Frankreichs Versagen in Fessenheim

Das Dekret der französischen Regierung zur Schliessung von Fessenheim liefert keine Rechtssicherheit und ist deshalb kein Fortschritt. Die Betreiberin EDF hat auf Zeit gespielt und vorerst gewonnen. Was wird die neue französische Regierung tun? Und wie wird Frankreich mit den teuren nuklearen Altlasten umgehen?

French President Francois Hollande arrives at the city hall "Campidoglio" (Capitoline Hill) for the meeting of EU leaders on the 60th anniversary of the Treaty of Rome, in Rome, Italy March 25, 2017. REUTERS/Tony Gentile

(Bild: Reuters/TONY GENTILE)

Das Dekret der französischen Regierung zur Schliessung von Fessenheim liefert keine Rechtssicherheit und ist deshalb kein Fortschritt. Die Betreiberin Electricité de France hat auf Zeit gespielt und vorerst gewonnen. Was wird die neue französische Regierung tun? Und wie wird Frankreich mit den teuren nuklearen Altlasten umgehen?

Es ist nicht so, dass der französische Präsident François Hollande nichts getan hätte. Ein interministerieller Beauftragter bereitete «offiziell» während Jahren die Stilllegung des ältesten Atomkraftwerks Frankreichs vor. Den deutschen Nachbarn wurde die Stilllegung fest in die Hand versprochen. Und das Dekret von Anfang April verspricht die Schliessung, sobald der Euro-Reaktor in Flamanville eröffnet wird; 450 Millionen Euro Entschädigung für die Betreiberin Electricité de France (EDF) wurden ebenfalls ausgehandelt.

Hollande stümpert

Doch: In den entscheidenden letzten Wochen seiner Amtszeit hat François Hollande gestümpert. Er hätte der EDF sagen können: «Ihr beantragt die Schliessung von Fessenheim und ich händige euch die beiden Dekrete aus, die ihr in Flamanville und Paluel (Seine-Maritime) dringend braucht.» Doch Hollande entschied sich für die umgekehrte Reihenfolge – und die EDF liess ihn wenig überraschend hängen. Denn sie spielte von Anfang an auf Zeit – auf die Zeit nach Hollande – und hielt sich nicht an die Abmachungen.

Ein formelles Schliessungsgesuch der EDF ist im Pariser Umweltministerium denn auch nie eingetroffen. Das Regierungsdekret, von einer verzweifelten Ségolène Royal am französischen Fernsehen verteidigt, bringt keinen Fortschritt. Es besagt nichts anderes, als was auch im französischen Energiegesetz steht: Bei der Eröffnung von Flamanville muss, damit der gesetzliche Deckel von 63,2 Gigawatt maximaler AKW-Leistung nicht überschritten wird, ein altes AKW vom Netz.

Fessenheim bleibt somit offiziell in Betrieb, mindestens auf dem Papier, wenn nicht gerade wieder eine Panne den Stillstand erzwingt. Darüber hinaus gibt es mehrere Varianten eines «worst case» für unsere Region: 

  • EDF oder die Gewerkschaften können das Dekret der Regierung mit einer Beschwerde bekämpfen. 
  • EDF kann darüber hinaus darauf drängen, dass das neue Parlament die Obergrenze für AKW-Kapazitäten aufhebt.
  • EDF kann anstelle von Fessenheim eine andere Anlage schliessen – zum Beispiel das beschädigte AKW Paluel (1300 Megawatt), womit die gesetzliche Leistungsgrenze bei Inbetriebnahme von Flamanville ebenfalls eingehalten wäre.

Gewaltige Mängel

Es gibt viele Gründe, weshalb der Trinationale Atomschutzverband (TRAS) und andere Organisationen die Stilllegung von Fessenheim verlangen: Nirgends sonst ist das Erdbebenrisiko ähnlich hoch wie im Oberrheingraben, die Überflutungsgefahr grösser (die Anlage liegt 9 Meter unter dem Wasserspiegel des Canal d’Alsace), sind die Betonböden nachlässiger gebaut (1,5 Meter statt 6 bis 8 Meter dick), die Reaktordruckbehälter älter und schadhafter, und es fehlt eine ausreichende, erdbebensichere Notkühlung.



Noch ist nicht aller Tage Abend für das AKW Fessenheim: Wenn die Betreiber auf Zeit spielen, kann François Hollande fast nichts für die Abschaltung tun.

