Fünf Erschossene, ein Verschollener, ein Zwerg und ein später Kronzeuge

Der reale Krimi von Seewen ist spannender als jede TV-Serie. Und 36 Jahre nach der Tat gibt es brisante neue Erkenntnisse.

«Tschingge-Winchester»: Die Tatwaffe im Mordfall Seewen vom Typ Umberti.38 Spezial. (Bild: Keystone)

Der reale Krimi von Seewen ist spannender als jede TV-Serie. Und 36 Jahre nach der Tat gibt es brisante neue Erkenntnisse.

«Ich habe mit mir gerungen», beichtet der 66 Jahre alte Mann aus Basel im «Sonntagsblick». Aus Rücksicht auf seine Familie habe er jedoch geschwiegen. Vorab seine Schwester habe ihn nämlich gewarnt: «Sie sagte, ich würde nur Probleme bekommen.» Letztes Jahr sei sie jedoch gestorben. Und darum habe er, Erich J., wie in der «Sonntagsblick» nennt, nach 36 Jahre langem Ringen der Solothurner Polizei jetzt mitgeteilt, was er über den Massenmord an Pfingsten 1976 in Seewen im Schwarzbubenland wisse.

Aus nächster Nähe erschossen

Dieser Mordfall galt bis zum Attentat auf das Zuger Kantonsparlament von 2001 als schlimmster Fall in der Kriminalgeschichte unseres Landes. Und im Unterschied zum Zuger Gemetzel, bei dem der Täter selber ums Leben kam, ist die Bluttat von Seewen  bis heute nicht aufgeklärt worden.

Sie ereignete sich am Pfingstsamstag 1976 und wurde tags darauf entdeckt. Die Polizisten, die den Tatort zunächst nur aus der Ferne mit Feldstechern beobachtet hatten, fanden schon vor dem Haus eine tote Frau, der aus nächster Nähe in die Stirn geschossen worden und in einen Teppich eingewickelt worden war. Durch ein Fenster sahen sie im Häuschen drin, das sein Besitzer «Waldeggli» genannt hatte, zwei ähnlich hingerichtete Männer. Und als das inzwischen alarmierte Polizeiaufgebot am grausigen Tatort eintraf, kamen noch zwei weitere Leichen zum Vorschein. 

Fünf Opfer und kein Täter

Bei den fünf Opfern handelte es sich um das Ehepaar Elsa (62) und Eugen Siegrist (63) aus Basel, dem das Häuschen gehörte, sowie um die Witwe Anna Westhäuser-Siegrist (80) und ihre beiden Söhne Emanuel (52) und Max (49). Alle fünf waren sie mit insgesamt 13 Schüssen aus derselben Waffe regelrecht hingerichtet worden. Es handelte sich dabei um ein Unterhebel-Repetiergewehr vom Typ Winchester mit Röhrenmagazin, wie die Kantonspolizei schnell herausfand.

Bis zu 50 Beamte der Kantonspolizei Solothurn, die sich als «Mordbüro» in der Folge mit der grässlichen Tat befassten, fanden noch am gleichen Tag Siegrists Opel Ascona im «Teufelsgraben» zwischen Muttenz und Münchenstein. Der Täter war ganz offensichtlich mit dem Auto seiner Opfer bis dorthin geflohen. Spuren des kaltblütigen Mörders gab es hingegen weder im Auto noch am Tatort. Und auch die Mordwaffe blieb verschwunden. Robert Siegrist (21), der Sohn der Opfer wurde festgenommen und verhört. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte. Später hat er über den Fall ein Buch geschrieben (Robert Siegrist: Der Mordfall Seewen. Erzählt vom Sohn der Opfer. Opinio, Basel 2001, ISBN 3-03-999001-2).

