Zwischen Dreirosenbrücke und Wiese leben die ärmsten Kinder von Basel. Ihre Eltern haben weder Zeit noch Geld für sie. Und so kämpfen sie Tag für Tag um ihren Platz in der Gesellschaft.


Iasmin sitzt an einem Mittwochnachmittag im Pförtnerhaus der Aktienmühle an der Gärtnerstrasse.

Mit einem violetten Farbstift zeichnet sie ein Auge auf ein Blatt Papier: Mandelform, Pupille, lange Wimpern. Eine dunkle Strähne löst sich aus dem Haargummi, legt sich über ihre Wange.

Es ist schön hier. Die Decken sind hoch, die Fenster lassen Licht herein, das auf alte Druckmaschinen fällt. Eine Kinder-Oase im Quartier zwischen Dreirosenbrücke und Wiese, einem Quartier, das viel Beton, viel Verkehr, aber wenig Platz zum Spielen hat.

Fatima kommt zur Tür herein, setzt sich zu Iasmin, sagt etwas auf Albanisch. Warum sind die Elfjährigen hier? «Isch gratis», sagt Fatima. «Gratis isch ohne Geld.»

«Meine Mami sehe ich nie»

Hier, in der Druckstelle, können die Kinder aus dem Klybeck zeichnen, Geschichten schreiben und Bücher drucken. Ohne Voranmeldung, sie kommen und gehen. Iasmin und Fatima wohnen «dort drüben», Fatima zeigt mit dem Finger aus dem Fenster. Dort, auf der anderen Seite der Gärtnerstrasse in den Blöcken von Klybeck Mitte. Die Freundinnen kommen oft in die Druckwerkstatt, an der Hand den dreijährigen Leano, Iasmins Bruder.

Wenn sie keine Schule hat, muss sie auf ihn aufpassen, Fatima hilft ihr dabei. Die Eltern arbeiten. «Meine Mami sehe ich nie», sagt Fatima. «Sie putzt am Tag für Büros und am Abend für Polizei. Mein Papi ist Diener, er bringt Leute in Restaurant Essen und Trinken.»

Im Klybeckquartier verbringen manche Kinder ganze Ferienwochen vor dem Fernseher. Alleingelassen von ihren Eltern, die chrampfen, um die Miete bezahlen zu können, vergessen vom Rest der Stadt.

Die Kinder vom Klybeck haben Handys und saubere Kleider. Was ihnen fehlt ist Platz. Und Ruhe.

Wir waren in den letzten Wochen im Quartier unterwegs, haben mit Kindern und Eltern, mit Quartierarbeiterinnen und Lehrpersonen gesprochen. Um sie zu schützen, haben wir den Familien andere Namen gegeben.

Damit das klar ist: Diese Kinder sind nicht verwahrlost. Mütter und Väter gehen an die Elternabende, schauen, dass ihre Kinder für den Schulausflug alles dabei haben. Auch im Klybeck gibt es Väter, die ihre Kinder überbehüten, sie jeden Tag in die Schule bringen und später wieder abholen.

Aber eines verbindet die meisten Familien im Klybeck: Sie haben von allem weniger als der Rest der Stadt. Weniger Zeit, weniger Geld, weniger Bildung.

Auch im Klybeck haben die Kinder Handys. Sie tragen saubere Jeans und herzige Frisuren. Was ihnen fehlt, ist Platz. Und Ruhe. Da sind die fünf Kinder, die mit ihrer Mutter in einer Dreizimmerwohnung wohnen, die Mutter schläft auf dem Sofa. Da sind die zwei Kinder, die mit ihren Eltern in einer Zweizimmerwohnung leben. Der Vater hatte einen Unfall, seinen Job auf dem Bau musste er aufgeben, sie leben von der IV.

Dichtestress in den eigenen vier Wänden – im dicht besiedelten Klybeck ist das normal. Ein Bewohner in der Grossbasler Altstadt hat durchschnittlich 53 Quadratmeter zur Verfügung, die Klybeckerin muss mit 32 Quadratmetern auskommen.

Und die Wände zwischen den Wohnungen sind dünn. In den Klybeck-Mitte-Blöcken, wo Iasmin und Fatima leben, hört man alles, die Toilettenspülung des Nachbars, den Fernseher oben und den Streit des Paares unten.
So verbringen viele Kinder ihre Abende lieber draussen, gehen spät ins Bett und kommen am nächsten Tag müde in die Schule. Daheim finden sie sowieso keine Ruhe, schlafen können sie erst, wenn der Rest der Familie das Licht ausmacht.

