Ernstfall in Dat Mui – geht das Mekong-Delta unter?

Laut Modellrechnungen wird das Mekong-Delta Südvietnams in 50 Jahren 70 Zentimeter unter Wasser stehen. Die Folgen wären verheerend, denn das Delta ist die Reisschüssel Vietnams und seine wirtschaftliche Lebensader.

Nguyen Chi Bao (gelbes Hemd) lebt in einem Haus das vom Schweizerischen Roten Kreuz gebaut wurde. (Bild: Roland Schmid for Swiss Red Cros)

Bis in 50 Jahren könnten weite Teile des Mekong-Deltas unter Wasser stehen. Wenn es so weit kommt, müssten sechs Millionen Menschen umgesiedelt werden. Dabei ist das Delta die Reisschüssel Vietnams und seine wirtschaftliche Lebensader.

Es ist keine gute Nachricht, die an diesem Vormittag den Direktor der Primarschule Nummer eins in Dat Mui im Mekong-Delta erreicht. «Ein Damm ist gebrochen! Eine Flutwelle bedroht das Schulhaus!»

Der Anruf des örtlichen Volkskomitees versetzt die 600 Kinder und das Lehrpersonal am südlichsten Zipfel Vietnams in Aufregung. Es geht um Menschenleben. Der Schulleiter, ausgerüstet mit einem Megafon samt eingebauter Sirene, führt lautstark Regie. Ziel: Möglichst schnell ins oberste Stockwerk! Kinder rennen die Treppen hoch, Lehrer tragen Schulbücher und Trinkwasser nach oben, einer bringt Papa Ho in Sicherheit, die Gipsbüste des Staatsgründers Ho Chi Min.

Ein fragiles Biosystem

Zwar ist der Dammbruch heute nur eine Simulation, die Evakuierung also eine Übung und ein Pilotprojekt des Roten Kreuzes – doch die Lage ist ernst, wie unsere Geschichte zeigen wird.

Das Mekong-Delta ist ein fragiles Biosystem: Weit verzweigte Flussarme, Tausende von Kanälen, bis zum Horizont Aquakulturen, Erdteiche, abgetrennt nur durch dünne Dämme, auf denen schmale Strassen und Pfade verlaufen. Die Gezeiten regulieren die Bewässerung. Bei Flut strömt Wasser in die Teiche, bei Ebbe fliesst es ab. Aus der Vogelschau erhält man den Eindruck, die ganze südvietnamesische Landschaft bestehe nur aus Wasser.

Auch am Boden ist man regelrecht umzingelt vom Nass. Rechts, links, unten und, wenn es regnet, auch von oben. Das braun-gelbliche Wasser des Mekong und seiner Verästelungen ist omnipräsent. Am Ufer einer dieser Verästelungen steht der Fischer und Tagelöhner Nguyen Van Cuong im Schlamm und zeigt aufs Wasser.

Die Armen leben nah am Wasser

Wo heute Motorboote unterwegs sind, stand einst sein Haus, in dem er zwölf Jahre lang mit seiner Familie lebte. Er hatte es mit Holz, das er in der Umgebung gesammelt hatte, und Palmblättern selber gebaut. «Die Flut stieg immer höher, schliesslich drang das Wasser ins Haus. Und die Erosion frass das Land allmählich auf. Es wurde unmöglich, hier zu bleiben», erzählt Nguyen Van Cuong. So wurden er und seine Familie zu Umweltflüchtlingen. Hart sei es gewesen, dieses Stück Heimat aufzugeben. Beim Abschied sammelte er noch ein paar Holzpflöcke des versinkenden Hauses ein, die nun am neuen Wohnort sein kleines Schweinegehege einzäunen.

Nguyen Van Cuong gehört zu jenen fast 50 Prozent der Menschen im Mekong-Delta, die unter oder nahe der Armutsgrenze leben. «Die Ärmsten sind die Verletzlichsten, wenn die Natur verrückt spielt», sagt der Umweltexperte Ton That Khanh, der uns hier begleitet. Arme Leute besitzen keine stabilen Häuser, die meisten Behausungen bestehen aus Palmblättern; deshalb sind sie besonders verwundbar bei Taifunen. Ein Grossteil der Menschen im Mekong-Delta lebt von der Fischerei und ist deshalb darauf angewiesen, nahe am Wasser zu wohnen. Auch das macht sie anfällig gegenüber Naturkatastrophen.

