Dienstagmorgen im Kindergarten am Nonnenweg 32 der Primarschule Isaak Iselin. Drei Knaben und ein Mädchen im Alter zwischen vier oder fünf Jahren sitzen im Kreis auf dem Boden. «Was hast du gerne?», fragt die Lehrerin den Jungen im Spiderman-Shirt. Er zögert. «Ich habe gerne Schwimmen», sagt er schliesslich. Nicola Döpke, die Lehrerin, korrigiert: «Ich schwimme gerne, heisst es. Wiederhole!» Der Junge wiederholt den Satz.
Später zeigt Döpke auf ein Bild mit Glace. «Wisst ihr, was das ist?» Die Kinder sprechen zu Hause Albanisch, Spanisch oder Türkisch. Sie wissen nicht, wie das heisst, was ihnen die Lehrerin zeigt. Also schütteln sie den Kopf.
Im Raum ist es unruhig. Immer wieder kichern die Kleinen, fallen der Lehrerin ins Wort, stehen plötzlich auf – Kinder halt. Döpke lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Höchste Konzentration ist gefragt.
Die vier Kinder absolvieren gerade zwei Lektionen «Deutsch als Zweitsprache» (DaZ). Während der normalen Kindergartenzeit haben sie einzeln oder in Gruppen intensiven Deutschunterricht. Das Förderangebot richtet sich an Schüler, die sehr wenig oder gar kein Deutsch sprechen.
Mehr Expat-Kinder in den Staatsschulen
Die frühe Deutschförderung wird immer essenzieller in Basel-Stadt. Im vergangenen Jahr lag der Anteil Kinder, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, in den Basler Kindergärten bei 51,5 Prozent (ohne Riehen und Bettingen). Das sind 1387 gegenüber 1305 Kindern, die mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen, wie aus der Schülerstatistik hervorgeht.
An den Primarschulen der Stadt Basel ist die Quote noch höher als in den Kindergärten: 2017 hatten 54,4 Prozent der Schüler eine andere Muttersprache als Deutsch. Das sind 4081 Kinder, während in der Statistik noch 3421 Primarschulkinder mit Deutsch als Muttersprache erfasst sind.
In Basel hat es schon Lange Klassen gegeben, in denen fremdsprachige Kinder in der Überzahl waren. Doch bislang machte sich dies nicht derart bemerkbar in der Statistik. Kinder mit Deutsch als Muttersprache waren in der Überzahl. Mittlerweile ist es umgekehrt.
Wie ist es dazu gekommen? Dieter Baur, Leiter der Basler Volksschulen, führt den Wandel nicht nur auf die soziokulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung zurück. «Wir stellen zum Beispiel auch fest, dass immer mehr Expats ihre Kinder in die Staatsschulen schicken», sagt er. Manche Firmen würden eben nicht mehr für die Kosten der International School aufkommen. Doch die regulären Basler Schulen genössen bei den Expats auch vermehrt einen guten Ruf.
Für die Lehrerinnen und Lehrer ist es nicht ganz einfach, wenn immer weniger Kinder mit Deutsch aufwachsen. «Die Sprache bildet die Basis zum Lernen», so Baur. «Darum sind fehlende oder schlechte Sprachkenntnisse ein Hindernisgrund – auch in allen anderen Fächern.» Die Entwicklung bedeute daher auch, dass die Sprachförderung heute in allen Fächern stattfinden müsse. «Da sind die Lehrerpersonen gefordert – und sie stellen sich dieser Herausforderung.»
40 Prozent müssen ins Deutschobligatorium
Diese Sprachförderung, die Baur erwähnt, beginnt in Basel früh. Sehr früh. Als einziger Kanton in der Deutschschweiz kennt Basel-Stadt eine obligatorische Deutschförderung vor dem Kindergarten. Seit 2013 müssen fremdsprachige Kinder ein Jahr vor dem Kindergarten-Eintritt Deutsch lernen.
Die Eltern erhalten anderthalb Jahre vor dem Eintritt in den Kindergarten einen Fragebogen nach Hause geschickt, der die Kinder erfasst und einstuft. Den Fragebogen entwickelt hat die Universität Basel und es gibt ihn in zwölf Sprachen. Anhand der Kreuze der Eltern wird ausgewertet, wie gut das Kind Deutsch kann. Die Eltern erhalten dann Bescheid, ob das Kind zum Deutschlernen verpflichtet wird.
Das Lernen findet schliesslich an zwei halben Tagen in einer Sprachspielgruppe, in der Tagi oder in anderen Institutionen statt. Der Kanton übernimmt die Kosten. Pro Jahr und Kind sind das 3568 Franken und 50 Rappen.
Erreicht das Angebot alle Kinder?
Wie wichtig das Angebot ist, zeigt die Statistik: Im Schuljahr 2017/2018 wurden 40 Prozent der Basler Kinder zum Deutschlernen verpflichtet – so viele wie noch nie zuvor. Doch es gibt auch Kritik am Obligatorium. So funktioniert das System im Klybeck-Quartier offenbar längst nicht immer. Aus der Schulleitung der Primarschule Insel im Klybeck ist zu vernehmen: Der Kanton erreiche nicht alle Kinder. Manche Eltern würden den Fragebogen wohl falsch ausfüllen.
Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen deutsch- und fremdsprachigen Kindern in manchen Spielgruppen extrem unausgewogen ist. Es gibt Spielgruppen, die praktisch ausschliesslich von Kindern mit Obligatorium besucht werden. In den beiden Spielgruppen im St. Johann zum Beispiel beträgt der Anteil 81,5 Prozent – nicht die ideale Voraussetzung für die Kinder, um spielerisch miteinander Deutsch zu lernen.
