Heimatgefühl im Global Village

Die EasyJet-Generation entwickelt ein lokales Selbstbewusstsein. Weil ihr die Welt offensteht, empfindet sie keine Enge.

Es gibt Hoffnung auf einen neuen Heimatbegriff. Einen, der seine Kraft aus der lokalen Lebensrealität bezieht. (Bild: Artwork: Christine Kälin)

Die EasyJet-Generation entwickelt ein lokales Selbstbewusstsein. Weil ihr die Welt offensteht, empfindet sie keine Enge. 

Es ist dieser Tage viel vom Verlust der Heimat die Rede in der Schweizer Öffentlichkeit. Glaubt man gewissen Politikern und Medienleuten, bedroht Europa die helvetische Unabhängigkeit und verliert das Schweizervolk seine Identität. Ausländische Steuerbehörden verfolgen Schweizer Banken, ungebremste Immigration führt zur Zersiedelung der Landschaft. Die Schweiz erkennt sich selbst nicht wieder. Die Verunsicherung ist gross.

In Tat und Wahrheit ist das Klima in der Schweiz heute so selbstbewusst, entspannt und fröhlich wie noch nie in der Geschichte des Bundesstaats. Die Bewohner dieses Landes vertragen sich gut. Es gibt durchaus Konflikte – die Kluft zwischen Reich und Arm wird grösser, der Generationenvertrag steht auf dem Prüfstand, die Immigration führt zu logistischen Herausforderungen – aber diese werden auf einem derart hohen Wohlstandsniveau ausgetragen, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht wirklich belasten. Ein Indiz für diesen atmosphärischen Befund ist die Tatsache, dass die Schweizer Politik durchs Band von Mitteparteien gemacht wird, Extrempositionen sind realpolitisch unbekannt. Die Regierungen von Bund und Kantonen setzen sich ausnahmslos aus Mittepolitikern zusammen, und in den Parlamenten sitzt, soweit bekannt, kein einziger Links- oder Rechtsextremer. Was hierzulande als ­extrem gilt, wäre anderswo biederes Mittelmass.

Alle Umfragen belegen, dass Schweizerinnen und Schweizer ihr Leben mehrheitlich als glücklich einschätzen. Wir wissen, dass wir mit allergrösster Wahrscheinlichkeit ein Leben in Wohlstand, Freiheit und Frieden verbringen und eines natürlichen Todes sterben werden. Die Chance, dass wir jemals Krieg oder Unterdrückung erfahren, einem Verbrechen zum Opfer fallen oder wirklichen Hunger leiden, ist verschwindend klein.

Cool, mutig, progressiv

Das wird uns immer wieder aufs Neue bewusst, wenn wir nach den Ferien aus fernen Ländern heimkehren. Kommt hinzu, dass es das Knuspermüesli mit Zimt und Äpfeln nur in der Migros gibt. Und dass die Verkäuferin hundert Mal Danke, Merci, Bitte und Adieu sagt. Und dass die SBB so unfassbar pünktlich sind. Und dass hier nie, nie der Strom ausfällt.

Übers biedere Image hinaus kann die Schweiz, wenn es drauf ankommt, auch ein cooles, mutiges und progressives Land sein. Die Homo-Ehe wurde in der Schweiz erfunden, die staatliche Heroinabgabe ebenfalls und die Streetparade auch. Das mag damit zusammenhängen, dass die Schweizer Bevölkerung im europäischen Vergleich ziemlich jung ist, und das wiederum ist eine direkte Folge der Immigration. Ohne die Einwanderer wäre der Altersdurchschnitt zehn Jahre höher, die Belastung der Sozialwerke entsprechend grösser.

In der Schweiz lebt es sich heute nicht zuletzt auch deshalb so gut, weil die Immigration eine unbeschreiblich wohltuende Mediterranisierung mit sich gebracht hat. Wer erahnen möchte, wie sie ohne ­Einwanderung aussähe, sollte sich 50-jährige Schweizer Spielfilme anschauen, «Polizischt Wäckerli» etwa oder «Bäckerei Zürrer». Dort herrscht ­eine längst vergessene, geradezu nordkoreanische ­Atmosphäre des Griesgrams, die sich niemand im Ernst zurückwünschen würde.

