Im Darkroom der exklusiven Liebe

Wer seinen Lebenssinn in Beziehungen sucht, die auf romantische Kontinuität bauen, und auf jahrelanges Knistern hofft, kann hart auf dem Boden der Realität landen. Doch es gibt erfüllende Alternativen.

Wer seinen Lebenssinn in Beziehungen sucht, die auf romantische Kontinuität bauen, und auf jahrelanges Knistern hofft, kann hart auf dem Boden der Realität landen. Doch es gibt erfüllende Alternativen.

Dominique Zimmermann

Freundschaften und Liebesbeziehungen geben unserem Leben einen besonderen Sinn: Durch sie erleben wir, dass wir soziale Wesen sind und ein Bedürfnis nach Austausch und sinnlicher Nähe haben. Wie Beziehungen gestaltet werden, ist jedoch kulturell bedingt ganz verschieden.

Wenn sich erotische Liebe nicht exklusiv auf eine einzige Person konzentriert, führt das, je nachdem, wo wir leben und in welcher Position wir uns befinden, zu Irritation, Ächtung oder gar Bestrafung. Gleichzeitig machen immer mehr Menschen die Erfahrung, dass es schwieriger geworden ist, strikt monogam zu leben.

Mittlerweile finden wir auch in seriösen Frauenzeitschriften die scheue Aussage, dass Untreue nicht zwingend daneben sei und das Ende einer Beziehung bedeuten müsse.

Die Frage nach einem adäquaten Beziehungs-, Liebes- und Sexleben musste sich früher oder später aufdrängen; heutige Lebensentwürfe bauen nicht mehr wie einst auf Kontinuität. Unsere Biografien sind geprägt von steten Veränderungen und Entscheidungsvielfalt.

Romantische Ehe

In der entflammten Polyamorie-Debatte wird diskutiert, wie sinnvoll und realistisch die in die Jahre gekommene Idee einer romantischen Zweierbeziehung heute noch ist. Die romantische Ehe, in Europa erstmals umgesetzt in der Oberschicht der Neuzeit, verspricht die Erfüllung einiger menschlicher Grundbedürfnisse – etwa sich in einer «gros­sen Liebe» dauerbefriedigt in Sicherheit zu wähnen.

Neben den vielen täglichen Entscheidungen, die wir fällen müssen, sind das Bedürfnis nach Konstanz in Beziehungen und der Wunsch, mit all unseren Marotten geliebt zu werden, durchaus verständlich. Die hohe Zahl an heimlich geführten Zweitbeziehungen, gescheiterten Ehen und «serieller Monogamie» weist jedoch darauf hin, dass die Exklusivität in vielen Fällen nicht wie geplant gelingt. Die Realität des gelebten Romeo-und-Julia-Modells ist auch ohne vorzeitiges Ableben der Protagonisten oft von Zweifeln und Nöten begleitet. Ausgerechnet in dem Bereich, wo so viel Erfüllung gesucht wird, ist so viel Elend anzutreffen.

Maximal drei Jahre

Unzählige Paartherapie-Angebote versuchen, dem zur Ödnis verkommenen Darkroom der Zweierkiste neues Leben einzuhauchen. Was hier kritischer hinterfragt werden könnte, ist die Annahme, dass sich zwei Menschen langfristig exklusiv begehren können und sollen. Wenn alles nichts hilft und vieles probiert wurde, drängt sich bei den verzweifelten Romantikern die Vermutung auf, dass halt einfach doch noch nicht die passende Liebe gefunden wurde und eine andere Beziehung kein Gefühl der Ernüchterung entstehen liesse. Wie der Philosoph Richard David Precht in seinem Vortrag «Liebe in Zeiten der Krise» betont, hält Verliebtheit jedoch maximal etwa drei Jahre an – danach sollte sie auch wieder abklingen, ansonsten würden wir verblöden.

 

Sexuelle Spielarten kultivieren und lieben kann man langfristig, wenn man liebesfähig und lernbereit ist. Aber die Qualität von Liebe unterscheidet sich von jener der Verliebtheit. Auf «Wolke 7» wird, von Hormonschüben gedopt, die Begehrens- und Projektionsmaschine angeworfen. Konservierbar sind diese Gefühle nicht. Die Unterstellung, dass Menschen von Natur aus monogam begehren und am besten unter geleistetem Schwur auf das Bedürfnis nach erotischer Nähe mit anderen verzichten, wird nicht in allen Kulturen gleichermassen vermittelt.