Sturmsichere Häuser vom Roten Kreuz

Wie zerstörerisch diese sein können, zeigten die Taifune von 2000 bis 2002. In der Mekong-Provinz An Giang wurden damals 600’000 Häuser zerstört sowie die gesamten Reisernten, und es gab zahlreiche Tote, die meisten unter ihnen Kinder.

In der südlichsten Provinz Vietnams, in Ca Mau, gibt es während der Regenzeit von Oktober bis Januar viele tropische Stürme und sehr viel Niederschlag. Die Fischer können dann oft nicht aufs Meer und verdienen nichts. Ton That Khanh erzählt: «Viele Familien leiden deshalb an Hunger, vermutlich haben bis zu einem Fünftel der Leute während Wochen nicht genug zu essen. Manche verschulden sich und leihen sich Geld aus, um Lücken zu schliessen.»

Neben dem einstigen Zuhause von Nguyen Van Cuong sind im Mekong-Delta weitere Zehntausende von Häusern durch Erosion und Überflutung im Wasser versunken. In den letzten zwei Jahrzehnten siedelte der Staat mit internationaler Hilfe über eine Million Menschen um. Auch die Schweiz half mit. So haben unter anderen das Schweizerische Rote Kreuz SRK, die Glückskette und der Kanton Genf im Mekong-Delta etwa 1300 einfache, flut- und sturmresistente Häuser finanziert.

Das Luxusauto auf dem Kalenderbild

Eines davon ist das neuen Zuhause des Tagelöhners Nguyen Van Cuong, dessen erstes Heim im Fluss verschwand. Er wohnt jetzt im Dorf Tam Giang Dong, wenige Bootsminuten vom alten Ort entfernt. Der Staat schenkte jeder betroffenen Familie 270 Quadratmeter Land.

Der sturmsichere Rotkreuz-Neubau misst nur etwa 25 Quadratmeter. Deswegen werden die Leute angehalten, eigene und einfache Anbauten zu fabrizieren, die allerdings nicht sturmsicher sind. Der Neubau bei der Familie Nguyen dient zum Schlafen, auch der Ahnenaltar steht dort. Dieser Schrein mit Blumen, Räucherstäbchen und dem Bild der Verstorbenen fehlt in keinem vietnamesischen Haus. Im selbst fabrizierten Holzanbau liegen Fischernetze, zwischen Pfählen baumeln Hängematten, an einer Wand hängen Bilder von Familienangehörigen und der unvermeidliche Papa Ho. Neben ihm das Hochzeitsfoto der Hauseigentümer.

Der rote Luxussportwagen hängt hier nur als Kalenderbild. Im Dorf sind die Wege manchmal so eng, dass knapp ein Motorrad Platz findet. Draussen im Garten liegt ein kleiner Teich mit einer Fischzucht, weiter hinten grunzt das Hausschwein zwischen den Pfählen des versunkenen Hauses.

Um Platz für die Crevettenzucht zu schaffen, wurden Mangrovenwälder abgeholzt, die Schutz vor den Wellen boten.

Szenenwechsel. Der Bauer und Crevettenzüchter Tong Viet Tien öffnet eine kleine Schleuse und lässt frisches Mekong-Wasser in einen seiner Teiche fliessen, die am Ufer des Südchinesischen Meer liegen. Kürzlich geschah hier Schlimmes. «Meine gesamte Zucht verendete», erzählt der Landwirt, «30’000 Crevetten starben. Die Flut steigt hier immer höher und bringt zu viel Wasser. Am Ende setzt sich auf dem Teichboden zu viel Salz ab. Ein zu hoher Salzgehalt tötet Crevetten und Fische.»

Tong Viet Tien ist einer jener Bauern, die zu den jährlich zweieinhalb Millionen Tonnen Crevetten beitragen, die im Land gezüchtet werden. Vietnam gehört neben China und Thailand zu den weltweit grössten Exporteuren dieser Krustentiere. Um Platz für die Zuchtteiche zu schaffen, wurden riesige Mangrovenwälder abgeholzt – mit verheerenden Folgen. Die Wälder haben eine wichtige Schutzfunktion und brechen die Zerstörungskraft grosser Wellen. Mangroven schützen vor Fluten, die Erosionen verursachen. Mangroven halten Sedimente auf und sorgen dafür, dass das Land meerwärts wächst.

