«Behindert? Behindert ist die Gesellschaft», schrieb Autor Ivan Ergić und setzte sich mit dem Behindertensport und den Paralympics auseinander. Sein Essay ruft Widerspruch hervor. Menschen mit Beeinträchtigung sollen selber bestimmen, wo, wann und wie sie an einer gesellschaftlich-kulturellen Lebenssituation teilhaben wollen, heisst es in einer Replik.
Dem Artikel von Ivan Ergić – «Behindert? Behindert ist die Gesellschaft» – aus der vergangenen Woche soll hier in mehrfacher Weise widersprochen, falsche Argumente sollen widerlegt und irreführende Argumentationen richtig gestellt werden.
Die Argumente des Artikels lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Da sind einmal die Allgemeinplätze zu Gesellschafts- und Wirtschaftskritik. Hier lassen sich durchaus ein paar Aussagen nachvollziehen (die Gesellschaft, die auf Erfolg und Gewinn aus ist, der Druck der Gesellschaft und Wirtschaft auf den (Spitzen-)Sport, die Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigung sowie die starken Tendenzen der Intoleranz). Dann ist aber schon ganz schnell Schluss mit der Stichhaltigkeit. Grob gesagt verwundert es, dass ein ganzer Artikel über das Verhältnis von Sport, Gesellschaft berichtet und immer krampfhaft die Verbindung mit «Behinderung» hergestellt wird, wo doch all die kritischen Ideen schon auf das Verhältnis von Sport und Gesellschaft per se zutreffen.
Wieso aber dann gerade Menschen mit Beeinträchtigung (so werden diese Menschen in der UN-Behindertenrechtskonvention bezeichnet – wenn schon Menschen aufgrund eines «Mankos» klassifiziert werden sollen) sich gegen diese Systemlogik wehren sollen (sie unterwerfen sich angeblich dem Sozialdarwinismus), bleibt unbeantwortet – wohl auch, weil es darauf keine befriedigende Antwort geben kann. Dazu müssen die Betroffenen selber Stellung beziehen können.
Dass es «keinen Unterschied gibt zwischen denen, die körperlich oder geistig behindert sind», ist falsch.
Weiter ist stossend, dass von «körperlich und geistig Handicapierten» die Rede ist und weiter unten behauptet wird, dass es «keinen Unterschied zwischen denen, die körperlich oder geistig behindert sind» gäbe. Diese Aussage ist falsch und zeugt von hoher Unkenntnis der Lebenswelt der betroffenen Menschen.
Eine kurze Rückfrage bei ein paar Freunden mit körperlicher Beeinträchtigung ergab beispielsweise, dass für viele die Idee der Teilnahme an einem Ereignis wie die Paralympics schon deshalb eine immens hohe Hürde bedeutet, weil allein schon das Verlassen der eigenen Wohnung mit einem derart hohen Aufwand verbunden ist, den wir – die «nicht-offiziell Behinderten» – uns gar nicht vorstellen können. Und darum bedeutet die Teilnahme an diesem Sportereignis für diese Menschen ungleich mehr. Bei Menschen mit Lerneinschränkungen (Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter möchten gerne als «Menschen mit anderer Begabung» bezeichnet werden; «geistig Handicapiert» ist definitiv ein veraltete Bezeichnung), die übrigens meist an der Special Olympic teilnehmen, steht viel weniger die Leistung, als vielmehr das Dabei-Sein im Vordergrund. Hier von der Gebundenheit des Parameters Erfolg an die Leistung zu reden, zeugt ein weiteres Mal von Unkenntnis.
Als Vergleich die in der Tat pervers anmutende werbetechnische «Verwertung» der amerikanischen Soldatin anzuführen und damit Krieg und Sport als mögliche Vermeidung von Diskriminierung zu untermauern versuchen, verkürzt erstens die gesellschaftlichen Aussonderungsprozesse in nicht zulässiger Weise und zweitens werden damit Birnen und Äpfel verglichen.