Kinderschänder nebenbei gefasst

Und die Ermittlungen kamen auch sonst nicht voran. Es gab kein Motiv, keine Tatwaffe, keine Verdächtigen, kaum Spuren. Doch die Fahnder unter der Leitung des seriösen und tatkräftigen Kommissars Max Jäggi liessen nicht locker. Sie befragten Hunderte von Zeugen, gingen Tausenden von Hinweisen nach. Fast 3000 Gewehre vom selben Typ und Kaliber, wie die Tatwaffe sammelten sie rund um den Tatort ein und verglichen die Projektile: nichts.

Und über alles führten sie genaustens Protokoll und Buch. So gingen die Wochen, die Monate, die Jahre ins Land. Und noch immer arbeiteten mehrere Polizisten in Jäggis Mordbüro an dem Fall. Sie hatten Dutzende von Hausdurchsuchungen und Personenbefragungen gemacht. Und nach Siegrist Junior noch acht weitere Personen vorübergehend in Haft genommen. Achtzehn Meter Akten waren zusammen gekommen. Die Kosten gingen inzwischen in die Millionen – und beunruhigten das Solothurner Kantonsparlament. Nebenbei waren zehn kleinere Delikte geklärt worden – von einem Diebstahl bis zu den Untaten eines Pädokriminellen. Zum Mordfall Seewen jedoch: nichts.

Kommissar Zufall findet Tatwaffe

Bis 1996, gut 20 Jahre nach der Bluttat: Da fanden Bauarbeiter bei einer Renovation hinter einem Kochherd eine Winchester-Kopie der italienischen Marke Umberti 1866. Die Waffe war hinten am Schaft und vorne der Lauf bis auf die Höhe des Magazins abgesägt und so handlicher gemacht worden. Und es war die Tatwaffe von Seewen, wie sich sofort zeigte. Sie gehörte einem Carl Doser mit Jahrgang 1947, der unter der Akten-Nummer 9424 schon 1976 als einer von 3000 Gewehr-Besitzern befragt worden war.

Damals hatte Doser angegeben, er habe die Unterhebel-Umberti 1973 in Zürich gekauft und sie später auf einem Trödlermarkt einem Unbekannten weiterverkauft. Nach zusätzlichen Abklärungen fiel Doser als Tatverdächtiger ausser Betracht. Auffällig jedoch: Doser ist seit etwa 1977 unauffindbar. Inzwischen gilt er als verschollen. Und nach dem Fund seiner abgesägten Umberti glaubten Fahnder und Angehörige der Opfer, er sei halt doch der Täter gewesen – und habe sich aus dem Staub gemacht.

Doser kannte den «Zwerg»

Doch schon 2001 zitierte der Basler Journalist Peter Knechtli in seinem «OnlineReports»  einen Mann Namens Hans Blaser, der an Dosers Schuld zweifelte: Doser habe wahrscheinlich den Neffen der Mordopfer Siegrist und Cousin von Buchautor Robert Siegrist, Adolf «Johnny» Siegrist gekannt, erzählte Blaser damals. Und dieser Adolf Siegrist habe bei ihm einmal eine Maschinenpistole kaufen wollen. Knechtli zitiert zudem den Basler Waffenverkäufer Hans-Georg Spinnler, der berichtet, nur drei Wochen vor dem Seewen-Mord habe «Johnny» Siegrist bei der Firma R. Mayer AG in der Steinenvorstadt zwei Schachteln à je 50 Schuss des Kalibers 38 Spez. gekauft. Dabei habe sich dieser Siegrist erkundigt, ob denn die Patronen, die er «für jemanden besorgen» müsse, auch «in die Tschinggen-Winchester» passten.

Interessant dabei: Dieser Adolf «Johnny» Siegrist war nur 150 cm gross und wurde von vielen als «Globi» gehänselt. Er ist noch vor 1980 gestorben. Und jetzt wird es spannend: Eine der wenigen verlässlichen Zeuginnen im Mordfall Seewen war nämlich eine Baslerin, die unweit des Tatort-Häuschens ebenfalls ein Ferienhaus hatte. Sie gab 1976 zu Protokoll, am Pfingstsamstag habe sie beim «Waldeggli» drüben «einen Zwerg» gesehen. Das kommunizierte die Polizei indes nie, weil die Frau so verängstigt war, dass sie ihr längere Zeit Personenschutz gewähren musste.

