Im freien Fall Geschichte schreiben

Fallschirmspringen ist vielleicht nicht die angemessene Bezeichnung für das, was der Österreicher Felix Baumgartner vorhat.

 

1998: Felix Baumgartner springt von der Drachenwand am Mondsee. (Bild: Ulrich Grill/Red Bull Content Pool)

Fallschirmspringen ist vielleicht nicht die angemessene Bezeichnung für das, was der Österreicher Felix Baumgartner vorhat.

Was geht in einem Menschen vor, der mit einem Ballon in die Stratosphäre schweben will? Der aus 36 576 Metern Höhe abspringen und im freien Fall die Schallmauer durchbrechen möchte? Was ist das für ein Typ? Einer, der um jeden Preis Aufmerksamkeit erregen will? Ein Adrenalinjunkie? Ein Mann mit Todessehnsucht?

Felix Baumgartner sitzt in einem Raum im Hangar 7, einem futuristisch anmutenden Glaspalast in Salzburg für die Flugzeuge, Hubschrauber und Rennautos seines Geldgebers Dietrich Mateschitz, und präsentiert sich als Mister Super-Cool. Braun­gebrannt, weit offener Hemdkragen, eine protzige Flieger-Uhr am Hand­gelenk. Die Wände in seinem Büro im Untergeschoss sind voll mit Bildern von all den spektakulären Stunts, die der 43-jährige Basejumper bereits er- und überlebt hat: den Sprung von den Petronas-Towers, den Flug über den Ärmelkanal, den Sprung von der Christus-Statue in Rio.

«Ich liebe das Leben»,
sagt der Mann, der vor
keinem Risiko zurück schreckt

«Die Angst ist mein Freund geworden. Sie hilft mir, nicht zu viel zu riskieren», sagt Baumgartner in einem Anflug von Pathos und öffnet sich ­demonstrativ eine Dose Red Bull. Auf den ersten Eindruck erfüllt dieser ­Felix Baumgartner sämtliche Klischees vom mediengeilen, sensationssüchtigen Verrückten, der um alles in der Welt zeigen möchte, dass er der Allerbeste ist. Das ist ein Irrtum.

Fünf Minuten im freien Fall

Natürlich, der Drang, in neue Dimensionen vorzudringen und mit riskanten Aktionen Aufmerksamkeit zu erregen, mag eine Antriebsfeder des Salzburger Extremsportlers sein. Weit grösser als die Sehnsucht nach dem ultimativen Kick ist bei diesem Grenzgänger allerdings die Lebensfreude ausgeprägt. «Ich liebe das Leben», sagt Baumgartner, der am 8. Oktober über New Mexiko mehr als fünf Minuten lang im freien Fall zur Erde rasen will. «Die Herausforderung ist, das Risiko zu minimieren. Ich bin keiner, der sich unnötigen ­Gefahren aussetzt.» Wegen seiner Akribie bei den Planungen und dem Mut, auch einmal Nein zu sagen, habe er all die Jahre als Basejumper überlebt. «Ich habe schon viele Leute sterben sehen.»

Der Sprung im Netz und im TV

Wenn Felix Baumgartner seinen Sprung wagt, kann das live in einem Videostream auf www.redbullstratos.com verfolgt werden. Ebenso im Fernsehen auf Servus TV und bei www.servustv.com/stratos.

Seit fünf Jahren arbeitet Baumgartner am Projekt Stratos, seiner letzten Mission. «Es gibt danach nichts mehr, was zu toppen wäre. Ich bin schon von den höchsten Gebäuden der Welt gesprungen. Das ist jetzt mein Lebensprojekt», sagt er. Eine Heerschar von Spezialisten, viele von ihnen ehemalige Mitarbeiter der Nasa, hat Felix Baumgartner in den USA um sich versammelt. Tech­niker, Ärzte, Meteorologen – und auch Joe Kittinger, den bisherigen Welt­rekordhalter, der vor 52 Jahren aus ­einer Höhe von 31  332 Metern ­abgesprungen ist. Sponsor Red Bull, der jährlich eine halbe Milliarde Euro ins Sportmarketing steckt, zeigt sich ­äusserst spendabel bei der Finanzierung des spektakulären Jungfern­fluges in Überschallgeschwindigkeit.

Mit Raumfahrt-Technologie

Für seinen Sprung aus der Stratosphäre wird für Felix Baumgartner das technische Equipment zur Lebensversicherung. Bei seinem dreistündigen Aufstieg in 36 Kilometer Höhe wird der Österreicher von einem Heliumballon gezogen, einem Prototyp, 850 000 Kubikmeter gross, die rissfeste Haut des Ballons ist zehn Mal dünner als ein gewöhnlicher Gefrierbeutel.

Baumgartner selbst befindet sich während des Aufstiegs in einer engen Kapsel samt einem Käfig aus Chrom-Molybdän, einem Material, das aufgrund seiner Widerstandskraft und Stärke häufig im Rennsport und in der Raumfahrt eingesetzt wird. Die Kapsel, die eigens für das Projekt Stratos gebaut wurde, dient Baumgartner als Schutz vor den ex­tremen Bedingungen in der Stratosphäre, in der Temperaturen von bis zu minus 56 Grad, ein niedriger Sauerstoffgehalt und ein geringer Luftdruck herrschen. Das menschliche Blut könnte bei diesen Bedingungen zu kochen beginnen, andererseits könnte Baumgartner auch erfrieren.

Bei den ersten Versuchen kostete es den Extremsportler grosse Überwindung, in die Kapsel zu steigen: Der Mann, der sonst vor nichts Angst zu haben scheint, litt in dieser engen Umgebung tatsächlich unter Platzangst.

