Golden Ager im Dauerstress

Wir werden immer älter und bleiben immer länger jung. Ab 50 bis weit darüber hinaus ist man heute im «besten Alter», aber auf keinen Fall zu alt – wenn man sich genug Mühe gibt.

Alt werden braucht Mut (Bild: Getty Images)

Wir werden immer älter und bleiben immer länger jung. Ab 50 bis weit darüber hinaus ist man heute im «besten Alter», aber auf keinen Fall zu alt – wenn man sich genug Mühe gibt.

Zuerst das Positive: Während früher ein Mensch mit 50 schon ziemlich alt aussah und spätestens mit 70 zum alten Eisen gezählt wurde, strotzen die heutigen Alten nur so vor gesunder Jugendlichkeit. Ihre Körper halten sie fit, und beruflich sind viele noch lange über ihr Pensionsalter hinaus voll im Saft. Zumindest diejenigen, die noch gebraucht werden.

Auch finanziell sind einige recht gut gepolstert, konnten sie doch noch vom Wirtschaftswachstum profitieren und sich eine gute Rente ansparen. Was natürlich der Marketingbranche nicht verborgen geblieben ist: Die Altersgruppe Ü50 gilt heute als wichtige Zielgruppe für die Werbung – kaufkräftig, qualitätsbewusst, unternehmungslustig.

Sogar verkaufstaugliche Namen hat man ihr verpasst. Statt vom Senior, was nun wirklich nicht grad sexy tönt, spricht man heute vom Best Ager. Ebenso vom Golden Ager, Master Consumer oder, im Zusammenhang mit den online äusserst aktiven älteren Herrschaften, von den Silver Surfern. Die Abgrenzung der Best Ager von ­Senioren ist gemäss einer deutschen Marketingexpertin matchentscheidend. Es sei kein Wunder, schreibt sie in einem Fachartikel, dass TUI mit ihren «Seniorenreisen» eine Bauchlandung erlebt habe, ein 51-jähriger Best Ager wolle nicht mit einem 80-jährigen Senior in einen Topf geworfen werden. Ein Best Ager, so ihre Definition, sei in der Regel voll leistungsfähig und werde weder durch körperliche noch durch psychische Krankheiten eingeschränkt, und er fühle sich durchschnittlich etwa 13 Jahre jünger als er tatsächlich ist.

Perfekt gereifte Menschen

Und so wird der Best Ager in der Werbung denn auch abgebildet: Der vertrauenswürdige Mann von der Versicherung oder der Bank darf graue Schläfen haben, ebenso ein paar Falten im Gesicht – aber keinesfalls hängende Backen oder ein Doppelkinn. Sein Körper ist schlank, zeugt von Sportlichkeit, sichtbarer Bauchansatz ist ein absolutes No-Go.

Ebenso perfekt gereift sind die Frauen, die Kosmetikprodukte für die Best Ager anpreisen. Wenn überhaupt Fältchen, dann höchstens ein paar zarte Lachfältchen um die strahlenden und klugen Augen; der Busen ist wohlgeformt, die Taille schmal, Dekolleté und Hals zeigen schimmernd weiche nicht erschlaffte Haut.
Die Bilder zeigen Wirkung. Der Stress beginnt. Niemand will mehr alt sein, weil alt gleich verbraucht, gebrechlich, unattraktiv. Der Traum von der ewigen Jugend wurde wohl noch nie so intensiv geträumt wie heute. Das eigentlich positive Leitmotiv «aktiv im Alter», sagt der anerkannte Altersforscher François Höpflinger, sei für viele zu einem wettbewerbs- und leistungsorientierten «Leidmotiv» geworden.

So wird der ewigen Jugend nachgejoggt und -geradelt, als ob der Tod persönlich hinter einem her wäre, man strampelt sich im Fitnessstudio ab, vergönnt sich aus Angst vor Taillenverlust kulinarische Freuden und mag trotzdem nicht mehr in den Spiegel sehen. Denn es blickt einem ein älterer Mensch entgegen. Ein Mensch, der trotz aller Beteuerungen der Marktstrategen nicht mehr so hoch im Kurs steht, wie er vielleicht einmal stand. In allen Lebensbereichen, beruflich wie privat.
Besonders schwer haben es die Frauen. Oder, korrekter formuliert: Sie werden früher als die Männer als alt wahrgenommen. Beim Umgang mit ihnen zeigt sich, dass die vielgepriesenen emanzipatorischen Fortschritte in unserer Gesellschaft spätestens bei der Menopause stillstehen. Dann nämlich werden die unterschiedlichen Wertmassstäbe wieder deutlich sichtbar.

