Illusion und Realität sind eins

Trotz Sympathien für die Figur seines neuen Romans: Mit einem Henker würde der Allschwiler Autor Claude Cueni nicht zusammenleben wollen. Der Römer und der Gauner aber gehören fest zur Familie.

Claude Cueni stürzte sich für einen Roman in eine Römer-Rüstung und passierte zu Fuss den Hauenstein. (Bild: zVg)

Trotz Sympathien für die Figur seines neuen Romans: Mit einem Henker würde der Allschwiler Autor Claude Cueni nicht zusammenleben wollen. Der Römer und der Gauner aber gehören fest zur Familie.

Die Romanfiguren leben mit ihm wie Familienmitglieder. Ein Römer mit Rüstung und Sandalen steht lebensgross in seinem Büro. Claude Cueni trug die Rüstung einst selber, um sich in einen Römer zu versetzen, während er zu Fuss den Hauenstein überquerte. Der schottische Bankier und Gauner John Law sitzt mit Perücke und Seidengewand im Wohnzimmer am Fenster, von wo aus er das Tram zu beobachten scheint. Er ist Protagonist im Bestseller «Das grosse Spiel».

«Ich hätte das Buch nicht schreiben können, wäre John Law nicht hier», sagt Cueni. Neben ihm liegt ein iPad, moderne Kunst hängt an der Wand, mit Marilyn Monroe als Motiv. Die Epochen geraten durcheinander bei Cueni und seiner Frau in Allschwil, die Vergangenheit gehört zur Gegenwart – genauso wie die Zukunft, über die Cueni mehr zu wissen scheint als jemand, der nur das Jetzt kennt, aber dazu später. Reisen wir zuerst in die Kindheit des 56-Jährigen.

Beste Bilder entstehen im Kopf

Claude Cuenis Onkel, ein Priester, schenkt dem Buben zwei Elastolin-Figuren. Es sind Römer mit Trompete und Trommel. Cueni spielt ständig mit den winzigen Figuren, erfindet Geschichten, die oft in Schlägereien enden. Wenn der Onkel predigt und der Bub im Kreis der Familie zuhören muss, bewundert er die Fresken mit den Legionären, die Jesus ans Kreuz nageln – und spinnt Geschichten rund um die Szenen, die er an den Kirchenwänden sieht. Die Illusion wird Teil seiner Wirklichkeit. Bald entsteht daraus ein Berufswunsch: Claude Cueni will sein Geld einmal mit Geschichtenerzählen verdienen.

Als Schüler fällt ihm das Buch über den Seefahrer Robinson in die Hände. «Ich war enttäuscht, dass es darin keine Bilder gab, fing aber trotzdem an zu lesen.» Die Enttäuschung verflog rasch, denn Cueni merkte, was er eigentlich schon wusste: «Im Kopf entstehen die besten Bilder.» Robinson begleitet ihn heute noch, Cueni träumt von ihm. «Im Traum verkauft er Orangen.» Illusion und Wirklichkeit sind für Cueni gleichwertig.

Das Jetzt als Lebensphilosophie

Auf dem Tisch in Allschwil liegt ein Exemplar von Cuenis neuem Buch «Der Henker von Paris» neben dem iPad. Es handelt von einem Mann, der Arzt werden wollte, aber zum Henker wurde, weil es die Familientradition erforderte. Es dauerte einige Jahre, bis Cueni seine historischen Stoffe so erzählte, dass die Verlage die Geschichten druckten. Er lernte, dass es einen roten Faden braucht und eine Hauptfigur, die dem Leser ans Herz wächst. Um seine Familie über Wasser zu halten, schrieb er Drehbücher für TV-Krimis und entwickelte Computerspiele wie das Aids-Präventions-Spiel «Catch the Sperm».

Der Kampf hat sich gelohnt: das ­Abhauen aus dem konservativen ­Elternhaus, die Jobs beim Strafgericht, bei Coop, als Zeitungsver­träger. Das Geld brauchte er für Kinoeintritte, die Erfahrung diente später als Recherche für die Bücher. Der Tod spielte dabei immer nur in der Illusion eine Rolle.

Bis seine erste Frau und Mutter ­seines Sohnes an Krebs starb. Cueni legte die Arbeiten zum «Henker von Paris» zur Seite, zog mit dem Sohn nach Hongkong, sprach mit den Menschen dort über den Tod seiner Frau – und wurde mit einer Lebensphilo­sophie konfrontiert, die er übernahm. Sinngemäss lautet sie: «Lebe im Jetzt.» Dieses Jetzt veränderte sich schlag­artig, als bei ihm selber Krebs diagnostiziert wurde. Inzwischen ist die Leukämie nicht mehr nachweisbar, doch die Lunge leidet, Cueni ist schwer krank.

«Ich bin noch nicht so weit»

Die Arbeiten an seinen Büchern, das Leben in fiktiven Welten, das Begreifen der Zusammenhänge helfen ihm, sich nicht selber aufzugeben. Die Prog­nose für die Zukunft von uns allen aber ist düster: «Europa wird sinken, grenzenlose Toleranz war immer schon der Beginn des Untergangs», sagt er. Die Menschen würden den Rechtsstaat nicht mehr pflegen, weil er selbstverständlich geworden sei. Und was das Geld betreffe: «Auch die Römer haben andere Völker mit Geld besänftigt – und scheiterten damit.»

Eine Figur fehlt in der Wohnung von Claude Cueni: Der Henker ist ­nirgends zu sehen, nur ein Miniaturnachbau von dessen Guillotine, unter der mehr als 3000 Menschen starben. «Ich möchte nicht jeden Morgen sagen müssen: Entschuldigen Sie, aber ich bin noch nicht so weit», sagt Cueni. Die Zukunft beginnt früh genug.

Claude Cueni: Der Henker von Paris, Lenos, Fr. 28.50, ISBN 978 3 85787 433 8

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.02.13

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