Salzwasser auf der Hälfte der Schweiz

Der Umwelt- und Agrarwissenschaftler Professor Duong Van Ni von der Universität in Can Tho kennt die Problematik: «An der Südspitze Vietnams, in der Provinz Ca Mau, wuchs früher das Land jedes Jahr um 15 bis 20 Meter in Richtung Meer, jetzt aber geschieht das Umgekehrte – das Festland wird wegen fehlender Mangroven durch Erosionen zerstört.»

Der Staat investiert derzeit viel Geld in die Wiederaufforstung von Mangrovenwäldern. «Ein sehr schwieriges Unterfangen», sagt Professor Ni, «denn in den betroffenen Regionen wächst die Bevölkerung. Man müsste die Leute umsiedeln, um Land für die Mangroven zu gewinnen; das ist jedoch unmöglich.»

Duong Van Ni schaut besorgt in die Zukunft: «In etwa 50 Jahren könnte laut Umweltministerium und verschiedenen Forschungsinstituten die Hälfte des Mekong-Deltas wegen der Erderwärmung 70 Zentimeter unter Wasser stehen.» Sollte dies eintreffen, wären rund 20’000 Quadratkilometer des Deltas mit Salzwasser bedeckt, dies entspricht fast der halben Fläche der Schweiz.

Vier von fünf Reiskörnern stammen aus den Deltas

Das Mekong-Delta ist die Reisschüssel Vietnams. In 50 Jahren wird das Land über 100 Millionen Einwohner haben, heute sind es 90. Das Mündungsgebiet ist für die Nahrungsmittelsicherheit des Landes zentral. Jährlich werden hier um die 42 Millionen Tonnen Reis produziert. Aber auch weitere 40 Länder rund um den Globus essen Reis aus dem Mekong-Delta.

«Und vergessen Sie nicht: Der Anstieg des Wasserspiegels geschieht nicht nur hier», sagt der Umwelt- und Agrarwissenschaftler Duong Van Ni, «auch im Irrawaddy-Fluss-Delta von Myanmar, im Chao-Phraya-Delta in Thailand, im Ganges-Delta Indiens und Bangladeschs und im Mississippi-Delta steigt das Wasser. Diese fünf Deltas liefern schätzungsweise 80 Prozent der weltweiten Reisproduktion. Der Anstieg des Meeresspiegels wegen der Klimaveränderung beeinflusst also direkt die globale Nahrungsmittelsicherheit.»

Zwei Drittel der Wälder abgeholzt

Neben der Klimaerwärmung sieht Professor Duong Van Ni die Waldvernichtung im Einzugsgebiet des Mekong als Hauptgrund für die zunehmenden Naturkatastrophen im Delta. In den vergangenen 20 Jahren seien für die Landwirtschaft, für Gummiplantagen und zum Bau von Industrie- und Infrastrukturanlagen fast zwei Drittel der Wälder im oberen Teil des Mekong abgeholzt worden. «Wasser, das zuvor von den Wäldern aufgehalten wurde, kann nun ungehindert von allen Seiten in den Mekong fliessen und lässt den Wasserspiegel steigen», sagt Duong Van Ni.

Grund Nummer zwei sei die Sedimentation. Schwere Regenfälle schwemmen in den ehemaligen Waldgebieten übrig gebliebene Erde weg, dies erzeugt grosse Mengen an Sedimenten, die schlussendlich das Flussbett erhöhen. Auch das lässt das Wasser über die Ufer treten. Dritter Grund seien bauliche Eingriffe. «Im Delta wurden viele Strassen gebaut, was den Platz fürs Wasser verringerte. Dazu kommen die unzähligen Teiche und die Erdwälle rundherum, was den natürlichen Fliessraum fürs Wasser ebenfalls verringert und zu Überflutungen führen kann.»

China staut zu viel Wasser

Sorgen bereitet Professor Duong Van Ni auch Chinas Stromproduktion. Im Mekong-Oberlauf haben die Chinesen sechs Staudämme gebaut, zwei weitere seien geplant. Da werde keine Rücksicht genommen. Während der Trockenzeit, wenn Vietnam dringend Wasser benötigte, staut China zu viel Wasser und gräbt Vietnam so buchstäblich das kostbare Nass ab. Während der Regenzeit werde zu viel abgelassen, was zu den Überschwemmungen beitrage.