Nur: Draussen ist es auch nicht, was anspruchsvolle Eltern aus dem Neubad «kinderfreundlich» nennen würden. Zwei grosse Strassen bilden die Adern des Quartiers, die Kleinhüningerstrasse und die Gärtnerstrasse.

Es sind Durchfahrtsstrassen für Leute, die von Basel nach Deutschland wollen oder umgekehrt. Halt machen sie nur selten, warum auch? Es gibt keinen Platz im Klybeck, an dem man sich treffen könnte und nur wenige Cafés. Das Budget der Quartierbewohner ist zu klein, um als Beizer von ihnen leben zu können.

Klar gibt es die Partymeile an der Uferstrasse. Aber die Preise dort sind für viele Klybeckerinnen unerschwinglich.

Zwar hat der Kanton in den letzten Jahren den Spielplatz Klybeck Mitte und das Ackermätteli aufgewertet (das ist der mit dem Chemiemüll darunter). Und es gibt seit einigen Jahren die Partymeile an der Uferstrasse. Aber die Preise in den Hipster-Bars sind für viele Klybeckerinnen unerschwinglich. Erst seit es eine Grillstelle gibt, ist der Freiraum am Rhein für Familien attraktiver geworden.

Das ist besser als nichts, aber immer noch wenig: Nur 12 Prozent des Quartiers sind grün. Zum Vergleich: Das Bruderholz hat 71 Prozent, das Bachletten 41 Prozent Grünflächen. Nur die Altstadt im Kleinbasel (8,1) und Grossbasel (6,7) haben noch weniger Grün.

Hallo Grünraum (beim Kindsgi Insel).

Gut, die Langen Erlen wären nah. Doch viele Kinder kommen kaum aus dem näheren Wohnumfeld raus. Ihre Eltern sind am Wochenende dermassen k.o. von der Arbeit, dass ein Ausflug kein Thema ist – und die Kinder ihre Zeit wieder im Klybeck verbringen. Das schlägt auf die Stimmung.

Sorgen vergessen im Europapark

Es ist Dienstagmorgen, Quartiertreffpunkt Kleinhüningen. Ein Car hält an der Kleinhüningerstrasse, 50 Leute steigen ein – Männer, Frauen, Kinder. Als Letzte kommt Ulla Stöffler. Sie hat eine Energie, dass man ihr unweigerlich zuhört.

Sie nimmt das Mikrofon, dreht sich zu den Leuten im Bus und sagt im Badenser Dialekt: «Herzlich willkommen. Los gehts in den Europapark!» Stöffler ist mobile Quartierarbeiterin im Klybeck, sie ist Woche für Woche auf der Strasse unterwegs, kennt die Bewohner und ihre Sorgen.

Der Ausflug nach Rust ist für die Menschen im Bus ein Kurzurlaub von den Sorgen. Ulla Stöffler hat ihn organisiert,  der Europapark spendiert die Eintrittsbillette, die Novartis den Car. Mitkommen dürfen «Armutsbetroffene aus dem Quartier».

Der Tapetenwechsel ist mehr als willkommen: Eine Mutter ist am Telefon in Tränen ausgebrochen, als Stöffler sie angerufen und eingeladen hat. Sie ist alleinerziehend, hat fünf Kinder. Der Ausflug in den Europapark bedeutet für sie einmal richtig durchschnaufen zu können.

Die Mädchen fragen ihre Mutter nicht, ob sie ihnen Süssigkeiten kaufe. Sie wissen: Dafür haben wir kein Geld.

Der Car hält in Rust, Kinder und Eltern steigen aus, nehmen selbstgemachte Sandwiches und Flaschen mit Tee aus den Rucksäcken. Picknick, bevor es losgeht. Dann ziehen die Kinder ihre Eltern in verschiedene Richtungen, jede Familie verbringt den Nachmittag für sich.

Eine Mutter mit zwei Töchtern (10 und 12) sagt zu mir: «Kommst du mit uns zu Voletarium?» Bevor wir in Sesseln über ein virtuelles Europa fliegen, fragt die Zehnjährige: «Ist es okay, wenn Sie mit unsere Mutter sitzen?»

Die Mädchen waren noch nie im Europapark, aber sie kennen die Bahnen vom Hörensagen. An den Verkaufsständen schauen sie sich die Glaces an, die Zuckerwatte, die Souvenirs. Dann gehen sie weiter.

Nicht ein Mal fragen sie ihre Mutter, ob sie ihnen etwas kaufe. Als ich mir etwas zu essen hole, warten sie mit ihrem Picknick auf mich, bieten mir von daheim mitgebrachte Cracker an, einen Kaugummi.