Die Leere, die entsteht, wenn wir uns Lebendigkeit dort erhoffen, wo ein auferlegtes Verbot zur strikten Kanalisierung unserer Gefühle und unseres Begehrens zwingt, ist vernichtend und kann leicht in ein Suchtverhalten münden: Der wiederholte K(l)ick am Bildschirm oder die Abreaktion im Konsum von Pornos befriedigt das Bedürfnis nach Begegnung überhaupt nicht.

Alles oder nichts

Obwohl Isolation und Gewalt in Intimbeziehungen keine Seltenheit sind, gelten Singles nach wie vor als einsam und Polys wecken mehr Skepsis als andere «Abweichler»: Unverbindlichkeit, Egoismus oder Liebesunfähigkeit sind einige der Verdächtigungen, die in der Annahme gipfeln, dass das doch sowieso nicht gut gehen kann. Wer sich jedoch in Standardwerken wie etwa «The Ethical Slut» schlau macht, wird einsehen, dass gerade bei offen liebenden Menschen hohe ethische Ansprüche und die Bereitschaft anzutreffen sind, sich selber und die Beziehungen authentisch zu geniessen, zu reflektieren und falls nötig zu verändern. Diese Haltung wird weniger zu abrupten Wendungen führen als bei einem Alles-oder-Nichts-­Modell, da es um eine umfassendere, aber offene Form von Liebe geht, ohne Besitzansprüche.

Nicht nur für Sex, sondern für Beziehungen generell gilt: Wo ein Nein möglich ist, kann es auch ein klares Ja geben. Inbegriff von Lebendigkeit sind nebst Lust und Erotik generell Begegnungen mit Menschen, die eine ähnliche Wellenlänge haben – also Freundschaften oder gute Arbeits- und Freizeitbeziehungen. Erotische Energien sind nicht mechanisch erzeugbar, sondern bilden sich in einem komplexen Konglomerat von Stimulationen auf ganz verschiedenen Ebenen: geistig, emotional und physisch. Wie und ob diese Ebenen in Balance sind, hängt auch davon ab, was das Leben gerade an uns heranträgt. Schliesslich sind wir immer Akteure in einem Film mit diversen Darstellern: Ob sich ein Thriller, ein erotischer Roadmovie oder eine oberflächliche Seifenoper ergibt, bestimmen wir zwar mit, aber nicht allein.

Was schon im 20. Jahrhundert unter dem Stichwort «freie Liebe» diskutiert wurde, erfährt als Polyamorie neuerdings eine Präzisierung und Erweiterung, da es nicht nur um geteilte Sexualitäten geht, sondern auch um Liebe und Achtsamkeit. Das monogame Menschenbild wird radikal hinterfragt, exklusive Beziehungen werden aber nicht durchwegs abgelehnt. Es geht um die Forderung, Beziehungsformen zu verhandeln, und nicht einfach an das, was uns das Kino und die Medien vermitteln, zu glauben.

Dann beginnt der Streit

Im Fokus ist eine verspielte Lebenshaltung, die sich auch auf unsere Arbeit und unsere Sorgsamkeit uns selber gegenüber übertragen lässt. Die an der Norm orientierten Beziehungen treffen oft keine Abmachungen, da davon ausgegangen wird, dass allen Beteiligten sowieso klar ist, was recht und schlecht ist. Erst wenn vermeintliche Übereinkünfte gestört werden, beginnt die Diskussion – und oft auch der Streit. Die Debatte fordert uns auf, in individuellen Varianten einen Konsens zu finden und unser Bedürfnis nach Lebendigkeit und Offenheit nicht einer unrealistischen Beziehungsidee zu opfern.

Für Mehrfachbeziehungen gilt ebenso wie für das Leben generell: Manchmal scheitern wir, dann wieder glückt das, was wir für unmöglich hielten. Kein Leben ist immer schön, gut und lustig. Sinn erschliesst sich aus dem Erleben und Erlebten selbst und den daraus folgenden Lebensgeschichten. Der Protagonist in Robert Musils «Amsel» sagt es so: «Wenn ich den Sinn wüsste, so bräuchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen.» Sinn wird nicht einfach gefunden, sondern wird von uns und insbesondere von jenen, die den Mut zu revidierten Lebens- und Liebesentwürfen aufbringen, immer wieder neu erzeugt.

Dossie Easton and Janet W. Hardy: «The Ethical Slut. A Practical Guide to Polyamory, Open Relationships & Other Adventures», Berkeley, California 1997.

Dominique Zimmermann (40) ist Philosophin und Autorin. Sie lebt in Basel. Gemeinsam mit Co-Autor Imre Hofmann verfasste sie das Buch «Die andere Beziehung. Polyamorie und philosophische Praxis» (Schmetterling-Verlag 2012).

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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