Der Berner Schriftsteller Michael Fehr ist beinahe blind. Seine Texte diktiert er in ein Aufnahmegerät und kreiert so eine Prosa mit lyrischem Anklang. Dass sich einige Leser damit schwertun, ist ihm egal, er plädiert für eine Literatur ohne Erklärungszwang.
Michael Fehr erwartet uns am Bahnhof. Tadellos gekleidet – Anzug, feine Schuhe – und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, so als würde ihn das Gewusel um ihn herum leicht amüsieren. Er begrüsst uns freundlich und steuert zielstrebig durch die Menschen und engen Torbögen Berns einem ruhigen Café zu. Setzt sich, bestellt eine Schale und blickt mit hellblauen Augen über den Tisch.
Michael Fehr ist Schriftsteller. Sein zweites Buch «Simeliberg» (2015) erhielt positive Kritiken und darf mit über 4000 verkauften Exemplaren bereits als Bestseller bezeichnet werden. Ein erstaunlicher Erfolg für ein Werk, das in keine Gattungsschublade passt. Fehr stapelt Sätze, manchmal nur einzelne Wörter übereinander und entwickelt damit eine Prosa mit lyrischem Anklang. Ungewöhnlich. Doch Gewöhnlichkeit ist ohnehin nicht die Sache des 33-Jährigen.
Gespür für Konturen
Der Berner leidet an einer angeborenen Sehbehinderung, der sogenannten juvenilen Makuladegeneration. Er ist beinahe blind, seine visuelle Sinneswahrnehmung beschränkt sich auf Schemen, Farben, Ahnungen. Scharfe Konturen kennt er trotzdem, denn auch Worte haben Ecken und Kanten. Und an denen schleift Fehr mittels eines eigens für ihn entwickelten Aufnahmegeräts. Tausende von Tondokumenten kommen auf diese Weise zusammen, längere Textfragmente oder manchmal auch nur einzelne Wörter, die auseinandergenommen und zusammengefügt werden, bis aus den Teilen ein Ganzes entsteht.
Im «Kulturplatz» von SRF lässt sich diese Technik in der Anfangssequenz nachvollziehen:
Als Kind hat Fehr rasch gemerkt, dass seine Welt eine andere ist als die der übrigen Kinder. Wirklich gestört hat ihn das anfangs aber nicht, wie er anhand einer Erinnerung aus dem Kindergarten erzählt. «Wenn wir marmorierten, dann malten die anderen Kinder ein Bild. Für mich bedeutete Marmorieren halt eher diese Malbewegung, aber das Resultat war dasselbe.» Erst in der Schule sei das dann anders geworden, «weil es dann losging mit der Effizienz».
Wenn Fehr Massstäben genügen muss, stösst er durch seine Sehbehinderung an Grenzen. Ein Studium in Wirtschaft und Recht musste er abbrechen, weil der Lesestoff schlicht nicht zu bewältigen war. Ohnehin wäre er damals viel lieber Perkussionist geworden, aber er spielte zu wenig schnell, zu wenig präzis. «Ich bin kein Virtuose in den Systemen von anderen», sagt er heute.
Fehr spricht langsam und wählt seine Worte mit Bedacht. Beim Reden hält er manchmal die Augen geschlossen, ganz so, also wolle er in sich hineinhorchen. Er habe einen klar vorgezeichneten künstlerischen Weg, sagt Fehr bestimmt. «Das heisst nicht, dass ich weiss, wo er hinführt. Aber ich weiss, ob ich darauf bin oder daneben.»
Man darf gespannt sein, wohin dieser Weg den Künstler Michael Fehr führen wird.
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Michael Fehr: Simeliberg. Verlag der gesunde Menschenversand («Der beste Verlag der Welt, weil es immer um Sprache und erst ganz zum Schluss ums Geschäft geht.» O-Ton Fehr). Hardcover, 144 Seiten, 27 Franken.
Sehen Sie auch die Besprechung von Michael Fehrs «Simeliberg» im Literaturclub vom 12. Mai 2015 (ab Minute 1.15):