Geistiger Erdrutsch in der Kirche

Die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren war eine Sensation. Seine wichtigsten Beschlüssen lösten damals eine ungeahnte Aufbruchstimmung aus.

Das Zweite Vatikanische Konzil 1962: Kirchenvertreter aus aller Welt versammeln sich in der St. Peters Basilika in Rom. (Bild: Keystone)

Die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren war eine Sensation. Seine wichtigsten Beschlüssen lösten damals eine ungeahnte Aufbruchstimmung aus.

Fünfzig Jahre ist es am 11. Oktober her, dass das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) von Papst Johannes XXIII. im Petersdom in Rom eröffnet wurde. Diese Versammlung von 2500 Bischöfen wurde damals als eine echte Sensation empfunden. Fast niemand hatte damit gerechnet, dass der Papst  – der korpulente Bauernsohn war 1958 als Kompromisskandidat zum Papst gewählt worden und verkörperte das krasse Gegenteil der eloquenten Kurienkardinäle – ein allgemeines Konzil einberufen würde. Zu gross war der Druck geworden, der aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen  und technischen Fortschritten den Keil tiefer und tiefer zwischen moderne Welt, Gläubige und Kirche getrieben hatte.

Mit seinen wichtigsten Beschlüssen hat das Konzil, die nach dem Papst höchste katholische Autorität, für die Kirche richtungsweisende neue Pfade eingeschlagen. Bei näherer Betrachtung freilich wird deutlich, dass die Grundanliegen bereits auf dem Konzil selbst heftig umstritten waren. Kaum verwunderlich ist es daher, dass diese damals wie eine Befreiung wirkenden Beschlüsse, mit denen die katholische Kirche Abschied nahm von der fixen Vorstellung, sie sei wie eine ewige Festung ein Bollwerk gegen die moderne Welt, bis heute nur halbherzig umgesetzt worden sind.

Festungsmentalität aufgebrochen

So erarbeiteten die Konzilsväter etwa eine neue Position, die schon im Titel der Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» («Freude und Hoffnung») zum Ausdruck kommt. Vor dem Konzil sahen die Katholiken in der modernen Welt, in der die Aufklärung, Selbstbestimmung Demokratie und Fortschritt den Takt angaben, eine Gegnerin von Kirche und Glauben. Wichtige Themen waren das Verhältnis von Rüstung, Angriffskrieg und Selbstverteidigung, eine leise Verurteilung des kommunistischen Atheismus sowie die Verbindung von wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Fortschritt mit gelebter Solidarität. Der Text sollte – das lag Papst Johannes XXIII. besonders am Herzen – die Festungsmentalität der Kirche aufbrechen zugunsten des Gesprächs mit der Welt.

Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorstellen zu können, dass die Erarbeitung dieses vermutlich bedeutsamsten Konzilsdokuments nicht ohne Konflikte abging. Vor allem deutsche Konzilstheologen wie Karl Rahner, Joseph Ratzinger und der damals schon in Tübingen lehrende Schweizer Hans Küng hatten dafür gesorgt, dass eine gewisse Fortschrittseuphorie nicht allzu viel Oberwasser in den Texten bekam. Sie konnten berechtigte Hinweise auf die spätestens mit den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima erwiesene Zweischneidigkeit des technischen Fortschritts in die Texte einbringen. Im Urteil des Theologen Otto Hermann Pesch nahm das Konzil «alle bis heute fortwirkenden Probleme» vorweg – «von der Gesellschaftsstruktur bis zur Frage nach Krieg und Frieden, vom Vorrang der Arbeit vor dem Kapital bis zur Mitschuld der Kirchen am Atheismus und vom Verhältnis von Kirche und Staat«. Echt neu an der Pastoralkonstitution war, «dass die katholische Kirche trotz klarer Aussagen revidierbar redet»: Nicht in der alten Rolle der autoritären Lehrmeisterin wandte sich die Kirche an die Menschen, sondern als mitgehende Ratgeberin.

Kirche als Klassengesellschaft

Eine weitere wesentliche Neuerung des Konzils betrifft das Verständnis der Kirche selbst. Hatten die Theologen vor dem Konzil die Kirche als eine «perfekte Gesellschaft» definiert, sprachen die Konzilsväter neu von einer reformbedürftigen Kirche. Früher galt die Kirche «als eine Gemeinschaft von Menschen, der nichts fehlt und die darum auch von aussen keiner Hilfe bedarf», so Theologe Pesch. Diese «vollkommene Gesellschaft» wird hierarchisch in drei Stufen geleitet und zwar von Papst, Bischöfen und Priestern. Die Kirche wurde also verstanden als eine «vom Amt her geprägte, hierarchisch-zentralistisch organisierte Heilanstalt», so Pesch. Die Kirche verstand sich als Klassengesellschaft.

Demgegenüber definierte das Konzil das Selbstverständnis der katholischen Kirche neu als Gemeinschaft der Gläubigen, als «Volk Gottes» auf dem Weg. In dieser ständig zu reformierenden Kirche hat das «gemeinsame Priestertum» Vorrang vor den kirchlichen Ämtern und dem Klerus, zu dem ausschliesslich geweihte Personen, also Männer, gehören.

Ein dritter riesiger Meilenstein des Konzils ist die Erklärung über die Religionsfreiheit «Digitalis humanae», die von der unwiderruflichen Menschenwürde jedes Einzelnen ausgeht und entsprechend allen Menschen das Recht zuspricht, ihre Religion frei zu wählen, selbst wenn diese Religion der katholischen Doktrin widerspricht.

Reformer gegen Konservative

Ein kurzer Blick in die Geschichte verdeutlicht den geistigen Erdrutsch, den das Konzil vollzog. Dass dieses Dokument zu den umstrittensten Konzilsbeschlüssen zählt, hat seinen Grund in der ablehnenden Haltung der katholischen Kirche gegenüber der kirchenkritischen Aufklärung, die Jahrhunderte vor dem Konzil geprägt hatte. Noch 1832 schmetterte ein päpstliches Lehrschreiben den Aufbruch der Freiheit des vernunftbegabten Individuums und seines Geistes ab als «Wahnidee».  Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt der weltanschaulich neutrale Staat inklusive seiner demokratischen Verfassung als Abfall von der Religion.

Auf den kurzen kirchlichen Frühling aber folgte kein Sommer, sondern ein langer Winter, unter dessen Kälte immer mehr Menschen leiden und deshalb die Kirche verlassen. Es gibt jedoch Gründe genug, an die hoffnungsvollen Anstösse des Konzils wieder anzuknüpfen. Denn die entscheidende kirchliche Auseinandersetzung spielt sich nicht ab zwischen Reformern und Konservativen, sondern zwischen der grundlegenden kirchlichen Solidarität mit den «Plebejern und Verachteten» im Widerspruch gegen die Tendenz zu einer selbstgerechten Kirche als «insulare Gegenwelt», wie es der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher auf den Punkt gebracht hat.

Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Herder 2008
Hans Küng (Hg), Katholische Kirche – wohin? Wider den Verrat am Konzil, Piper 2002
Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte, Topos Taschenbuch 2001

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