Fussball verbindet und Fussball verblendet

Der Ball rollt, die Welt steht Kopf und schwingt Fahnen. Daneben rollen weiterhin Köpfe in Krisen und Kriegen. Gemeinsam ist beiden Schauplätzen der Fanatismus.

In der euphorisierten Masse läuft manchem ein kalter Schauer über den Rücken – wenn auch nicht jedem aus demselben Grund.

Es ist wie mit der Einwanderung: Die Schweizer sind einfach nicht gut im Pässe verteilen. Aber ab und zu lassen sie dann doch einen rein. Letztendlich ist es Kopfsache.

«Die Schweiz gewinnt gegen Brasilien eins zu eins.» Neymar ist am Boden. Behrami belustigt darüber. Die Bierkrone schwappt auf den Asphalt. Seitenansichten geschwollener Halsschlagadern beim Brüllen. Chaos auf den Strassen, doch die Polizisten lassen ihre Gummischrotflinten ruhen.

Leute, die dir sonst jeden Schluck Nestea wegen Komplizenschaft am Raubtierkapitalismus vorwerfen, brüllen Trikot-behangen Fangesänge nach Russland. Es herrscht Fussball.

Die «Welt» titelt «Heute bauen WIR die Mauer» vor dem Spiel Deutschland gegen Mexiko. An der mexikanisch-amerikanischen Grenze werden derweil Immigrantenfamilien auseinandergerissen. Das Bild des weinenden Mädchens, das seinem Vater entrissen wird und später in einem Käfig in Texas landet, geht annähernd so viral wie das des weinenden Neymar – Vermögen 145 Millionen Euro – wegen eines schlechten Fussballspiels.

Bundesrat Schneider-Amman twittert #HoppSchwiiz und verlangt, dass das Waffenexport-Verbot gelockert wird. Man soll wieder in Krisengebiete exportieren dürfen. Es könnten sonst am Ende noch Arbeitsplätze verloren gehen in der Schweiz. Und wir alle wissen, wie wichtig Schneider-Ammans Partei das Wohl des Arbeiters ist.

Man lechzt nach Spektakel, Jubelszenen und nationalistischen Gefühlen ohne das Moralin der Spielverderber.

Und während im Mittelmeer weiterhin Kinder ertrinken, brutzeln hier die Würste, wehen die Flaggen und werden in Russlands Stadien Hände gehoben. Man lechzt nach dem Spektakel. Nach heroischen Jubelszenen, machoidem Gehabe und nationalistischen Gefühlen ohne das Moralin der Spielverderber.

Ich bestelle mir Shots an der Bar und stimme mit ein in den Chor der Ausgelassenheit. In der Ukraine fallen Schüsse. Putin will ein bisschen expandieren. Als er da beim Eröffnungsspiel mit dem saudischen Prinzen einen lustigen kleinen Schwatz hielt – das war ein Bild. Dazwischen Infantino, der Boss des grössten Korruptions-Apparates der Welt. Wow!

Braucht der Mensch diesen Eskapismus als Entspannungstherapie gegen die ganze Scheisse, die ihm täglich um die Ohren fliegt?

Derzeit werden ganze Völkergruppen unterdrückt, Menschen geköpft und Milliarden veruntreut. Aber es wird eben auch Fussball gespielt und darum ist es okay. Okay, als Künstler einen Song beizusteuern oder als kritischer Denker johlend in Siegeszügen durch die Strassen zu stolpern. Dass es da keine echte Demokratie gibt in diesem Russland, wird temporär vergessen. Fussball verbindet! Und: Fussball verblendet.

Braucht der Mensch diesen Eskapismus als Entspannungstherapie gegen die ganze Scheisse, die ihm täglich um die Ohren fliegt? Oder fliegt uns langsam, aber sicher alles um die Ohren, weil wir flüchten, ignorieren, nichts tun ausser feiern?

Ventil oder Symptom?

Verbindet nun dieser Fussball die Menschen oder zementiert er Vorurteile und übertrieben patriotisches Gehabe? Ich mag ihn ja auch ein wenig, diesen Fussball. Wie habe ich gejubelt bei dieser Kiste von Zuber. Gut, einige Schüsse Ingwerer gingen voraus – mit Bier nachgespült bis in die Nachspielzeit.

Und eben: Fussball ist doch nicht schuld an globalen Missständen, totalitären Regimes oder Faschismus. Aber der Fanatismus, der die Spiele begleitet, verträgt sich erschreckend gut mit jeder noch so kaputten Staatsform oder korrupten Regierung.

Ist das jetzt gut oder schlecht? Ventil oder Symptom? Würde mir einer sagen, Rap mache seine Anhänger zu sexistischen Gewalttätern, würde ich ihm ein paar Bushido-Lines in die Fresse schmettern. Aber wie muss sich dann ein Fussballfan beim Lesen dieser Zeilen fühlen?

Schon wedeln die ersten Flaggen aus den Autos. Feiern wird zum Eifern. Lachen zur Fratze.

Ich bin ein Fan der ehrlichen Ratlosigkeit – ich weiss nicht, was zuerst da war: der Ball oder das Tor. Auf jeden Fall sind mir grosse Menschenmengen, die Sachen brüllen und synchron gestikulieren, suspekt. Und immer diese Pfiffe. Diese apokalyptische Beklemmung, die mich manchmal beschleicht, wenn sich aus all den Public-Viewing-Käfigen dieses konstante, gespenstische Pfeifkonzert auf die Strassen ergiesst.

Kurz darauf werden Verkehrsregeln ausser Kraft gesetzt und der Ausnahmezustand wird ausgerufen. Schon wedeln die ersten Flaggen aus den Autos und führen Menschen dämonische Tanzrituale auf. Feiern wird zum Eifern. Lachen zur Fratze. Nicht selten werden im Freudentaumel die öffentlichen Plätze dieses Landes, das man so liebt, verwüstet. Ich ziehe den Kopf ein und schleiche davon. Nüchtern verstehe ich das nicht.

Vielleicht geht es um das: den Rausch. Vielleicht ist es wirklich einfach ein Ventil. Wahrscheinlich ist alles gut. Vielleicht stört mich ja nur, dass dieses Zurschaustellen der Flagge und dieses verbindende «Wir gegen die anderen» zu gut in das Schema derjenigen passt, deren Absicht es ist, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln eins zu eins zu schlagen.

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