Auch diese Mutter kennt die Sorgen, die typisch sind fürs Klybeck: Winzige Wohnung, Krankheit, Geldsorgen. Aber heute, hier im Europapark mag sie nicht darüber reden. Und von irgendwoher nimmt sie die Energie, um auszubrechen: Am Wochenende geht sie mit den Töchtern an der Wiese grillieren. Sie engagiert sich in der Leseförderung, um ihr Deutsch zu verbessern.

Dieses schwierige Deutsch

Im Europapark geben Mutter und Töchter sich grosse Mühe, Deutsch zu reden statt Albanisch, für die Journalistin. Aber auf der Wildwasserbahn sind ohnehin keine Worte nötig, Juchzen und Kreischen tönt in allen Sprachen gleich.

Dieses schwierige Deutsch. Mit wenigen Ausnahmen antworten alle Kinder, mit denen ich während meiner Besuche im Klybeck spreche, auf Hochdeutsch. Manche fliessend, manche stockend, viele fehlerhaft. Acht von zehn Kindern einer Klybecker Klasse sind Einwanderer, sagen Leute, die sich in den Schulen dort auskennen. Familien, die es sich leisten können, ziehen häufig weg, wenn die Kinder ins Schulalter kommen.

Eine kurdische Mutter erzählt im Europapark, sie wohne mit ihren Kindern seit Kurzem in der Breite: «Meine Kinder sollen gut Deutsch lernen. Das ist einfacher, wenn sie mit Schweizer Kindern zur Schule gehen.»

Daheim reden sie Albanisch, Türkisch oder Spanisch. Zusammen reden sie Deutsch.

Unterrichtsbesuch in der Primarschule Insel. Die Klasse von Nadine Bühlmann hat am Mittwochmorgen Sprachlabor. Zwei Knaben, schwarze Haare, Fussballer-Tollen, sitzen am Boden vor einem Puzzle. Lehrerin Nadine Bühlmann zeigt auf ein Bild: «Wisst ihr, wie das heisst?» Die Knaben schütteln den Kopf. «Das ist eine Melone, die gibts im Sommer», sagt Bühlmann.

Häufig kennen die Kinder die Wörter auch in ihrer Muttersprache nicht. Ein guter Wortschatz in der Erstsprache ist aber die Basis, um Deutsch zu lernen. Und die Kultur.

In einer Ecke sitzt Leila vor einer Verkleiderli-Kiste. Die Erstklässlerin trägt Röhrenjeans, Streifenjäckli und Kopftuch. Sie zieht ein Bikinioberteil aus der Kiste, es ist voller Pailletten, sie glitzern rot und grün.

«Ich möchte auch Bikini», sagt Leila.
«Wenn du 18 Jahre alt bist, darfst du selber entscheiden, was du anziehst», sagt die Lehrerin.»
«Frau Bühlmann, du verstehsch einfach nicht.»
«Dann erklärs mir.»
«Muslimische Frau muss zum Schwimmen langes Kleid anziehen, auch wenn sie gross ist.»

Leila mag das Klybeck. «Hier isch min Park.» Maria setzt sich zum Spielen dazu, sagt aber kein Wort. «Maria, wenn du gross bist, musst du reden. Was machst du sonst, wenn du am Kiosk etwas kaufen willst?», fragt Leila. Jetzt ist Maria noch nicht gross und Leila versteht ihre Freundin auch so.

Daheim spricht Maria Spanisch «wie ein Buch», sagt Nadine Bühlmann. Aber Deutsch nur im Flüsterton, der Lehrerin ins Ohr. Das ist schon ein Erfolg. Als sie in die erste Klasse kam, redete sie gar nicht. Bühlmann setzt Hoffnung in die Freundschaft zwischen Maria und Leila. «Die ist neu – vielleicht bringt Leila Maria zum Sprechen.»

Eigentlich müssen Kinder, die kein Deutsch können, in die Spielgruppe. Doch im Klybeck funktioniert das nicht.

Neue Sprache, neue Kultur: Von den Kindern im Klybeck erwartet die Gesellschaft, dass sie kleine Integrationsturbos sind. Doch der Einstieg ist schwer. Klaus Zintgraf, Co-Schulleiter des Inselschulhauses, drückt es so aus: «Manche Kinder sind verloren, wenn sie in die Schule kommen.»

Das fängt damit an, dass viele Eltern nicht realisieren, dass sie ihren Kindern etwas zum Frühstück geben müssen, bevor sie in die Schule gehen. Dass die Eltern mit ihren Kindern nicht über die Schule reden – weil sie das Schulsystem nicht verstehen. Und, eben, dass sie am ersten Kindsgitag noch kein Wort Deutsch können.