Das AKW Fessenheim steht schon lange unter einem schlechten Stern. Gerade wieder standen beide Reaktoren still. (Bild: REUTERS/Vincent Kessler/File Photo )

Nirgends in Frankreich sind Zwischenfälle so zahlreich wie in Fessenheim – und werden von der Betriebsleitung unverfroren verharmlost, wie etwa der Verlust von 100 Kubikmeter Kühlwasser, das einen wichtigen elektrischen Schaltkasten 2014 lahmlegte.

Unverständlich und gefährlich ist, dass Frankreichs Behörden (die Aufsichtsbehörde ASN und die Regierung) trotz dem Seilziehen um die Schliessung noch immer an der Fiktion festhalten, dass dieses AKW weiterhin sicher betrieben werden kann.

Weltweiter Niedergang

Was die neue französische Regierung aber möglicherweise mehr beeindruckt als die Warnrufe aus der Dreiländerecke sind die milliardenschweren Verluste der eigenen Atomindustrie.

Dass der französische AKW-Hersteller Areva nie zum lukrativen Technikexporteur werden kann, dürften seit dem Bankrott dieser Firma selbst die technikblinden Pariser Ministerialbeamten bemerkt haben. In den USA hat die AKW-Firma Westinghouse Konkurs angemeldet. Westinghouse könnte nicht nur die Mutterfirma Toshiba, sondern auch die Käufer des Kernkraftwerks vom Typ AP-1000 in den Abgrund ziehen, derselbe Typ übrigens, den die Axpo für die Schweiz beschaffen wollte.

36 Milliarden Euro Schulden

Was in Paris weiter ins Gewicht fällt, sind die Schulden von 36 Milliarden Euro der EDF – einer Staatsfirma, die nun in England und anderswo anstelle der Areva den Karren aus dem Dreck ziehen soll. Dabei gäbe es zu Hause mehr als genug zu tun: Die milliardenteuren Sanierungen, die in den französischen AKW fällig wären, lassen sich kaum überblicken. Und ob sie von der Aufsicht rechtzeitig durchgesetzt werden, muss ebenfalls offen bleiben.

Seit 2005 weiss die französische Aufsichtsbehörde ASN von Konstruktionsfehlern der Reaktordruckbehälter, verursacht durch die Areva-Giesserei Creusot. Die ASN schwieg jahrelang. Und schickte Briefe an Areva mit freundlichen Fragen.

Heute weiss man: Creusot hat für Anlageteile zahlreicher Reaktoren jahrzehntelang Sicherheitszertifikate gefälscht, ohne Folgen. Im September 2014 liess die ASN den Reaktordruckbehälter von Flamanville testen und fand wenig überraschend heraus, dass die Sicherheitsstandards für das Stahlcontainment nicht erfüllt sind. Mehr noch: Auch die bereits hergestellten Bauteile für Hinckley Point (GB) erfüllen die technischen Anforderungen nicht. Ob und mit welchen Bauteilen diese Atomkraftwerke je in Betrieb gehen, ist ein Jahrzehnt nach Baubeginn (!) grundsätzlich offen.

Le Pen atomfreundlich

Finanziell schwerwiegend für EDF sind auch die fortgesetzten Betriebsunterbrüche in alten Atomkraftwerken. Fessenheim 2 steht seit letztem Sommer still und wird auf ähnliche Materialschäden geprüft. Fessenheim 1 läuft oder eben nicht, wie neue Zwischenfälle in diesen Tagen zeigen.

Das Thema Fessenheim spaltet auch die französische Präsidentschaftskandidaten. Der sozialliberale Kandidat Emmanuel Macron kündigte an, er unterstütze den Schliessungsentscheid für Fessenheim. Seine rechtspopulistische Kontrahentin Marine Le Pen hingegen kritisierte die Schliessung als «ideologische Entscheidung».

Vom rechtlichen Standpunkt her hat Hollande nicht einmal die Fassade gewahrt, die er fünf Jahre lang vor sich herschob. Er verlässt sein Amt ohne Leistungsausweis in Sachen Kernenergie, wenn man von einem Energiegesetz absieht, das allerdings gar nicht umgesetzt wird.

Warten auf den Knall 

Mit dem Entscheid, die Stilllegung von Fessenheim mit der Inbetriebnahme von Flamanville zu verknüpfen, ist aus dem «Deckel» für Kernenergie ein «Sockel» geworden. Als AKW-Gegner fühlt man sich in die Lage versetzt, dass man zwecks Schliessung des Uralt-Meilers von Fessenheim auf die Inbetriebnahme von Flamanville warten muss. Das ist das Gegenteil einer echten Energiewende.

