Escape from Planet Blätzlibajass

Warum verlässt einer Basel? Warum zieht er nach Zürich und kehrt fast zurück?

(Bild: Andreas Zimmermann für Design+Design)

Warum verlässt einer Basel? Warum zieht er nach Zürich? Und warum kehrt er wieder heim – aber bloss für eine Woche?

Es ist ja schon fast so etwas wie ein Klas­siker. Der Journalist, der aus Basel nach Zürich zieht und dann aus der gar nicht so fernen Ferne und mit etwas zeitlicher Distanz über seine Heimat herzieht, ihr alles zurückzahlt, was sie – oder wer auch immer – ihn hat erfahren lassen an Er­niedrigung und Verletzung und Kränkungen.

Ich möchte gleich festhalten: Ich mag Basel. Mit 18 kam ich vom Land nach Basel und blieb 18 Jahre. Es waren gute 18 Jahre. Ich hatte meinen Spass und ich hatte meine Freunde, und manche davon sehe ich sogar immer noch. Trotzdem zog ich weg (zu den Gründen kommen wir gleich). Und auch ich schrieb schon aus der Ferne und in Erinnerung über Basel.

Ich war ja auch unsicher, was mich in der «Ferne» erwarten würde. Obwohl ich beruflich immer wieder in Zürich zu tun hatte, war ich wie geimpft, gebrainwashed: Zürich ist kalt, sagte ich. Zürich ist böse. Zürich ist pfui. Und: «Hey, in Basel brauchst du für deinen Freundeskreis keine Membercard wie in Zürich.»

Dann aber, als ich auf der Autobahn die zwei ­Zügelwagen überholte, die mein ganzes Hab und Gut vom Rhein an die Limmat brachten, da ging es mir ein bisschen wie in einem dieser Science-Fiction-Filme, etwa «Oblivion» mit Tom Cruise, die von postapokalyptischen Szenarien handeln, von verbotenen Zonen, in denen der Mensch nicht überleben kann, sondern sofort verstrahlt wird, verbrennt, verreckt.

Ich überfuhr also diese Grenze, durchfuhr den Aargau und drang ein in die Züri-Gschnetzeltes-Todeszone, aber ich musste feststellen: Ich ver­glühte nicht. Kein Ektoplasma schoss mir aus dem Schlund. Es war dort genauso wie überall: normal.

Auch Zürich ist einfach nur eine Stadt

Ich merkte: Es ist einfach auch nur eine Stadt, mit all ihren Vor- und Nachteilen. Und vor allem stellte ich fest, dass es DEN ZÜRCHER nicht gibt. Ich traf vor allem Bündner und Berner und St. Galler, aber den Ur-Zürcher, dieses in Basel gern beschriebene Monstrum mit dem breiten Dialekt, den fand ich nur einmal vor: In Victor Gia­cobbos Harry Hasler.

Diesen Generalverdacht gegen etwas, wie er in Basel gegen alles aus Zürich gehegt wird, den gibt es andersrum nicht. In Zürich mag man Basel. Sogar, wenn einer einen Hardcore Basler Dialekt spricht, bei dem es mir als Baselbieter reflexartig auch leicht die Schuhbändel kräuselt, bringt man ihm hier in Zürich Sympathien entgegen.

Vor nicht langer Zeit schrieb ich einen Text für die Rubrik «Ein Tag im Leben» im «Magazin» des «Tages-Anzeigers», das auch der «Basler Zeitung» jeweils am Samstag beigelegt wird. Der Text handelt von einer jungen Frau, die in Basel Mode studierte und heute in Zürich lebt. Die Frau sagt, dass sie ­Basel manchmal vermisse, diese kleine, gemütliche Stadt.

Und da war er dann wieder: der Basler-Beiss-­Reflex. Denn dass eine Zürcherin Basel als «klein» und «gemütlich» bezeichnete, das empfand man als Herablassung allererster Güte, als Arroganz. Genau das ist es, was mich an Basel störte und noch immer stört: diese verschobene Selbstwahrnehmung, ­dieser Minderwertigkeitskomplex, den man gar nicht haben müsste, der dann aber zum Superbaslertum pervertiert.

Ich bemerkte: Es war in Basel eigentlich alles noch so, wie es zuvor gewesen war.

Vor drei Jahren fuhr ich nach Basel an eine Geburtstagsparty. Dort traf ich eine Frau. Sie sagte, sie wisse von einem Haus mit Garten, 2700 Franken, kalt. Das liess mich aufhorchen. Vielleicht sollte ich mit meiner Familie von Zürich nach Basel zurückziehen? Warum nicht? Wenn sich eine solche Gelegenheit bot?

Ich wollte mir dieses Haus ansehen. Und ich hatte eine Idee: Ich zog zurück nach Basel – vorerst nur für eine Woche, als Test. Ich wollte herausfinden, wie sich die Stadt anfühlte, wie es ihr ging – und dann einen Artikel darüber schreiben, über das neue Basel. Denn das war mir natürlich aufgefallen auf meinen Besuchen: Die Stadt hatte sich verändert, äusserlich. Aber hatte sie sich auch mental verändert? Also stand ich bald mit einem kleinen Koffer in der Hand vor der Türe meiner langjährigen Basler Mitbewohnerin Julia, checkte wieder ein und lebte los.