Kinder haben in der Freizeit einen Engerling ausgegraben, weil sie gerade Bodentiere durchnehmen

Eigentlich müssen Kinder, die kein Deutsch können, seit 2013 in die Spielgruppe oder ins Tagi. Wenn ein Kind in Basel drei Jahre alt wird, bekommen die Eltern einen Zettel nach Hause geschickt, auf dem sie ankreuzen müssen, wie gut es Deutsch kann.

Doch hier im Klybeck funktioniert das System häufig nicht: «Der Kanton erreicht nicht alle Kinder», sagt Sandra Brunner, ebenfalls Schulleiterin im Inselschulhaus. «Vielleicht füllen manche Eltern den Zettel falsch aus», sagt ihr Kollege Zintgraf.

So fangen die Kinder bei null an, lernen im Schnelldurchlauf, sich in zwei völlig verschiedenen Welten zu orientieren. «Das ist eine Leistung», sagt Lehrerin Bühlmann.

Eine, die von der Gesellschaft nicht gewürdigt wird. Zumindest, wenn man die Gymnasialquote zum Massstab nimmt. Es ist nichts Neues: Ausländerkinder und Kinder aus Familien ohne Geld haben schlechtere Noten.

Das liegt nicht am Deutsch allein, sondern auch an der Bildung der Eltern und der Zeit, die sie den Kindern widmen können. Ein Kind, dem die Eltern vorlesen, das bastelt, theäterlet und singt, startet an einem anderen Punkt als ein Kind, das fernsieht.

Auch das Wohnumfeld spielt eine Rolle – Bäume vor dem Fenster, ein eigenes Zimmer, eine ruhige, stabile Umgebung erleichtern es einem Kind, sich zu konzentrieren und zu lernen. Privilegien vererben sich, der gute Schüler von heute ist der Gutverdiener von morgen.

Privilegien vererben sich, der gute Schüler von heute ist der Gutverdiener von morgen.

Nadine Bühlmann macht das betroffen. Sie arbeitet erst seit sechs Monaten im Inselschulhaus, vorher war sie Schulleiterin im St. Johann, doch sie wollte zurück an die Basis, zu den Kindern ins Klassenzimmer. Am Anfang war sie geschockt von den vielen Hürden, die die Kinder im Klybeck überwinden müssen. «Es ist nicht gerecht: Das sind so tolle Kinder und gute Eltern, die haben mehr verdient.»

Wer nicht gumpt, ist keine Klybeckerin. Mädchen auf der Klybeck-/Gärtnerstrasse.

Die Schule macht viel, auch für die Eltern. Im Inselschulhaus gibt es nicht nur Sprachunterricht für die Kinder, sondern auch für die Eltern. Etwa 20 Mütter, es sind meist Mütter, lernen aktuell im Inselschulhaus Deutsch. Es gibt auch ein Musikprojekt mit Streichinstrumenten.

Für die externe Kinderbetreuung gibt es eine Tagesstruktur – sie platzt laut Schulleitung aus allen Nähten. Es gibt die Schulsozialarbeit, die so viel zu tun hat, dass die Schulleitung beim Erziehungsdepartement eine Aufstockung von aktuell 30 auf neu 60 Prozent beantragt hat.

Dazu kommen die Quartierarbeiterinnen. Ulla Stöffler von der mobilen Quartierarbeit, Mathis Rickli von der Druckwerkstatt, der auch die offene Spielwerkstatt betreibt, wo Kinder ohne Voranmeldung kommen und werken können. Es gibt die Spielbude, den Verein Unterwägs, es gibt die Robi Spielaktion, es gibt die Leseförderung der GGG und und und. Einrichtungen, an die sich die Kinder wenden können, gäbe es an sich genug.

Das sieht auch die Lehrerin Nadine Bühlmann so. «Man muss nicht mehr machen, man muss einfach die Kinder besser erreichen.» Da war zum Beispiel der Knabe, der Zahnweh hatte. Bühlmann sah, dass ihm die Zähne im Mund abfaulten und sprach den Vater an. Der kannte das Problem, wollte aber bis zu den Sommerferien im Herkunftsland warten. Da sei der Zahnarzt billiger, den in der Schweiz könne er sich nicht leisten.

Bühlmann stellte den Kontakt zur Schulsozialarbeiterin her, sie fand eine Lösung. «Die Familie wusste nicht, dass es für solche Schwierigkeiten Angebote gibt», sagt Bühlmann.

Oft trauen sich ausländische Mütter nicht, die Angebote zu nutzen. Oder sie sind skeptisch gegenüber den Behörden.