Dass alles beim Alten bleibt, ist trotzdem unwahrscheinlich. Wie in den USA (ab Three Mile Island 1979) oder in Japan (Fukushima 2011) könnte es auch in Frankreich zum «Management by accident» der Nuklearindustrie kommen. Das heisst nicht, dass ein schwerer Unfall wie in Tschernobyl oder Fukushima geschehen muss. Aber es könnte sein, dass kleine Zwischenfälle ganze Bauserien alter AKW stilllegen – und die Regierung zum Handeln zwingen.

AKW belasten Staatshaushalt

Was sich seit dem Amtsantritt von Hollande entscheidend verändert hat, ist die neue Ökonomie der Stromerzeugung. Windenergie und Solarstrom können ein AKW in kürzester Zeit ersetzen und sind erst noch billiger als ein altes AKW, das man reparieren muss.

Neue Solar- und neue Windfarmen – selbst offshore im Meer, so zeigen die jüngsten Ausschreibungsergebnisse in Deutschland – liefern günstiger Strom als neue Gas- und Kohlekraftwerke und sind weniger als halb so teuer wie neue Atomkraftwerke. Und nach den Spielregeln der EU dürfen die Preisvereinbarungen für solche Neuanlagen erst noch aus Netzzuschlägen finanziert werden, ohne dass die Staatskasse belastet wird, wenn die Börsenstrompreise bei starker Sonne oder Wind gegen null sinken.

Die EDF weiss von der hohen Rentabilität der neuen erneuerbaren Energien ein Lied zu singen, denn ihre Tochter EDF-EN («énergie nouvelle») gehört – nicht in Frankreich, aber im Rest der Welt – zu den grössten und erfolgreichsten Investoren in erneuerbare Energien.

Die neue französische Regierung wird sich an die Realität gewöhnen müssen, dass der Altbestand an Atomkraftwerken permanent höheren Aufwand als Ertrag bringt und, wenn man genau rechnet, die Staatskasse immer tiefer in den Abgrund zieht.

Im letzten Winter funktionierte die französische Stromversorgung nur, weil Deutschland und andere Nachbarn rekordhohe Stromexporte nach Frankreich lieferten – aus Wind, Sonne und Kohle wohlgemerkt.

Beide Augen zugedrückt

Der alte Atompark wird so zu einer wachsenden Belastung. Eigentlich wären schon lange teure Nachrüstungen fällig, nicht nur in Fessenheim, und die Entsorgungskosten sind ebenfalls zum Grossteil ungedeckt. Die Aufsichtsbehörde wird nicht ewig beide Augen zudrücken können, ohne dass es zu neuen Zwischenfällen kommt.

Der Schlüssel zu einer Schliessung der alten Atomkraftwerke liegt somit nicht allein bei der Regierung in Paris, sondern ebenso bei der Aufsichtsbehörde ASN. Sie begnügte sich bisher damit, wie die Schweizer Atomaufsicht Ensi jede Atomanlage schönzurechnen und der Bevölkerung falsche Sicherheiten vorzutäuschen. «Harte» Bestimmungen werden nicht durchgesetzt, Sanierungen aufgeschoben, um die Betreiber zu schonen – alle diese Spielchen werden nicht folgenlos bleiben, was Fukushima verdeutlicht hat.

Mit der Alterung der Anlagen wächst die Gefahr. Ein Unfall, ein terroristischer Anschlag auf die schlecht geschützten Brennelemente-Becken oder auch «nur» ein schwerer Zwischenfall könnten die französische Wohlfühl-Gemeinde aus 40 Jahren Selbsthypnose aufwecken. Niemand wünscht sich einen Unfall. Aber angesichts von Fälschungen, Misswirtschaft und Kollaboration aller Verantwortlichen erscheint dies als das wahrscheinlichste Ergebnis – mit wahnwitzigen Folgen für alle, die es dann trifft.

Rudolf Rechsteiner ist promovierter Ökonom. Er begann seine berufliche Laufbahn als Wirtschaftsredaktor der «Basler Zeitung». Seit Anfang der 1990er-Jahre lehrt er zu Umwelt- und Energiepolitik an den Universitäten Bern und Basel, seit 2010 auch an der ETH Zürich. Er engagiert sich stark in der Anti-Atomkraft-Bewegung: Rechsteiner ist Vizepräsident des trinationalen Atomschutzverbands TRAS. Von 1995 bis 2010 sass Rechsteiner für die SP im Nationalrat; seit 2012 ist er wieder Grossrat. 

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