Kein Zweifel: Heute und in absehbarer Zukunft lebt es sich in diesem Land so gut wie niemals zuvor. Wenn sich trotzdem Verunsicherung breit macht, ist das ganz wesentlich ein Erfolg der rechtskonservativen Blocherpartei, die sich als einzige Hüterin wahren Schweizertums sieht («Schweizer wählen SVP») und mit ihrem xenophoben Alarmgeschrei seit zwanzig Jahren den öffentlichen Diskurs beherrscht. Sie untergräbt das Heimatgefühl der Menschen, indem sie unermüdlich ihr Mantra einer Bedrohung durch dunkle, auswärtige Mächte beschwört und den Immigranten die Schuld an allem und jedem gibt: an den überfüllten S-Bahn-Zügen und an der Zersiedelung der Landschaft, an den steigenden Kriminalitätsraten und an der sinkenden Qualität der Staatsschulen. Und wenn die Arbeitslosenrate steigt oder die AHV bankrott geht, sind ebenfalls die Ausländer schuld.

Dass das alles nicht stimmt, versteht sich von selbst. Immigration ist kein Problem, sondern Ur­sache, Symptom und Folge von Wohlstand. Reichtum schafft Arbeitsplätze, Armut schafft Arbeitskräfte, deswegen wandern Menschen von armen in reiche Länder. Von diesem osmotischen Prozess profitieren vor allem die reichen Länder, denn die Einwanderer sind jung und finanzieren mit ihrer Arbeit die Renten der Senioren.

Ohne Immigration würde die Schweizer Wirtschaft kollabieren, das weiss niemand besser als die SVP-Spitze um die Unternehmer Christoph Blocher, Peter Spuhler und Ueli Giezendanner, deren inter­national tätige Firmen ohne ausländische Märkte und Arbeitskräfte in kürzester Frist auf Grund laufen ­würden. Dass sie für eine neoliberale Wirtschaftsform ein­stehen, ist ihr gutes Recht. Hingegen mutet es geradezu ironisch an, dass die gleiche autoritäre Führerpartei, die sich wurzellosen, entfesselten Tur­bokapitalismus auf die Fahnen geschrieben hat, gleichzeitig das Monopol auf demokratische Bodenhaftung und heimatliche Verwurzelung beansprucht.

Denn es ist nicht die Immigration, die das Heimatgefühl bedroht, sondern der von seinen politischen Fesseln befreite Turbokapitalismus. In ihm sind die Menschen keine ortsgebundenen Citoyens mehr, ­sondern nur noch Arbeitskräfte, die der Wirtschaft möglichst jederzeit überall zur Verfügung zu stehen haben. Zu diesem Zweck wurde in den letzten Jahrzehnten das ganze Land mit einem dichten Netz von S-Bahnen und Autostrassen überzogen.

Noch vor zwanzig oder dreissig Jahren fanden die meisten Menschen Arbeit an ihrem Wohnort oder nicht weit entfernt davon. Heute entvölkern sich jeden Morgen ganze Landstriche, Heerscharen von Arbeitskräften fahren über Dutzende von Kilometern zu den Bürotürmen in den Städten, in denen sie meist keinen fassbaren Mehrwert, sondern eine sogenannte Dienstleistung erarbeiten.

Pendler sind keine aktiven Demokraten

Für die Menschen aber ist es nicht gut, wenn sie immer weitere Arbeitswege auf sich nehmen müssen. Für die Landschaft ist es nicht gut, wenn immer mehr anonyme Wohnsiedlungen auf die grüne Wiese gestellt werden. Und für die Demokratie ist es nicht gut, wenn immer mehr Arbeitsplätze in die Städte verlegt werden und die Landgemeinden zu Schlafdörfern verkommen.