Wie ein Tiger im Käfig

Mittlerweile hat sich Baumgartner an die Bedingungen in der engen Überlebenskapsel gewöhnt. Und die Experten können auf die ersten Erfahrungswerte zurückgreifen. Ein Testsprung im Sommer aus 29 Kilometern Höhe verlief nahezu reibungslos, deshalb gab Projektleiter Art Thompson auch grünes Licht für einen Start am 8. Oktober. «Der Frühherbst ist in New Mexiko eine der besten Zeiten, um Stratosphären-Ballone wie diesen zu starten», erklärt Don Day, der Meteorologe der Mission. Allerdings musste der Sprung wegen zu starker Winde auf mehrfach verschoben worden.

Felix Baumgartner selbst kann es nicht mehr erwarten, abzuheben und schliesslich abzuspringen. «Ich fühle mich wie ein Tiger im Käfig, der ­darauf wartet, freigelassen zu werden», sagt er, «für mich gibt es keine grössere Herausforderung als jene, als erster Mensch in der Geschichte im freien Fall Überschallgeschwindigkeit zu erreichen.»

Baumgartner sieht sich
als «Crash-Test-Dummy»

Eine der grössten Gefahren lauert dabei unmittelbar nach dem Absprung aus 36 Kilometern Höhe. Denn in der ersten Flugphase wird Baumgartner wegen des geringen Widerstandes wild durch die Luft gewirbelt, dabei könnte er bewusstlos werden oder im schlimmsten Fall sogar Augen- und Hirnblutungen erleiden. Baumgartner vertraut auf seine Erfahrung als Fallschirmspringer. «Meine 2500 Sprünge sollten mir helfen, um in die richtige Position zu kommen», glaubt er.

Doch auch das Durchbrechen der Schallmauer (1062 km/h) birgt Risiken. «Wir wissen nicht, welche Auswirkungen der Prozess des Übergangs von Unterschallgeschwindigkeit zu Überschallgeschwindigkeit und zurück auf den Körper haben wird», sagt Baumgartner, der erst 4000 Meter über der Erde seinen Fallschirm öffnen wird. Die Experten fürchten vor allem die Druckwellen, denen der Extremsportler ausgesetzt sein könnte. «Ich will diese Geschichte überleben», sagt der 43-Jährige.

Der Sprung für die Rekordbücher

Am Ende will Felix Baumgartner mit dem Projekt Stratos gleich vier Mal in die Rekordbücher Eingang finden: Mit dem höchsten bemannten Ballonflug (36 576 Meter), mit dem höchsten Fallschirmsprung, dem längsten freien Fall (5:30 Minuten) und dem Durchbrechen der Schallmauer. Er selbst sieht sich dabei weniger als Actionheld, sondern vielmehr als Pionier und Crash-Test-Dummy für die Zukunft der Raumfahrt und Menschheit.

«Wenn wir zeigen, dass ein Mensch in der Stratosphäre die Schallmauer durchbrechen und anschliessend wieder sicher auf der Erde landen kann», sagt er, «wäre das ein wichtiger Beitrag zur Schaffung von Rettungsmassnahmen im erdnahen Bereich, die es so noch nicht gibt.»

 

Das Vorbild

Um die Wartezeit bis zu Baumgartners Sprung zu verkürzen, zeigen wir hier den letzten Sprung von Joseph Kittinger, heute Berater von Felix Baumgartner:

 

Bei seinem letzten Sprung im Rahmen von Excelsior am 16. August 1960 aus einer Höhe von 31’332 Metern stellte er drei Weltrekorde auf, die bisher nicht übertroffen wurden: Höchste Ballonfahrt mit offener Gondel, höchste Geschwindigkeit eines Menschen ohne besondere Schutzhülle und längster Fallschirmsprung.

Felix Baumgartner hat es in seinem Leben schon weit gebracht. Sogar bis auf das Cover eines Schulbuches. Mit Stolz stöbert der gelernte KFZ-Mechaniker in seinem riesigen Archiv aus Zeitungsausschnitten und Pressefotos. Das berühmte Bild, als er 1999 von der Christusstatue in Rio sprang, können heute österreichische Kinder im Religionsunterricht bestaunen. «Das ist cool und mir fast mehr wert als eine Titelseite im Rolling Stone Magazin», sagt der 43-jährige Salzburger.

1996 absolvierte der ausgebildete Fallschirmspringer Baumgartner in den USA seinen ersten Basejump. Mittlerweile ist er von den wichtigsten Gebäuden der Welt gesprungen, meist illegal, denn der Österreicher hatte nur in den seltesten Fällen tatsächlich eine Starterlaubnis. 2004 sass er deshalb nach einem Sprung in Panama für kurze Zeit sogar im Gefängnis. Die Petronas Towers in Kuala Lumpur (1999) hat Baumgartner ebenso auf seiner Absprungliste wie Taipeh 101, das höchste Gebäude des asiatischen Landes (2007).

Ein spektakuläres Highlight seiner Karriere als Extremsportler war der Flug im freien Fall über den Ärmelkanal: Baumgartner sprang mit einem Spezial-Flügel aus Carbon in 9800 Metern Höhe aus einem Flugzeug ab und flog mit 360 km/h in sechseinhalb Minuten über den Ärmelkanal. Projekt Stratos ist nun der Höhepunkt und Abschluss seiner Karriere als Extremsportler. In Zukunft will Felix Baumgartner als Hubschrauberpilot tätig sein.

www.felixbaumgartner.com
www.redbullstratos.com

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.10.12

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