem Buch erschienen ist, sprach er von einer inneren spirituellen Krise in dieser Zeit. Während der Arbeit an dem Buch hatte ich keinen Beleg dafür, ging jedoch ebenfalls von solch einer Krise als Grund für seine Wandlung aus. Er verbringt jeden Morgen zwei Stunden mit Beten. Bei den Jesuiten spielt die spirituelle Übung ein grosse Rolle, mit dem Ziel, die Motive zu erkennen, nach denen man in Wahrheit handelt, und diese gegebenenfalls abzulegen. In diesen zwei Jahren reflektierte Bergoglio seinen Führungsstil und die Frage, was die Jesuiten so tief entzweit hatte. Er begann zu merken, dass Gott in ihm eine andere Führungsperson wollte. Die Bescheidenheit, die wir von ihm seit seiner Wahl zum Papst gesehen haben, ist ein Ergebnis dieser Reflexionen. Als er zurück nach Buenos Aires kam, war er ein anderer.

Der Papst ist kein Unterstützer der gleichgeschlechtlichen Ehe, hat aber der Synode, die am 5. Oktober begann, vorangesetzt, dass er eine Kirche der Barmherzigkeit wolle und nicht der Verbote. Wie geht das zusammen?

Franziskus will nicht die kirchliche Lehre über die Ehe verändern. Die Ehe ist in seinen Augen Mann und Frau vorbehalten. Aber sehr wohl, dass Homosexuelle von Kirche und Gesellschaft mit Respekt behandelt werden. Er hat sich schon in Argentinien für ihre Rechte eingesetzt. Sie sollen Teil der Kirche sein und keine Bürger zweiter Klasse.

«Franziskus geht das Problem des Kindesmissbrauchs zu langsam an.»

Der Papst hat ein ständiges Gremium einberufen, dass ihn bei seinen Entscheidungen berät. Zum Teil wird über diesen Schritt als einschneidenste Neuerung in der Geschichte des Vatikans gesprochen, da es die hierarchische Struktur aufbricht. Ist die aktuelle Synode – obwohl an ihr noch keine verbindlichen Entscheidungen getroffen werden – bereits demokratischer geregelt?

Definitiv. Der Papst hat einen Prozess angestossen. Er hat zunächst Laien rund um die Welt gefragt, was sie von der katholischen Familienlehre halten. Dann liess er Kardinal Walter Kasper eine Rede halten, der eine liberale Position in Bezug auf die Kommunion für Wiederverheiratete vertritt. Als Konservative widersprachen, sagte der Papst: «Es ist gut, wir brauchen Auseinandersetzungen!» Was hier passiert, ist eine Beteiligung aller, die der katholischen Kirche angehören. Das ist das Gegenteil der bisherigen Zustände.

Vor einigen Wochen wurde Jozef Wesolowski, Kardinal von Santo Domingo, verhaftet und der Pädophilie beschuldigt. Die Angelegenheit warf die Fragen auf, warum Wesolowski erst verhaftet wurde, nachdem der Verdacht gegen ihn bereits lange bestand – und warum er vom Vatikan verhaftet wurde und nicht durch die Behörden in Santo Domingo. Was halten Sie von diesem unklaren Vorgehen im Kampf gegen den Missbrauch?

Ich weiss nicht, ob sich die Kirche bewusst ist, welchen Schlag das Thema ihrer moralischen Glaubwürdigkeit versetzt hat. Was wir sehen, ist ein sehr langsamer Fortschritt, aber es ist ein Fortschritt. Benedikt der XVI. war gegen Kindesmissbrauch in der Kirche, aber er handelte hinter verschlossenen Türen. Er wollte, dass die Kirche den Missstand auf die geheime, vertrauliche Weise regelt, wie sie solche Fälle immer behandelt hat. Als Bergoglio gewählt wurde, war nicht dieses Thema seine Priorität, sondern die Restrukturierung der vatikanischen Institutionen. Ich glaube, er hat über das Missbrauchsthema vergleichsweise wenig nachgedacht. Das Thema drängt, doch er bewegt sich langsam und hat Fehler gemacht. Er sagte Sätze, die nach früheren Zeiten klangen und wenig hilfreich waren. Und er hätte von Beginn an öffentlich machen sollen, was die Kirche gegen den Missbrauch tut. Aber er hat eine Kommission gegen Missbrauch eingesetzt, der unter anderen vier Frauen angehören, eine davon ein ehemaliges Opfer. Er macht Schritte in die richtige Richtung.

