«Es gibt ein Zuviel und ein Zuwenig»

Kinder aus sozial benachteiligten und isolierten Familien müssten schon ab Geburt gefördert werden, findet Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Die Schweiz hat punkto Frühförderung immensen Nachholbedarf, sagt er im Interview.

«Wir haben in der Schweiz immer mehr Eltern, die für ihre Kinder mehr tun, als sie sollten. Und auf der anderen Seite Eltern, die kaum die Möglichkeit haben, ihren Kindern das zu geben, was sie am meisten benötigen.» (Bild: Claudia Link)

Kinder aus sozial benachteiligten und isolierten Familien müssten schon ab Geburt gefördert werden, findet Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Erste Ergebnisse seiner aktuellen Studie «Zeppelin» geben ihm Recht. Ein Gespräch über die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen.

Herr Lanfranchi, Frühförderung ist in aller Munde. Woran liegt das?

Andrea Lanfranchi: In der Schweiz werden wir uns der Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte je länger, je mehr bewusst. Dabei denke ich insbesondere an fehlende Angebote für Kleinkinder aus sozial benachteiligten und isolierten Familien, die zum Teil kaum an die frische Luft kommen. Sei es, weil die Eltern sich im sozialen Raum nicht zurechtfinden oder weil die alleinerziehende Mutter niedergeschlagen ist und kaum die Wohnung verlässt. Heute sind uns die Folgen glücklicherweise bekannt und wir fangen an, nach Lösungen zu suchen und Verantwortung zu übernehmen.

Heisst das, Kindern aus sozial privilegierten Familien geht es grundsätzlich besser?

Das hängt immer von der individuellen Situation der Familie ab. Dass ein Kind erst im Alter von sechs Jahren in den Kindergarten und mit sieben in die Schule geht, ist kein Problem für eine sozial gut gestellte und vernetzte Familie, weil ihre Kleinen ohne besondere Anstrengungen früh gefördert werden. Zum Beispiel, weil die Eltern dem Kind am Abend vor dem Einschlafen eine Geschichte erzählen, mit ihm regelmässig in den Wald gehen oder regelmässig gemeinsam essen. 10 bis 15 Prozent der Eltern können das, aus welchen Gründen auch immer, nicht gewährleisten. Entwicklungs- oder Erziehungsprobleme werden dann erst im Kindergarten erkannt. Manche Verzögerungen in der Sprache, in der Wahrnehmungsfähigkeit oder in den kognitiven Leistungen lassen sich dann aber nicht mehr kompensieren, auch nicht mit teuren sonderpädagogischen Massnahmen.

Sie sagen, die Problematik ist mittlerweile erkannt worden. Wie wird ihr entgegengetreten?

In den letzten fünf Jahren haben wir im Bereich familienergänzende Betreuung und Förderprogramme tatsächlich spürbar aufholen können. Vielversprechend ist auch die aktuelle Weiterbildungssituation. Dank Masterstudiengängen sowie praxisbezogenen Zertifikatskursen wird die Professionalisierung der Verantwortlichen vorangetrieben. Abgesehen von diesen Fortschritten hinkt die Umsetzung von Massnahmen in einigen Bereichen hinterher. Auch die Überprüfung der Wirksamkeit hält, mit wenigen Ausnahmen, den heute üblichen strengen wissenschaftlichen Kriterien empirischer Forschung nicht immer stand.

Wie muss man das verstehen?

Ich habe schon vor 20 Jahren in meinen Publikationen auf die Notwendigkeit von Spielgruppen für Kinder mit Migrationshintergrund hingewiesen. Aber Spielgruppen alleine reichen nicht aus, um die erforderlichen mittel- und langfristigen Effektivitätsnachweise zu erbringen. Auch wenn die beteiligten Eltern bei Evaluationen zufrieden sind und die Kinder im Vorher-nachher-Sprachvergleich positiv abschneiden.

Es reicht also nicht, wenn Eltern zufrieden sind und Kinder besser Deutsch sprechen?

Sicherlich leisten entsprechende Angebote in Spielgruppen einen wichtigen Beitrag als Verbindungssystem zwischen Familie und Kindergarten sowie Schule. Unbestritten ist auch, dass es für Migrantenkinder sinnvoller ist, ihre Zeit mit Deutschlernen zu verbringen, als zu Hause vor dem Fernsehen zu sitzen. Aber die Quantität, manchmal auch die Qualität sind nicht ausreichend. In der Regel gehen die Kinder zwei- bis dreimal die Woche in die Spielgruppe, und das nur für ein Jahr lang. Amerikanische Modellstudien wie das «Abecedarian Project» oder das «Perry Preschool Program» zeigen, dass die Projekte erst dann langfristig wirksam sind, wenn die Kinder in ihrer Entwicklung schon ab dem Säuglingsalter und dann während mehrerer Jahre unterstützt werden. Solange wir in der Schweiz evidenzbasierte Förderprogramme nicht ins reguläre Angebot der Kinder- und Familienhilfe überführt haben, sollten wir viel bescheidener sein in unserem Lobgesang der Frühförderung als Lösung für die Chancengleichheit von Kindern aus sozial benachteiligten Familien.

Gibt es weitere vorbildliche Projekte im Ausland?