Leere Behauptung
Die Behauptung, dass die «Trauer über den Anblick eines Ali oder Hawkings unsere Einstellung gegenüber Behinderung verhindert», bleibt eine leere Behauptung. Wie auch an anderer Stelle werden hier komplexe soziologische oder psychologische Prozesse auf das Niveau einer Hobbywissenschaft reduziert. Ganz deutlich wird das an der Aussage, Michel Foucault respektive die Anti-Psychiatrie-Bewegung hätten die Situation von Behinderten romantisiert. Foucault als Romantiker darzustellen, ähnelt in etwa der Behauptung, Marx habe nur Kinderbücher geschrieben. Hier wäre also die Lektüre und Verstehensversuche von Foucault hilfreich. Und beim Hinweis auf die Anti-Psychiatrie-Bewegung ist zu fragen, welche denn damit gemeint ist? Die italienische, die französische, die amerikanische oder welche andere der vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Bewegungen?
Und last but not least stösst der paternalistische Unterton des Artikels auf, der sich darin zeigt, dass der Autor offenbar besser weiss, was für die Menschen mit Beeinträchtigung gut ist, dass er offenbar genau Bescheid weiss, wie «wir» mit diesen Menschen umgehen sollen, wovor wir sie beschützen und was wir ihnen zumuten dürfen. Abgesehen davon, dass die meisten Selbsthilfeverbände sich seit Jahren gegen solch selbst ernanntes Expertenwissen wehren, ist diese Haltung schlicht unanständig. Einer der oben genannten Kollegen taxierte den Artikel denn auch mit den Worten: «Verstehe die Argumentation und die Haltung von ihm nicht.»
Was möchte ich denn nun damit sagen, worauf zielt meine Kritik ab? Dazu ein paar Thesen:
• Menschen mit Beeinträchtigung sollen als Expertinnen und Experten in eigener Sache ernst genommen werden. Das bedeutet unter anderem, dass sie bei Berichten zu den Themen wie im kritisierten Artikel vom Autor gefragt, gehört und miteinbezogen werden sollen.
• Menschen mit Beeinträchtigung sollen das volle Recht haben, selber zu entscheiden und zu bestimmen, wo, wann und wie sie an einer gesellschaftlich-kulturellen Lebenssituation teilhaben wollen. Uns (zumindest den Erwachsenen unter uns) schreibt in diesem Bereich ja auch niemand vor, was wir zu tun und lassen haben. Darum sollen unsere Aussagen entsprechend angepasst und anständig formuliert werden.
• Die WHO hat vor ein paar Jahren das Modell der Funktionalen Gesundheit entwickelt und veröffentlicht. Darin wird als Zieldimension formuliert, dass ein Mensch so kompetent wie möglich und mit einem möglichst gesunden Körper an möglichst normalisierten Lebenssituationen teilhaben und teilnehmen können soll. Zwei Begriffe sollen kurz erläutert werden.
Das Wort «möglichst» macht deutlich, dass es keinen absoluten Wert gibt, dass dieses «möglichst» immer individuell diskutiert und der aktuellen Lebenssituation und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten angepasst werden muss. Und es wird damit gesagt, dass es keine Recht auf ein «absolut» geben kann – für niemanden von uns.
Die Funktionale Gesundheit führt dazu, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht einfach aufgrund eines «Gebrechens», als behindert bezeichnet und so behandelt werden.
Der Begriff «normalisiert» meint, dass jeder Mensch ein Recht hat, an gesellschaftlich-kulturellen Lebenssituationen, an denen in etwa Gleichaltrige aus dem ähnlichen geographischen Kulturraum teilhaben, mitzumachen. (Im Bereich von Menschen mit Lern- und anderen Einschränkungen der psychischen Leistungsfähigkeit wird der Begriff noch mit der möglichen Differenz von Lebens- und Entwicklungsalter ergänzt – dies zu erläutern, führt hier aber zu weit.)
