Beim interaktiven Schweizer Thriller «Late Shift» führt das Publikum heute Abend (31.8.) selbst Regie. Wie das genau funktioniert und wie man die Abzweigung zum Happy End findet, erklärt der Basler Produzent Baptiste Planche.
Fünf Sekunden. Immer wieder fünf Sekunden Zeit, sich zu entscheiden: Mitschuldig an einem Überfall auf ein Londoner Auktionshaus werden oder zur Polizei gehen? Eine Komplizin verraten oder noch ein bisschen Folter ertragen?
Zwar sind es nicht die eigenen Finger, die in der Daumenschraube stecken, sondern die eines Schauspielers, dessen Handlung man wie in einem Videospiel steuern kann. Eineinhalb Stunden sitzt man beim ersten interaktiven Schweizer Film «Late Shift» auf Nadeln, dann wandert die Hauptfigur hinter Gitter. Und man fragt sich, wo die richtige Abzweigung zum Happy End gewesen wäre.
Der 41-jährige Prattler Baptiste Planche, Partner und Produzent der in Zürich ansässigen Filmproduktionsfirma &Söhne, weiss es. Sieben verschiedene Enden gibt es, mit allen möglichen Abstufungen von tot bis reich und glücklich verliebt. Auch für Entscheidungsschwache am Smartphone oder Tablet gibt es eine Filmversion, in der verstärkt das Zufallsprinzip spielt.
Der Thriller um einen Mathematikstudenten, der wider Willen in den Raub einer kostbaren chinesischen Keramik verwickelt wird, dreht sich um harte Entscheide. «Wir wollten ein Erlebnis zwischen Game und Film schaffen, eine multioptionale Geschichte, die mit filmischen Mitteln arbeitet und durch Entscheidungsdruck den Puls beschleunigt», sagt Baptiste Planche.
Schneller als das US-Fernsehen
Nach drei Jahren Entwicklungszeit ist die App-Version von «Late Shift» jetzt auf dem Markt, gerade rechtzeitig, um den grossen Playern ein Schnippchen zu schlagen. «Vor dem Zu-spät-Kommen hatten wir am meisten Angst», gesteht Planche, der das erste Spielfilmprojekt von &Söhne nicht nur produzierte, sondern auch die Start-up-Firma für die notwendige Technologie leitet: «Steven Soderbergh plant mit dem US-amerikanischen TV-Sender HBO für den Frühling ebenfalls etwas Interaktives.»
Perfektes Timing also für den Produzenten oder doch eher glückliche Fügung? «Es ist Zufall, dass ich überhaupt Filmproduzent geworden bin», sagt Planche freimütig, «wobei ich natürlich auch ein paar Entscheidungen getroffen habe.» Er hat Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaften studiert, seine Lizentiatsarbeit schloss er in Basel über Fussball und Integration ab.
Nach einem Praktikum im Büro von Adolf Ogi, der bis 2007 UNO-Sonderberater für «Sport im Dienst von Entwicklung und Frieden» war, organisierte Planche für das Basler Standortmarketing die Städtepartnerschaften mit Boston, Miami Beach und vor allem Schanghai. «Ich war zwar kein Chinaexperte, habe in dieser Zeit aber enorm viel gelernt. Das chinesische Element im Film kommt sicher von mir.»
Ohne Fördermittel
Da «Late Shift» als Produkt für ein internationales Publikum konzipiert wurde, war London als Drehort gesetzt. Das hatte nicht nur den Vorteil, aus einem grossen Pool begabter britischer Schauspielerinnen und Schauspieler schöpfen zu können, es brachte auch Schauwerte wie die Flugaufnahmen der englischen Metropole – und schonte überdies das knappe Budget: Obwohl SRG und Pro Helvetia einen Teil der Produktionskosten übernahmen, wurde «Late Shift» mehrheitlich mit privaten Investorengeldern finanziert. Konventionelle Filmfördermittel standen keine zur Verfügung, Planche macht dafür «zu grosse Skepsis» und einen Mangel an Innovationsfreude verantwortlich.
Immerhin an der Besetzung einer für die Handlung nicht unwesentlichen Nebenfigur lässt sich die Swissness von «Late Shift» ablesen: Joel Basman ist als Angestellter eines Londoner Auktionshauses zu sehen, welches das begehrte chinesische Reisschälchen versteigert. «Basman hat sehr schnell zugesagt, leider konnten wir ihm aber keine grössere Rolle geben. Ich hätte gerne mehr von ihm im Film gehabt», bedauert Planche.
Die Multioptionalität der Geschichte stellte die 42-tägigen Dreharbeiten vor besondere Herausforderungen: Jede einzelne Szene musste in verschiedenen Varianten gedreht, drei bis vier Mal so viel Material wie bei einem linear erzählten Spielfilm nachbearbeitet werden. «Wir hatten kein Drehbuch, sondern ein Flussdiagramm, in dem jede Szene mit einer Nummer versehen und mit anderen Sequenzen verlinkt war.»
«Late Shift» funktioniert auch in Kinos, wo die Handlung durch demokratische Mehrheitsentscheide gesteuert wird.
Mit einer eigens entwickelten Software werden die Übergänge zwischen den unzähligen Handlungssträngen geschmeidig gehalten: «Wenn es ruckelt, wird man aus der Geschichte herausgerissen», stellt Planche fest. «Wir aber wollten ein filmisches Erlebnis.» Diese Nahtlosigkeit wird für den kommerziellen Erfolg von «Late Shift» entscheidend sein, ist der Produzent überzeugt: In der Schnittmenge zwischen Kinogängern und Gamern sieht Planche eine «potenziell riesige» Zielgruppe.
Dabei kann der Film nicht nur individuell gesichtet werden, die Entwickler veranstalten – wie aktuell am Gässli Film Festival – auch Events in Kinosälen, bei denen die Handlung durch demokratische Mehrheitsentscheide gesteuert wird: «Bei der ersten Testvorführung haben sich die Leute ziemlich ausgetobt», lacht Planche. Die Vorführung für Medienschaffende hingegen steuerte zielstrebig auf das Happy End zu, was der Produzent in einem Gruppenentscheid so nicht für möglich gehalten hätte. «Man kann nicht immer auf das Kollektiv vertrauen, auch wenn es positive Überraschungen gibt», sagt der Produzent am Tag eins nach der Ablehnung der Durchsetzungsinitiative.
Die Moral von der Geschichte
So ergebnisoffen «Late Shift» wirkt, kommt die Unterhaltung doch nicht ohne ethische Leitplanken aus. «Bei Videogames kann man ja bedenkenlos Pixel töten, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen», erklärt Planche. «Umso glücklicher bin ich, dass wir uns inhaltlich etwas überlegt haben. Wer berechnend oder gewalttätig reagiert, landet im Elend.» Wer dagegen Vertrauen fasse und auch einmal etwas wage, könne es zu einem guten Ende bringen.
«Du bist Deine Entscheidungen», lautet der Untertitel zu «Late Shift». Planches nächster Zug wird vom Erfolg von «Late Shift» abhängen. «Ich finde die Mitarbeit in einem solchen kreativen Prozess extrem spannend und hätte Lust auf eine Romantic Comedy: Eine Frau-Mann-Beziehungskiste im Stil von Woody Allen, das wäre toll.»
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Screening «Late Shift» von Thomas Weber, Stadtkino, 20.30 Uhr.
Die iOS-App für «Late Shift – Your Decisions Are You» ist im AppStore erhältlich.