Denn wenn die Bürgerinnen und Bürger ihre Tage nicht mehr dort verbringen, wo sie auch stimm- und wahlberechtigt sind, sind sie für eine föderalistische Demokratie verloren. Pendler sind keine aktiven Demokraten. Sie stehen nicht zur Verfügung, wenn ein neues Mitglied für die Schulkommission gesucht wird oder eine Kandidatin für den Gemeinderat. Sie haben keine Zeit und keine Wurzeln. Und keine Lust. Deswegen haben alle kleinen Gemeinwesen grösste Schwierigkeiten, ihre meist ehrenamtlichen politischen Ämter zu besetzen.

Auch kulturell führt die galoppierende Mobilität zur Verarmung weiter Teile des Landes. Wenn die jungen Leute aus der ganzen Deutschschweiz Wochen­ende für Wochenende mit ihren «Gleis 7»-Abos von den SBB zum Tanzen nach Zürich gefahren werden, sind sie für die Dorfchilbi verloren. Und wenn ihre ­Eltern immer gleich nach Basel oder Bern fahren, wenn sie ins Kino wollen, können die Kinos in Sissach oder Olten dann irgendwann mal zusperren. Für ein kleinräumig organisiertes Land wie die Schweiz kann nichts Gutes daraus entstehen, wenn dieser Konzentrationsprozess mit dem Bau immer neuer S-Bahnen und Autostrassen weiter vorangetrieben wird.

Mobilität ist ein Menschenrecht und eine gute ­Sache, aber sie geht auf Kosten von Verwurzelung und Heimatgefühl. Die mobilste Gesellschaft der Welt ist jene der USA, darin liegt ihr Charme und ihr Freiheitsversprechen; aber sie hält auch weltweit die höchsten Raten bei Kriminalität, Ehescheidungen, depressiven Erkrankungen und Suizid.

Was kann man tun? Was sollen wir unternehmen, um in Zeiten aufgezwungener Mobilität ein Heimatgefühl zu bewahren? Man sollte nicht naiv sein, gegen die Zwänge einer globalisierten Weltwirtschaft ist kein Kraut gewachsen. Und gerechterweise muss man zugeben, dass jede Erweiterung der Wirtschafts­räume die Effizienz gesteigert und Wohlstand geschaffen hat. Es ist unbestrittenermassen ein Segen, dass die globalisierte Warenwelt eine effiziente Grundversorgung mit Dingen sicherstellt, die keine Herkunftsbezeichnung brauchen.

Wahr ist aber auch, dass die Mobilität von Waren und Menschen real viel mehr Geld kostet, als wir ­heute dafür zu zahlen bereit sind. Die Differenz bezahlen die Steuerzahler und die Umwelt. Ewig wird das aber so nicht gehen. Wenn der Verkehr volkswirtschaftlich langfristig nützlich sein soll, müssen auch hier eine Vollkostenrechnung und das Verursacherprinzip gelten. Das wird zur Folge haben, dass Mobilität teurer wird. Dann wird es ökonomisch wieder sinnvoll werden, Arbeitsplätze auch auf dem Land anzusiedeln und nicht nur in den Städten. Und wenn die Arbeitsplätze erst dorthin zurückkehren, wo die Menschen leben, wird auch der Gemeinderat keine Rekrutierungsschwierigkeiten mehr haben und die jungen Leute werden wieder zur Dorfchilbi gehen.

Heimat bleibt lokal

Als Faustregel könnte gelten, dass der Arbeitsweg eines Einzelnen nicht täglich aus allen politischen Einheiten herausführen sollte, in denen er stimm- und wahlberechtigt ist. Weil aber die moderne Arbeitswelt sich kaum mehr in die engen, mittelalterlich-feudalen Kantons- und Gemeindegrenzen wird sperren lassen, wird die Schweiz nicht darum herumkommen, sich auch politisch weiträumiger zu organisieren. Kantone und Gemeinden werden in grosser Zahl fusionieren müssen, das ist eine Frage des demokratischen Überlebens. Es ist zu hoffen, dass der Anstoss dazu diesmal nicht von aussen kommen muss.