Nicht die Stadt macht es aus – die Menschen sind es 

Ich spazierte herum, bestaunte das neue Quartier rund um den Voltaplatz, an dem ich lange Jahre gelebt hatte (und den wir der vielen Baustellen wegen «Folterplatz» nannten), und ich besuchte viele Leute, sprach mit ihnen über Basel, so als spräche man über einen Freund, den man lange nicht mehr gesehen hatte und von dem man nicht weiss, wie es um seine Gesundheit bestellt ist.

Ich traf einen Grafiker (eigentlich ein Genfer, er blieb nach der Ausbildung hängen) im «Donati» zum Mittagessen, was ich als sehr unbaslerisch empfand: Das Tagesmenü war Kalbsbraten vom Wagen, Risotto, Spinat, für 48 Franken. Er sagte: «Die Stadt ist gar nicht so wichtig. Ehrlich gesagt könnte Basel für meinen Geschmack grösser und rauer sein, schmutziger, städtischer halt. Die Häuser könnten gerne etwas höher sein, aber eben, so wichtig ist die Stadt nicht, sondern die Menschen sind es, gute Typen, die Freunde. Und die gibt es hier.»

Ich traf einen Kunstvermittler, der vor zehn Jahren aus dem Welschen hergezogen war, er sagte: «Basel hatte damals eine narzisstische Störung. Die Selbstwahrnehmung war verschoben.» Er attestierte der Stadt eine gewisse Gesundung. Er sagte auch, Basel habe einen «institutionellen Wasserkopf, wenn auch einen hochkarätigen». Er meinte: Basel besitze zwar tolle Museen auf Weltklasse-Niveau, doch für die eigentliche Szene werde noch immer zu wenig gemacht. «Versteh mich recht: Es wird sehr viel für Künstler getan durch all die Stiftungen. Man könnte in diesem Zusammenhang beinahe teilweise von einer Art Zwangsbeglückung sprechen. Doch Künstler brauchen nicht noch 50 neue Ateliers. Es braucht Öffentlichkeit, Austausch, einen Ort, an dem Impulse entstehen.»

Zwischen Weltläufigkeit und Provinzialität

Ich traf einen Museumsdirektor (eigentlich ein Zürcher), er sagte: «Als ich damals nach Basel kam, da war ich schon in einer gewissen Weise schockiert, denn damals gingen so viele Leute weg aus Basel. Es kam mir vor, als bräche eine ganze Generation weg. Es waren vor allem so genannt Kreative, die der Stadt den Rücken kehrten, weil sie anderswo bessere Bedingungen vorfanden. Das ändert sich nun langsam. Basel pendelt zwischen Welt­läufigkeit und Provinzialität. Ich hoffe sehr, dass die nötigen Impulse folgen, damit noch mehr Leute von aussen kommen und hier bleiben. Es hat sich manches verbessert, vieles ist eingeleitet, aber entschieden ist noch nichts. Eine Riesenchance auf jeden Fall sehe ich in dem, was nun auf dem Dreispitz geschehen könnte.»

Ich traf einen Architekten in seinem Büro, eben hatte er einen Wettbewerb gewonnen, was mit Weisswein aus Aesch gefeiert wurde, er sagte: «Man könnte diese auf die drei Tage der Basler Fasnacht ­reduzierte extreme Lebensfreude und diese überbordende Originalität auf das ganze Jahr verteilen. Das täte der Stadt gut. Basel muss sich weiter öffnen, eine pluralistische Stadt sein, in der die jungen Menschen mit ihren kreativen Ideen eine Zukunft sehen – und so nicht zum Exodus gezwungen werden.» Als ich ihn fragte, ob er nie ans Wegziehen gedacht habe, da sagte er: «Das ist immer ein ­Thema. Aber ich muss gestehen: Man kann sehr gut arbeiten hier, gerade weil es so schön ruhig ist. Es lastet weniger Druck auf der Stadt, in jeder Beziehung.»

Was am meisten fehlt – und was nervt

Und aus Basel schrieb ich Freunde und Bekannte an, die ich einst in Basel kennengelernt hatte, und die allesamt heute nicht mehr in Basel leben, die weggezogen waren, aus welchen Gründen auch immer, nach Zürich oder nach Köln oder nach …, nun ja, die meisten zogen tatsächlich nach Zürich. Ich fragte also diese Freunde und Bekannte, was sie am meisten an Basel nervt und was was sie am meisten vermissen, das Beste und das Schlimmste. Die Antworten waren (unsortiert und ungefiltert):

«Die Bodega, wo sich alle über die Tische hinweg unterhalten oder zubrüllen.»

«Die entspannte, durchaus rheinländische Art der Basler und auch irgendwie das Dreiländereck und das NT-Areal.»