Hat er die Dringlichkeit des Themas verstanden?

Ich weiss es nicht. In Lateinamerika, wo er bis vor kurzem Bischof war, ist das Problem weder so schwerwiegend wie in Europa und Amerika, noch erregt es soviel Aufmerksamkeit. Wenn man einen Papst aus Lateinamerika hat, dann kommt er mit einer anderen Weltsicht und anderen Prioritäten.

Die Hälfte aller Katholiken lebt in Lateinamerika. Ist Italien der richtige Ort für das Zentrum der katholischen Kirche?

(lacht) Gute Frage! Historisch gesehen ist Italien der Ort, wo die Dinge stattfanden. Würde man heute beginnen, würde man das Zentrum sicher nicht nach Italien legen. Auf jeden Fall haben wir nun einen Papst, der aus der richtigen Gegend kommt. Ich glaube sogar, er ist radikal genug, um über eine Umsiedlung des Hauptquartiers nachzudenken, aber das steht sicher nicht oben auf seiner Agenda. An der aktuellen Synode sagte er, zum ersten Mal seit 2000 Jahren, dass die Unterhaltungen nicht auf latein, sondern auf italienisch geführt werden sollen. Vielleicht zügelt er den Vatikan noch nach Buenos Aires (lacht).

«Seine Botschaft lautet, dass selbst das Oberhaupt der Kirche eine Vergangenheit haben kann, die voller Fehler ist.»

Franziskus richtet seine Botschaften ausdrücklich auch an Andersgläubige und Atheisten. Was kann er Ihnen geben?

Menschen, die der katholischen Kirche feindlich gegenüberstehen, werden Franziskus wahrscheinlich nicht wahrnehmen. Leute mit Offenheit werden merken, dass Franziskus eine Kirche will, die die ganze Welt anspricht, und niemanden ausschliesst. Wo er auftaucht, wird ihm auch von Nichtkatholiken viel Wärme entgegengebracht.

In westlichen Lebensphilosophien geht es heute eher darum, dass der Mensch mit sich Frieden schliesst und sich okay findet, so wie er ist. Ist das christliche Konzept von Schuld und Vergebung noch von Bedeutung?

Der Papst sagt: Du kannst okay sein, wie du bist. Du kannst ein guter Atheist sein, dass ist besser, als wenn du ein schlechter bist. Gut sein ist wichtiger, als an Gott zu glauben und in die Kirche zu gehen. Das ist recht revolutionär für einen Papst. Zugleich will er nicht einfach sagen, dass alles okay ist, wie es ist. Er will, dass die Welt sich ändert. Er kritisiert etwa die Finanzmärkte, die Bereicherung der Eliten und den Materialismus überhaupt. Und das ist kulturübergreifend.

Und in Bezug auf den Einzelnen?

Wenn jemand ihn fragen würde: Ich bin unglücklich, was soll ich tun? Dann würde er antworten: Vergiss dich selbst, geh und hilf anderen. Wenn du das tust, wirst du merken, dass du glücklich bist. New Age-Spiritualität fokussiert auf das Ich. Er fokussiert auf das Wir.

Sind Sie ein Fan des Papstes?

Ja. Natürlich hat er gute und schlechte Seiten. Er ist gut für die Welt und gut für die Kirche. Mir gefällt sehr gut, dass Bergoglio die Art, wie er früher lebte, als Irrtum erkannt und seinen Weg geändert hat. Seine Geschichte lautet, dass wir uns alle ändern können. Und dass auch das Oberhaupt der Kirche eine Vergangenheit haben kann, die voller Fehler ist. Du und ich, wir sollten unsere Fehler vergessen und versuchen, bessere Menschen zu werden. Auf der anderen Seite habe ich sein zu langsames Vorgehen in der Missbrauchsthematik angesprochen. Er weiss auch noch nicht, wie er Frauen in die Kirche eingliedern will. Obwohl sich die Dinge dort scheinbar ändern sollen. Es gibt Gebiete, die bei ihm nicht genügend hohe Priorität haben. Zugleich ist es das, was wir wollen: ein Papst aus Lateinamerika, mit anderen Prioritäten.

Ist er noch der Alte, der er vor seiner Wahl war?

Sogar mehr als früher. Er hat zu sich gefunden.

Wie das?

Es ist nun er, der die Agenda setzt. Er ist im richtigen Job.


Paul Vallely: «Papst Franziskus: Vom Reaktionär zum Revolutionär». Theiss Verlag. 240 Seiten.

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