Auch im Global Village wird Heimat immer lokal sein. In einem «Starbucks»-Lokal oder einem «Mc­Donald’s» werden wir uns nie zu Hause fühlen, in der «Kunsthalle» oder in der «Rio-Bar» hingegen schon. Damit will ich nichts gegen das Global Vil-lage gesagt haben – wir müssen Microsoft nicht Baseldeutsch umschreiben, und Gelterkinden muss seine Mobiltelefone nicht selber herstellen. Und Gott sei Dank ist heute niemand mehr gezwungen, sein ganzes Leben im immergleichen Kuhdorf zu fristen. Für Lehr- und Wanderjahre steht uns die Welt offen.

Lokale Kultur statt globales Einerlei

Aber wenn wir wissen wollen, wer wir sind und wo wir zu Hause sind, müssen wir der Gravitation des Kapitalismus unsere lokale Kultur entgegenhalten. Nichts gegen Heineken, aber identitätsstiftend ist ­Ueli-Bier. Nichts gegen Hollywood, aber ich schaue mir tapfer jeden Schweizer Film an und bin glücklich, wenn ich Landschaften, Strassenzüge und Charaktere wiedererkenne. Nichts gegen Grass, Updike und García Lorca, aber ohne Schertenleib, Schneider und Lenz würde mir etwas fehlen. Nichts gegen kalifornischen Cabernet, aber ich kenne im Aargau einen Winzer, der ­einen leckeren Spätburgunder macht. Und am meisten rühren mir offen gestanden jene kulturelle Blüten ans Herz, die meiner Heimatstadt Olten entspringen, wo ich seit vierzig Jahren zu Hause bin.

Olten steht wegen seiner zentralen Lage hart im rauen Wind der Globalisierung, die Gravitation der grossen Zentren ist täglich spürbar. Traditionsreiche Firmen sind verschwunden, wurden geschlossen oder wegfusioniert. Viele meiner Freunde sind weggezogen, manche fahren wochentags bis nach Frankfurt oder Paris zur Arbeit. In letzter Zeit aber scheint mir, dass neu ein lokales Selbstbewusstsein aufblüht. Vor allem die jungen Leute sind nicht länger gewillt, ihr kulturelles Leben an die grossen Städte zu delegieren. Viele sind tagsüber in Basel oder Zürich an der Uni, aber abends kommen sie heim nach Olten und betreiben hier eine Lesebühne und einen Jazz-Keller. Oder machen eine Literaturzeitschrift. Oder ein Stadtmagazin. Oder eine Late-Night-Show.

Das ist eine Generation, die mit EasyJet schon überall gewesen ist, aber Wurzeln schlägt sie hier. Gerade weil ihr die Welt offensteht, empfindet sie keine Enge und drängt es sie weniger in die Ferne als noch die Generation ihrer Eltern, deren Kultlektüre «On the Road» war. Wenn junge Leute heute auswandern, tun sie das nicht aus Träumerei, sondern aus ganz pragmatischen Gründen. Aber tendenziell, so scheint mir, bleiben sie lieber daheim.

Das gibt Hoffnung auf einen neuen Heimatbegriff, der sich weder dem Diktat der Globalisierung beugt noch der neokonservativen Vereinnahmung, sondern seine Kraft aus der lokalen Lebensrealität bezieht; einen Heimatbegriff, der sich nicht als Abschottung gegen das Fremde definiert, sondern als charakteristischer Ausdruck des jeweiligen Orts und der Menschen, die in ihm wohnen; eine Heimat, deren Kultur sich nicht als Abfolge kommerzieller Events versteht und auch nicht als autistische Folklore, sondern als unverzichtbarer Bestandteil des Alltags aller Bewohner dieses Landes.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.09.12

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