Das systemische Modell der WHO und das dahinter stehende Denkmodell führen dazu, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht einfach aufgrund eines «Gebrechens», einer wie auch immer gearteten Schädigung als behindert bezeichnet (und so behandelt) werden. Die Umwelt der Betroffenen – das sind Infrastruktur, architektonische Gegebenheiten, kulturell-religiöse Einstellungen, Werte, Überzeugungen, Unterstützung und Beziehungen (das sind unter anderem Sie und ich) – wird in die Verantwortung genommen und wirkt sich im günstigen Fall als Förderfaktor, im ungünstigen Fall als Barriere auf die Lebenswelt des betroffenen Menschen aus.
Beschützende und vorschreibende Haltung ist fehl am Platz
Wenn wir dieses Modell ernst nehmen – und die offizielle Schweiz will dies auch tun, wenn sie beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention ratifizieren wird –, dann so beschützende und vorschreibende Haltungen, wie diese im Artikel von Herrn Ergić zum Ausdruck gelangen, fehl am Platz. Vielmehr wird es darum gehen, Menschen mit Beeinträchtigung selber bestimmen zu lassen, ob und wie sie an sportlichen Ereignissen – in diesem Fall Paraolympics oder die Special Olympics – teilnehmen wollen.
Unsere Einmischung und unsere, falsch verstandene, Fürsorge hat hier nichts zu suchen.
Unsere Einmischung und unsere, falsch verstandene, Fürsorge hat hier nichts zu suchen. Für viele wird das ein radikales Umdenken erfordern, wenn Menschen mit Beeinträchtigung nicht mehr bevormundet, infantilisiert oder überbeschützt werden. All meine Erfahrungen zeigen, dass dieser Weg zu einer inklusiven Gesellschaft der einzige mögliche ist und dass er sich darüber hinaus lohnt.
Fazit: Der Artikel verallgemeinert Teilprobleme
Der Artikel fokussiert nur eine Sicht von Menschen mit Beeinträchtigung: Behindertensport. Dabei werden wiederum nur sportliche Leistungen erwähnt. Es gilt zu beachten, dass nur ein Bruchteil aller Menschen mit Beeinträchtigung an den Paraolympics teilnimmt. Menschen mit Beeinträchtigung erbringen jedoch noch viele andere Leistungen, die gar nicht beschrieben werden. Zudem: Die Paraolympics sollen und können nicht als Plattform für die ehrliche Betrachtung von Behinderten (wie auch immer die auszusehen hat) dienen; es ist ein sportlicher Wettkampf.
Dass die Befürworter der Paraolympics damit die Menschen mit Beeinträchtigung sichtbar machen wollen, stimmt nicht; die Teilnahme an den Spielen führt erfahrungsgemäss zu mehr Integration. Eben gerade weil Menschen mit Beeinträchtigung, die Sport treiben, Teil einer Gesellschaft werden und sind, in der Sport einen hohen kulturellen Wert besitzt. Weil sie sich als Teil der Gesellschaft fühlen und erleben können. Für viele Behindertensportler ist Sport eine Möglichkeit, sich zu bestätigen – trotz Einschränkungen. Diesen Menschen dieses Recht abzusprechen, ist unanständig.
In der Realität des Behindertensports sind die Menschen mit Beeinträchtigung noch viel individueller in ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen.
Grundsätzlich gilt, dass es unzulässig ist, alle Menschen mit Beeinträchtigung über einen Kamm zu schlagen. In der Realität des Behindertensports sind die Menschen mit Beeinträchtigung noch viel individueller in ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Darum ist es wenig hilfreich, Behindertensport zur Perversion zu erklären.
Behindertensportlerinnen und Behindertensportler haben – wie wir auch – das Recht, selber zu entscheiden, ob und wo und wie viel sie an Sportveranstaltungen teilnehmen wollen. Der Artikel verallgemeinert also Teilprobleme (Umgang der Gesellschaft mit Menschen mit Beeinträchtigung) zu gesamtgesellschaftlichen Problemen (Spitzensport, kommerzielle und andere Exzesse rund um den Sport).