Wir müssen nicht in anderen Ländern suchen. Es reicht etwa ein Blick in den Kanton Tessin, wo rund 75 Prozent der Kinder im Alter von drei Jahren in den Kindergarten gehen, mit vier Jahren sind es dann fast 100 Prozent. Von diesem Angebot machen vor allem Migrantenfamilien Gebrauch. So sind ihre Kinder optimal für die Schule vorbereitet. Wenn man dennoch mit dem Ausland vergleichen will, sieht die Situation für die Schweiz ernüchternd aus. Gemäss einem neuem UNICEF-Bericht betragen die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Betreuung im frühen Kindesalter hierzulande lediglich 0,3 Prozent. Von 23 OECD-Ländern befindet sich die Schweiz im 21. Rang; Norwegen investiert dreimal mehr, Dänemark fast sechsmal mehr.

Oft hat die Öffentlichkeit das Gefühl, dass von den Förderprogrammen nur Kinder mit Migrationshintergrund profitieren. Stimmt das?

Im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen Familien mit besonderem Förderbedarf. Dabei geht es um die Herausforderungen schichtspezifischer und nicht ethnischer oder kultureller Herkunftseffekte. Viele dieser Familien sind zwar Migrantinnen und Migranten, aber bei weitem nicht alle! Auch wenn der Ausländerstatus eng an die Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht gekoppelt ist, müssen wir aufpassen, Migrantenfamilien nicht a priori als sozial belastet und somit bedürftig zu stigmatisieren. Die Mehrheit der eingewanderten Familien und auch solche, die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, sind gut vernetzt und kommen gut selber über die Runden. Deshalb richten sich die Förderprogramme nicht primär an sie, sondern ganz allgemein an Familien in sozialen Risikosituationen. Und dazu gehören auch viele Schweizer Familien. In unserem «Zeppelin»-Projekt sind Schweizer Eltern mit 16 Prozent beteiligt.

«Zeppelin» ist eine vom Nationalfonds finanzierte Studie, die von Ihnen geleitet wird. Worum geht es dabei?

Es handelt sich um eine sogenannte Interventionsstudie von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zusammenarbeit mit der Bildungsdirektion des Kantons Zürich (AJB), die die Frage untersucht, ob mit gezielten Massnahmen bereits ab Geburt die Bildungschancen von Kindern aus Familien mit psychosozialen Risiken wie Isolation, Randständigkeit oder geringer Bildung erhöht werden können. Im Vorfeld haben wir in Dietikon die Verfahren für Früherkennung, Frühförderung und Evaluation in einer kleinen Stichprobe getestet. Die Hauptstudie, an der 250 Familien teilnehmen, ist Ende 2011 gestartet. Die ersten Messungen mit einjährigen Kindern zeigen, dass sie generell und vor allem beim Sprachverständnis besser abschneiden als jene Kinder, die nicht gefördert wurden.

Wie erreichen Sie die Familien, wenn das Programm darauf abzielt, die Kinder ab Geburt zu fördern?

Über bestehende Einrichtungen wie die Mütterberaterinnen, die die Familien während dreier Jahre ungefähr jede zweite Woche besuchen und sie jeden Monat für Gruppenangebote im Familienzentrum der Gemeinde einladen. Aber auch über Hebammen bei der Geburtsstation, interkulturelle Übersetzende, Kinderärztinnen und -ärzte sowie über die Sozialen Dienste.

Leistung ist mittlerweile auch für Kinder zur Maxime geworden. Immer mehr Eltern investieren in die frühkindliche Bildung. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Viele Eltern stehen unter Druck und haben Angst, etwas Wichtiges zu verpassen. Sie haben in Ratgebern gelesen oder den Medien entnommen, dass sich in der Entwicklung von Kleinkindern Zeitfenster aufmachen, die man nicht ungenutzt vorbeigehen lassen sollte und mit Frühförderung füllen muss. Clevere Anbieter von Frühförderkursen sind sofort in die Nische gesprungen. Nach «Englisch in der Spielgruppe» kann man heute tatsächlich Frühchinesisch buchen oder «Chess4kids». Aber muss man schon als Bébé Algebra lernen? Sicher nicht. Als Fachpersonen betrachten wir diesen «Frühförderungswahn» sogar als schädlich für die Entwicklung der Kinder. Dieses wohlgemeinte Investitionsdenken beim «Projekt Kind» geht oft an den Bedürfnissen von Heranwachsenden vorbei und kann sie sogar überfordern. Das Gras wächst schliesslich nicht schneller, wenn man daran zieht. Auf der anderen Seite braucht das Gras günstige klimatische Bedingungen und einen gut gedüngten Boden, um gut zu wachsen.

Somit gibt es im Bereich der Frühförderung grosse Unterschiede.

Allerdings. Es gibt ein Zuviel und ein Zuwenig. Wir haben in der Schweiz immer mehr Eltern, die für ihre Kinder mehr tun, als sie sollten. Und auf der anderen Seite Eltern, die kaum die Möglichkeit haben, ihren Kindern das zu geben, was sie am meisten benötigen. Nämlich eine aktive Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt.

Weitere Informationen: www.zeppelin-hfh.ch

Dieser Beitrag wurde uns von der Migrationszeitung MIX (Ausgabe 26, Mai 2014) zur Verfügung gestellt. Die MIX ist ein Gemeinschaftsprodukt der Kantone BS, BL, BE, GR und SO zur Information und Versachlichung der Diskussion rund um das Thema Integration. Im Kanton Basel-Stadt wird die MIX durch das Präsidialdepartement, Fachstelle Diversität und Integration in der Kantons-und Stadtentwicklung, und im Kanton Basel-Landschaft durch die Sicherheitsdirektion BL, Fachbereich Integration, unterstützt.

Artikelgeschichte

Dieser Beitrag wurde uns von der Migrationszeitung MIX (Ausgabe 26, Mai 2014) zur Verfügung gestellt. 

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