Frau wird «sozial unsichtbar»

Fangen wir mit dem privaten Bereich an. Frauen, sagt François Höpflinger, würden ab etwa 50 «sozial unsichtbar». Das hätten ältere Frauen bei Umfragen immer wieder gesagt. Auch wenn das Aussehen bei Frauen generell wichtiger bewertet wird als bei Männern: Besonders schwer fällt die Nichtbeachtung denen, die in ihren jungen Jahren sehr attraktiv waren und dementsprechend Aufmerksamkeit genossen hatten. Für eine «nach aussen orientierte Frau», so Höpflinger, bedeute die sogenannte Best-Ager-Zeit oft eine schwierige Übergangsphase.

Diese Frau hat zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzt weiterhin auf die Attraktivitätskarte und versucht mit allen Mitteln, Jugendlichkeit zu konservieren, oder sie findet über andere Themen wieder ihren Platz. «Frauen, denen Letzteres gelungen ist», sagt François Höpflinger, «reden von einer gewonnenen Freiheit – und geniessen sie.» Aber eben, der Weg dorthin ist steinig in einer Welt, in der die Aussenwirkung so viel bedeutet. Nicht von ungefähr konnte die ästhetische Medizin in den letzten Jahren so zulegen.

Gemäss einer Marktstudie von Acredis, dem unabhängigen Beratungszentrum für Plastische und Ästhetische Chirurgie, nahmen nach einer kurzen Stagnation im Jahr 2009 die ästhetischen Operationen im letzten Jahr wieder um durchschnittlich 4,6 Prozent zu, die Faltenunterspritzungen gar um 12 bis 14 Prozent. Jährlich werden rund 50 000 grös­sere Schönheitsoperationen durchgeführt, mit 400 000 Antifaltenbehandlungen liegt die Schweiz an der europäischen Spitze. Acredis schätzt den Umsatz in der Branche der ästhe­tischen Medizin auf rund 600 Millionen Franken.

Chirurgisch oder mit Spritzen das Äussere nachzubessern ist denn auch längst kein Tabu mehr. Die eine Freundin hat gerade Augenlider und Bäckchen etwas anheben lassen? Na und, es steht ihr gut. Die andere geht regelmäs-sig zum Botoxen? Na und, sie kommt überall gut an. Überhaupt: All die Best-Ager-Frauen, die immer noch für ihre Schönheit bewundert werden – sie alle haben doch auch nachgeholfen. Was solls, wenn sie sich so besser fühlen? Ja, was solls. Nur: Es braucht halt immer mehr Mut, verdammt viel Mut, unter all den Alterslosen alt zu werden.

Bei einer von Acredis gemeinsam mit den Frauenzeitschriften «Annabelle» und «Brigitte» durchgeführten repräsentativen Umfrage gaben sich fast 80 Prozent der befragten Frauen überzeugt, schöne Menschen hätten es in unserer Gesellschaft leichter.

Mann macht sich unersetzlich

Auch wenn das zunehmend ebenso für Männer gilt (rund 20 Prozent der ästhetischen Behandlungen gehen inzwischen auf ihr Konto), haben es Frauen, denen man ihre «besten Jahre» ansieht, ungleich schwerer als ihre männlichen Alterskollegen. Es gibt zwar auch viele Männer, die nach 50 auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen haben, aber noch geringer sind sie bei den Frauen. Denn während graue ältere Herren durchaus noch wichtige Posten in Wirtschaft und Politik besetzen dürfen, ja, bei ihnen sogar Reife und Erfahrung positiv gewertet wird, kann eine Frau froh sein, wenn sie nach 50 zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird.

Dennoch fällt auch bei den Männern irgendwann die Altersguillotine, einfach etwas später als bei den Frauen. Und wie bei den Frauen gibt es auch unter den Männern solche, die mehr Mühe haben als andere, das zu akzeptieren. «Männer, die ihr ganzes Leben auf Macht und Einfluss ausgerichtet haben», sagt Altersforscher Höpflinger.
Diese würden nicht selten mit einer jüngeren Frau an ihrer Seite ihren Status zu halten versuchen, sagt er. Oder sie machten sich unersetzlich. «Sie klammern sich mit allen Mitteln an ­ihren Status.» Beispiele? Eines der berüchtigsten ist Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi. Aber auch hierzu­lande haben wir einige Männer, die auf keinen Fall Macht abgeben wollen – Christoph Blocher und Sepp Blatter etwa.

Zurück zum Positiven: Gemäss der Ende November veröffentlichten Todesursachenstatistik des Bundesamts für Statistik erreichten 57 Prozent der 2009 Verstorbenen ein Alter von 80 Jahren und mehr. Da bleibt doch manchem Best Ager von heute noch ein bisschen Zeit, den Stress abzulegen und gemütlich alt zu werden.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11

Nächster Artikel