«Man kann den Fragebogen natürlich ausfüllen, wie man will, und somit einer Verpflichtung entgehen.»
Susann Täschler ist Leiterin der Fachstelle für frühe Deutschförderung im Erziehungsdepartement. Zur kritisierten Durchlässigkeit des Deutschobligatoriums sagt sie: «Man kann den Fragebogen natürlich ausfüllen, wie man will, und somit einer Verpflichtung entgehen. Uns ist aber auch wichtig, dass die Verantwortung bei den Eltern liegt – es ist noch nicht Schule.» Sie hält jedoch fest, dass man die wichtigen 40 Prozent der Kinder erreiche.
Die Rücklaufquote der Fragebögen sei zudem hoch, sagt Täschler und verweist auf die Statistik: Insgesamt wurden dieses Jahr 1582 Fragebogen versandt, 1574 kamen zurück. Eltern, die den Bogen nicht ausfüllen, werden mehrmals gemahnt und anschliessend mit 500 Franken gebüsst. So weit kam es laut Täschler aber noch nie.
Und was meint Täschler dazu, dass die Durchmischung in gewissen Spielgruppen schlecht ist? «In gewissen Quartieren verdichtet sich das Verhältnis zwischen deutsch- und fremdsprachigen Kindern. Das stellen wir auch fest, lässt sich aber kaum vermeiden», sagt sie. Umso wichtiger seien deshalb gut ausgebildetes Spielgruppen-Personal und kleine Gruppengrössen, damit die Kinder handlungs- und alltagsorientiert Deutsch lernen könnten.
Die Spielgruppen werden regelmässig von der Fachstelle besucht und auf ihre Sprachförderpraxis überprüft. Zum Teil mit Folgen: So wurde im Sommer 2017 der Vertrag mit sechs Spielgruppen nicht erneuert, weil sie die Qualitätsansprüche nicht erfüllten.
Verwaltung erwägt Ausbau des Obligatoriums
Lehrerin Nicola Döpke schätzt das Obligatorium. «Das Angebot ist wichtig», sagt sie. Es gebe aber auch Lehrpersonen, die zu hohe Erwartungen hätten. «Sie meinen, das Kind könne gut Deutsch, wenn es in den Kindergarten kommt. Das ist aber ein Trugschluss», so Döpke. Dafür seien zwei halbe Tage in der Sprachspielgruppe einfach nicht ausreichend.
Was kann denn mit dem Obligatorium erreicht werden? Döpke sagt: «Das Kind bekommt die Melodie der Sprache mit, lernt mit anderen Kindern umzugehen und sich von den Eltern zu lösen.» Früher sei dies erst im Kindergarten passiert. Auch für die Eltern ist das Obligatorium aus ihrer Sicht sehr wertvoll: Diese kommen dadurch früher mit einer Institution in Kontakt, und sie erhalten einen ersten Eindruck, wie der Alltag ihrer Kinder im Kindergarten aussehen wird.
Im Erziehungsdepartement denkt man derweil leise über einen Ausbau des Obligatoriums nach. In einem Pilotprojekt können Kinder neu bis zu viermal wöchentlich eine Sprachspielgruppe besuchen. Der Kanton übernimmt dafür einen Teil der Kosten. Drei Spielgruppen, die sich über «hervorragende Bedingungen auszeichnen», bieten das Angebot bereits an.
«Das Obligatorium ist ganz klar der richtige Schritt für Kinder mit Migrationshintergrund.»
Jean-Michel Héritier ist Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt, des Berufsverbands der Lehrerinnen und Lehrer. «Das Obligatorium ist ganz klar der richtige Schritt für Kinder mit Migrationshintergrund», sagt er. Die Erfahrungen, welche die Lehrpersonen damit machen würden, seien allerdings unterschiedlich.
Es gebe Kinder, die nach dem Besuch einer Sprachspielgruppe spürbar besser Deutsch sprechen. «Dann gibt es ganz wenige Kinder, die gar nicht erfasst wurden, und Kinder, die überhaupt nicht besser Deutsch sprechen, weil sie in einer Sprachspielgruppe mit nur fremdsprachigen Kindern waren.» In der Umsetzung gibt es laut Héritier noch Optimierungsbedarf.
Grundsätzlich bezeichnet Héritier, der seit 28 Jahren als Lehrer tätig ist und in der Primarschule Insel im Klybeck-Quartier unterrichtet, den Umgang mit fremdsprachigen Schülern als «sehr anspruchsvoll». «Wir stellen fest, dass manche Kinder mit ihrer Sprachkompetenz sehr schnell an ihre Grenze stossen.» Dies zum Beispiel, weil die Kinder die Wörter auch in ihrer Erstsprache nicht kennen würden. Ein guter Wortschatz in der Muttersprache ist die Basis, um Deutsch zu lernen.
Und er sagt: «Von der Chancengleichheit sind wir noch weit entfernt, solange es in manchen Quartieren immer noch keine bessere Durchmischung in den Klassen gibt.»
Kinder, die schlecht Deutsch können, verpassen oft den Anschluss und bleiben nicht selten ein Leben lang im Nachteil. «Auch wenn wir jeden Tag unser Bestes geben: Wer als Kind sprachlich ein Handicap hat, kann die Unterschiede kaum mehr aufholen», so Héritier.
Das Rennen um eine gute Ausbildung endet für einige fremdsprachige Kinder also schon früh.