Aylin, 16, macht sich derzeit viele Gedanken über ihre Zukunft. Und stört sich an der Ungerechtigkeit auf der Welt.
Aylin ist 16, Schülerin der Steiner-Schule auf dem Jakobsberg in Basel. Im 10. Schuljahr. Sie ist zurückhaltend, redet nicht einfach drauf los, sondern wartet Fragen ab. «Wenn ich jemanden nicht kenne …», sagt sie und lächelt entschuldigend. Das wird schon – fangen wir mit der Schule an: Die Schule, sagt sie, sei ganz okay. Erst recht, seit ihren letzten Schnuppertagen in einem Hotel. «Im Vergleich dazu ist der Schulalltag ein Schoggileben», sagt Aylin. Ein solcher Job, hat sie gemerkt, wäre nichts für sie. «Hast du einmal Kinder, machst du das Gleiche bei der Arbeit wie zu Hause – bedienen.»
Todmüde sei sie jeweils am Abend gewesen, ausgelaugt. Die berufliche Zukunft ist momentan für Aylin ein «zentrales Thema», wie sie sagt. Soll sie die Matura machen oder den Ausweis für die Fachhochschule? Sie weiss es noch nicht. Vielleicht einen Beruf im sozialen Bereich erlernen, «ich mag Menschen». Auch Journalismus würde sie interessieren, «ich schreibe gern». Schon als Kind habe sie Geschichten geschrieben, «ausserdem ist man dann oft unterwegs». Vielleicht kann sie ja mal in diesem Bereich schnuppern.
Aylins Eltern sind beide Lehrer, der Vater Werklehrer, die Mutter für Bewegungsförderung. Sie sind geschieden, leben aber im gleichen Haus in verschiedenen Wohnungen, Aylin hat ein separates Zimmer auf dem gleichen Stockwerk wie ihr Vater. «Mit eigenem Eingang.» Aber sie sei schon oft unten, «zum Essen und so». Ihr Verhältnis zu den Eltern bezeichnet sie als problemlos, sie haben Vertrauen zu ihr, liessen ihr darum auch viele Freiheiten.
Es gebe einfach gewisse Regeln, beispielsweise mit dem letzten Tram nach Hause zu kommen, wenn sie abends mal ausgeht. «Und ich versuche, mich daran zu halten, sonst rufe ich immer an.» Nein, sie habe keine grossen Auseinandersetzungen zu Hause. Es gab schon Zeiten, da gab es mehr. Aber heute, weswegen auch? «Gut, ab und zu mal eine, weil ich das Bad nicht geputzt habe». Das sei eine Abmachung mit ihrem Vater – dass sie und er abwechslungsweise dafür zuständig sind. »Und ich mache das halt nicht immer.» Aber sonst …?
Noch nicht so viel Verantwortung
Aylin ist keine, die über die Stränge haut. Sie raucht nicht, trinkt nicht. Sie hat zwar schon Alkohol getrunken, sagt sie, war aber noch nie betrunken. Das sagt ihr nichts. In ihrem Freundeskreis sind denn auch keine, die sich Wochenende für Wochenende ins Koma saufen. Wenn sie abends mal ausgeht, dann meistens an Konzerte von jungen Bands oder manchmal in Clubs. Sie macht gerne etwas zusammen mit Freundinnen – «verschiedene Sachen», sagt sie. Was man halt mit 16 Jahren so macht mit Freundinnen: «Reden, Kino, shoppen, ausgehen, aber vor allem viel reden».
Und wie ist es mit der Liebe? Kurze Pause – was diese Fremde alles wissen will! Ja, sagt Aylin, sie habe einen Freund. «Was mir an ihm gefällt? Das ist schwer zu beschreiben.» Er gefalle ihr, sie hätten es lustig zusammen, sie verstehen sich gut. Gekannt hat sie ihn schon länger nur vom Sehen, von der Schule her. Vor etwa einem Jahr dann hätten sie angefangen, mehr Kontakt zueinander zu haben …
Nun, wir haben ja noch ein paar andere Themen auf der Liste, die wir besprechen können: die Lebensvorstellungen zum Beispiel oder die Sorgen und Freuden einer Jugendlichen. Sie freue sich schon aufs Älterwerden, sagt Aylin und fügt schmunzelnd an, «bis etwa 30». Sie geniesse die Jugendzeit aber schon – dass sie noch nicht so viel Verantwortung tragen müsse etwa. Sie denke, dass sie gerne einmal eine Familie haben würde. Sie mag Kinder, hütet regelmässig zwei kleine Kinder. Deren Mutter sie übrigens ziemlich beeindruckt, wie sie sagt.
«Sie hat zwei Kinder und studiert daneben noch.» Sie habe zwar keine bestimmten Vorbilder, meint Aylin, aber vor solchen Menschen habe sie schon Achtung. Weniger jedoch vor solchen, die hauptsächlich nach materiellem Glück streben. «Klar wünsche ich mir, dass ich einigermassen gut leben, mir auch mal Ferien leisten kann, aber ich richte mich lieber in einer einfachen Altwohnung schön ein als in einem teuren Neubau.»
Vielleicht Lehrerin für Kinder in Armut?
Ohnehin – die Ungerechtigkeit, die ungleiche Verteilung des Reichtums auf dieser Welt, das ist etwas, was die 16-Jährige wirklich beschäftigt, ihr Sorgen mache, sagt sie. Jetzt redet sie sich in Fahrt: «Wir haben so viel, andere nichts. Bei uns geht es um das neuste iPad, bei anderen ums Essen – das sind so andere Dimensionen.» Deshalb – und damit kommt sie auf die Berufswahl zurück, über die sie momentan so viel nachdenkt – deshalb könnte sie sich auch vorstellen, dereinst Lehrerin in einem Land zu sein, wo die Schule für Kinder nicht selbstverständlich ist.
«Ach, und übrigens, Sie haben mich doch vorhin gefragt, was mir an meinem Freund gefällt: dass er so aufmerksam ist, so liebevoll. Ich fühle mich gut aufgehoben bei ihm.» Das sind klare Worte zum Schluss eines langen Gesprächs mit einer Fremden.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06.04.12