Seit 1996 hat Vietnam mit internationaler Hilfe mehr als eine Million Menschen aus bedrohten Gebieten umgesiedelt. Das Land rief an der letzten UN-Klimakonferenz in Warschau eindringlich zur Reduktion von klimaschädigenden Schadstoffen auf. Denn alleine liessen sich Katastrophenfolgen nicht mehr bewältigen.

Umsiedeln, bevor das Wasser kommt

«Wenn es so weitergeht, müssen in Vietnam wegen des Anstiegs des Wasserspiegels eines Tages möglicherweise weitere sechs Millionen Menschen umgesiedelt werden.» Dies sagt Michael Annear, der früher Katastrophenhilfsprogramme in Asien und Afrika leitete und heute im Lande Ho Chi Minhs die Internationale Föderation der Rotkreuz-Gesellschaften vertritt.

Im Klartext bedeutet dies, dass Umsiedlungen von Millionen von Menschen nicht erst dann vollzogen werden, wenn das Unglück schon da ist, sondern rechtzeitig vorher. «Denn Vorbeugen ist ökonomischer und menschlich verantwortungsvoller als das Handeln erst bei der Katastrophe», sagt Michael Annear, «vor allem auch, wenn man den Verlust von Leben einbezieht.»

Die meisten Kinder, die ihren Schulweg mit dem Boot zurücklegen müssen, können nicht schwimmen.

Statistiken der vergangenen fünf Jahre zeigen, dass der wirtschaftliche Schaden von Naturkatastrophen immer grösser werde. Stichwörter: Zerstörungen der Industrie und Gefährdung der Nahrungsmittelsicherheit. Es sei deshalb enorm wichtig, in Katastrophenvorsorge zu investieren. Rotkreuz-Gesellschaften haben die Kosten verglichen. «Auf den Philippinen sahen wir, dass man mit jedem investierten Franken das Fünf- bis Zehnfache an Kosten sparen konnte, wenn man in die Prävention investiert. UNO-Studien bestätigen dies.» Oft seien es einfache Massnahmen, die viel bringen, wie der Bau einer Brücke über einen Fluss, damit die Menschen bei einer Überschwemmung rechtzeitig fliehen können oder sich bei einem Taifun in einem stabilen Bau in Sicherheit bringen können.

Die Simulation könnte bald zum Ernstfall werden

Die Evakuationsübung in der Primarschule Nummer eins in Dat Mui endet mit Gesang. Fröhliches Liedersingen soll beruhigen. Einige Kinder hat die Ernstfall-Simulation ziemlich verängstigt. Beunruhigend ist, dass die meisten Kinder, die ihren Schulweg mit dem Boot zurücklegen müssen, nicht schwimmen können. Das gehört nicht zum Pflichtstoff.

Beunruhigend auch die Aussage des ehemaligen Dorfvorstehers Nguyen Truyen Thong: «In drei bis fünf Jahren werden vielleicht auch die neu gebauten Häuser überflutet sein, weil der Wasserspiegel stetig steigt. Jedes Jahr müssen die Schutzdämme erhöht werden. Das heisst: Jedes Jahr kommt das Dorf gegenüber dem umgebenden Wasserspiegel um fünf bis sieben Zentimeter tiefer zu liegen.» In Dat Mui und an vielen anderen Orten des Deltas ist der simulierte Dammbruch ein möglicher Ernstfall.

 

Der Mekong und sein Delta
Der Mekong durchfliesst auf seiner Reise sechs Länder: China (Tibet), Myanmar, Thailand, Laos, Kambodscha, Vietnam. Rund die Hälfte der gesamten Strecke liegt auf chinesischem Gebiet. Je nach Quelle ist er zwischen 4350 und 4800 Kilometer lang und gehört zu den zwölf längsten Flüsse des Planeten. Das gesamte Delta ist flächenmässig grösser als die Schweiz und umfasst Teile Kambodschas und Vietnams. Vier Fünftel des gigantischen Mündungsgebietes liegen in Südvietnam. Etwa 20 Prozent der 90 Millionen Menschen Vietnams wohnen im Delta. Der überwiegende Teil lebt von der Fischerei, der Crevettenzucht und vom Reisanbau. Das Delta gehört weltweit zu den wichtigsten Reiskammern. Vietnam und vor allem das Mekong-Delta, ist laut der UNO eines der Länder, die von der Klimaerwärmung am meisten betroffenen sind.

Nächster Artikel