Der dritte Mann im «Schöneck»

Auf diesem Hintergrund jedoch bekommt die Aussage des nun aufgetauchten Zeugen Erich J. im neusten «Sonntagsblick» erst ihre Brisanz: Der Neffe des erschossenen Ehepaars Siegrist, Adolf «Johnny» oder «der Zwerg», wie ihn die Zeugin nannte, habe sich in der Zeit vor dem Seewen-Mord mit dem Besitzer der Tatwaffe, Carl Doser, jeweils im Basler Restaurant «Schöneck» getroffen, sagt der Mann. Mit dabei sei jeweils aber noch ein dritter Mann gewesen, der Basler Automechaniker Peter N. Mehr noch: «Peter war der Anführer der Gruppe», wird Erich J. wörtlich zitiert.

Und derselbe Peter N. habe ihm ein Jahr vor dem Mord «einmal ein Winchester-Gewehr gezeigt». Er habe die Waffe sogar selber in der Hand gehabt: «Peter hatte sie im Kofferraum seines Autos versteckt.» Der Automechaniker habe erklärt, er habe das Repetiergewehr für 200 Franken Doser abgekauft. Und: Adolf Siegrist habe für ihn die Munition dazu beschafft. Zeuge J. ist überzeugt: Nicht nur Doser als Waffenbeschaffer und «der Zwerg» Adolf Siegrist als Munitions-Käufer seien in den Seewen-Mord verwickelt gewesen – sondern und vor allem auch der Automechaniker Peter N.

Verschwunden – oder aus dem Weg geräumt?

Das jedoch wirft ein ganz neues Licht auf das «Verschwinden» von Carl Doser um 1977: Dass die Tatwaffe ursprünglich ihm gehörte, ist ja «erstellt», wie die Polizei sagen würde. Dass Doser sie später in Olten versteckt hat (wo sie dann 1996 gefunden wurde), ist wahrscheinlich. Damit aber wäre Doser wohl ein Mittäter gewesen, der andere massiv hätte belasten können. Den «Zwerg» Adolf Siegrist bestimmt. Aber auch den Automechaniker Peter N. Diese beiden hatten gorsses Intereresse daran, dass Doser verschwand. Haben sie ihn gar aus dem Weg geräumt?

Und noch etwas ist interessant an der neusten Entwicklung in diesem weiterhin mysteriösen Fall: Vor allem seine Schwester habe ihn gemahnt, aus familiären Gründen so lange zu schweigen, sagt der neue Zeuge. Fest steht indes, dass «das Hauptopfer», Eugen Siegrist, am Tag vor dem Massaker von seinem Arbeitsplatz aus noch mit einer Frau namens Clara telefoniert hat – die nie gefunden werden konnte. Wie auch nie aufgeklärt wurde, an wen er am selben Tag noch einen Brief verfasste und persönlich zur Post brachte. Zudem hat er sich des öftern mit seinem Opel Ascona für bis zu zwei Stunden vom «Waldeggli» entfernt, wenn er dort weilte. Wohin konnte nie festgestellt werden. Hatte Eugen Siegrist heimlich Kontakt zur Familie, auf welche der neue Zeuge Erich J. noch 36 Jahre über den Mord an Siegrist hinaus mit seinem Schweigen «Rücksicht» nehmen wollte?

Verjährt aber nicht vergessen

Das alles will die Polizei gestützt auf die neusten Enthüllungen des Zeugen J. nun aufklären. Der Fall ist zwar längst verjährt. Und viele Beteiligte, wie etwa Adolf «Johnny» Siegrist sind inzwischen eines natürlichen Toders gestorben. Doch vergessen ist der Fall noch lange nicht. Seewen ist und bleibt als «Tatort» jedenfalls mindestens ebenso bekannt wie für sein Musikautomaten-Museum.

Quellen

Artikel im «Sonntagsblick».

Das NZZ-Folio zum Thema.

Ein Text auf «OnlineReports».

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