«Die Angst vor Lärm aus der Nachbarschaft und die Lärmbekämpfung durch die Exekutive.»

«Den Rhein.»

«Das grüne Schnarchträmli.»

«Die übenden Drümmeler und Pfyffer an einem Frühlingsabend in den Langen Erlen.»

«Die Humorlosigkeit der Basler. Vor allem zur Fasnachtszeit. (Als ich als Teenager einen Button machen liess, auf dem «I HATE FASNACHT» stand, da wollten mich gar vermeintlich beste Freunde lynchen.)»

«Dass man sich, kaum ist man aus dem Zug ­ge­stiegen, total entspannt. Durch die Strassen schlendert, als würde man von der Sauna bei sich zu Hause, mit einem Drink in der Hand, zum Sofa schlurfen.»

«Dass alles etwas gemächlicher ist.»

«Dass es zu wenige Jobs im gestalterischen ­Bereich gibt.»

«Die Aussicht von der Dreirosenbrücke in Richtung Norden.»

«Die Polizei. Denn nirgendwo sonst auf der Welt – und ich kann aus eigener Erfahrung weltweit vergleichen, etwa Los Angeles (gemein), ­Nicaragua (kriminell und korrupt), Mexiko (dumm und dreist), Österreich (bestechlich), ehemalige DDR (faschistoid) oder Italien (sexistisch) – sind die Cops so ausser Rand und Band wie in Basel. Bei Kleinstdelikten wie Falschparken oder Fahrradfahren auf dem Trottoir drehen sie schon total durch. Sie leuchten dir mit der Taschen­lampe ins Gesicht, während sie dich anbrüllen, du sollst deine Hände am Lenkrad lassen, weil du aus Versehen in eine Einbahnstrasse eingebogen bist. Sie treten schwangere Frauen von Velos, drehen dir den Arm auf den Rücken, wenn du deinen Ausweis nicht dabei hast. Mich hat einmal einer angeschrieen, es geschehe mir ganz recht, dass ich meine schwangere Frau jetzt nicht ins Spital fahren könne, denn dann würde dieses ganze Chaos endlich einmal ein Ende haben … Mancher hat das Selbstbewusstsein eines DDR-Grenzbeamten und die Aggressivität eines Pitbullterriers auf Anabolika. Er denkt, er bewege sich in einem Endzeitszenario à la ‹Blade Runner›, und was für Touristen der träge dahin fliessende Rhein ist, nimmt der Basler Polizist als blutigen Strom des Verbrechens wahr.»

«Dass die Tramchauffeure bimmeln, bevor sie losfahren – und es überhaupt nicht so eilig zu ­haben scheinen.»

«Die Fasnacht.»

«Dass es weniger SVP gibt als andernorts.»

«Dass die Regierung die Forschung und die Chemie sabotiert, dass die Forschung nicht mit der Uni zusammenarbeitet.»

«Dass jeder jeden kennt.»

«Dass es keinen See gibt.»

«Dass sie mich auslachen, weil ich nicht mehr so gut Baseldytsch kann, wenn ich zurückkomme und die Freunde besuche.»

«Die Basler Mehlsuppe.»

«Die Velotauglichkeit der Stadt.»

«Dass die Coiffeurpreise normal sind.»

«Die Foodabteilung in der Manor, also der Rheinbrücke.»

«Das Französisch, die Elsässer: ‹Lösisch immer so lüt Müsig, wenn de Öiti fahrsch?›»

«Das extreme Baslerdytsch. Und dass ich auf meine paar Züridütsch-Wörter (‹drü› oder ‹nöd›), die sich in meinen Dialekt eingeschlichen haben, immer sofort und fast von allen Bekannten in ­Basel aufmerksam gemacht werde.»

«Der spätsommerliche Sonnenuntergang in den Langen Erlen, mit symmetrischem Blick auf die Kleinhüninger Industrie (unsichtbar), Position mittig stehend im Kanalwasser. Ein Stillleben mit blutoranger, aufgeblähter Indian-Summer-Sonne.»

«Dass alle Leute bereits mal miteinander ­geschlafen haben.»

«Das Zufriedensein.»

Ende Woche fuhr ich wieder nach Hause und fing an, die Reportage niederzuschreiben. Nach so zirka 20 000 Zeichen merkte ich: Es war hier ­eigentlich alles noch so, wie es zuvor gewesen war.

Dann klingelte das Telefon. Die Frau mit dem Haus an der Hand war am Telefon. Sie sagte, sie habe ­etwas zu sagen vergessen. Das Haus für 2700 Franken kalt, sechs Zimmer mit Garten, da käme noch etwas dazu, weil die Vormieterin ein bisschen umgebaut habe, eine neue Küche und dies und das – also, man müsste ihr noch 50 000 Franken Handgeld anbieten. Und so zerknüllte ich den Zettel, auf dem ich schon eine Liste begonnen hatte: Vorteile und Nachteile einer Rückkehr an den Rhein.

Die ­Sache, sie hatte sich erledigt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 11.10.13

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