Oder da war die alleinerziehende Mutter, die ihr Kind in den Sommerferien vor den Fernseher setzte und die Wohnung abschloss. Die Tagesstrukturen Basel haben in den Ferien bekanntlich zu, die Mutter musste arbeiten und wusste keinen anderen Ausweg. Das Kind alleine rauslassen wollte sie nicht, sie hatte Angst. Auch in solchen Fällen hilft die Schulsozialarbeiterin weiter.

Für Bühlmann ist klar: «Der Kanton muss die Familien besser ins Boot holen.» Oft trauen sich die ausländischen Mütter nicht, die Angebote zu nutzen. Oder sie sind skeptisch gegenüber den Behörden.

Doch sie zu erreichen, wäre wichtig. Nicht nur für die Kinder, auch für den Zusammenhalt im Quartier. Sonst bleiben die Menschen unter sich, unter Verwandten, unter Gleichsprachigen. Das Resultat ist die berühmte Clanbildung, Misstrauen, Konflikte. Das merkt man, wenn man mit Schweizer Quartierbewohnerinnen redet.

Älteren ist es nicht mehr geheuer

Sarah lebt seit Jahren in Klybeck Mitte, in derselben Siedlung wie Iasmin und Fatima. Ihren Sohn lässt sie aber nicht auf den Spielplatz zwischen den Blöcken, lieber geht sie mit ihm in andere Quartiere, ans Birsköpfli zum Beispiel. «Die Kinder im Quartier nehmen ihm das Spielzeug weg. Und dann kommt er wieder mit Wörtern wie Hurensohn nach Hause.»

Sarah lebt von der Sozialhilfe. Eigentlich ist sie kaufmännische Angestellte, sucht seit Jahren eine Stelle, schreibt Bewerbung um Bewerbung. Ohne Erfolg. «Die Arbeitgeber hören: alleinerziehende Mutter. Und schon bist du draussen», sagt sie. So engagiert sie sich in der Freiwilligenarbeit. Konzentriert sich auf ihren Sohn. «Für ihn ist es gut, dass ich voll daheim bin.» Mutterschaft als Quelle fürs Selbstbewusstsein.

Noch länger im Quartier lebt Lisbeth Riebli. Seit 59 Jahren wohnt sie an der Rastatterstrasse, gehörte zu den Erstbezügerinnen der Genossenschaft bei der Ackermatte. Sie geht kaum mehr aus dem Haus. Am Abend traut sie sich nicht, seit sie 2017 von einem Überfall in der Kleinhüningerstrasse gelesen hat. Und am Tag ist es auch nicht mehr wie früher: «Die Bänkli sind immer besetzt, da ist ein riesen Klamauk. Ich meine, die Ausländer schaffen auch und zahlen ihre Zinsen. Aber sie lassen ihren Abfall immer liegen.»

Für die einen Spielparadies, für die anderen Ort des Klamauks: Ackermätteli.

Gerade manchen älteren Leuten ist das eigene Quartier nicht mehr geheuer, sie stören sich ob der Kinder, die sich das Eglisee nicht leisten können und deshalb ihre Sommerferien auf dem Spielplatz verbringen – und die Senioren beim Mittagssschlaf wecken.

Bringt eure Eltern mit!

Das beste Mittel gegen solche Ressentiments wäre Begegnung. Doch wie bringt man die Menschen zusammen? Wie bekommt man unterschiedliche Menschen an einen Tisch? Wir stellen diese Frage einem, der es weiss: Dani Jansen, ehemaliger Zwischennutzer der Aktienmühle, dort, wo jetzt die Druckstelle ist. Im Auftrag der Habitat übernahm er 2010 die Aktienmühle mit dem Vorgabe, «Freiraum für das Quartier zu schaffen».

Im Restaurant boten Jansen und sein Team gratis Sirup an. Und wurden von Kindern überschwemmt. Sie kamen, wie Iasmin und Fatima, über die Gärtnerstrasse, spielten im Innenhof. Jansen reagierte, stellte Jugendarbeiter an und bot einen freien Kindertreff an. Die Regel: Am Nachmittag dürfen die Kinder alleine spielen, denn dann gibts Betreuung vor Ort. Am Abend aber dürfen sie nur in Begleitung eines Erwachsenen auftauchen.

Mit dieser Regel erreichte Jansen auch die Eltern: «Die Kinder stürmten an den Abenden bei den Eltern, bis diese sie in die Aktienmühle begleiteten.» Jansen stellte einen offenen Grill auf und hatte bald ein durchmischtes Publikum mit Familien aus verschiedenen Ländern. Ziel erreicht.

Das funktionierte solange, bis die Zwischennutzung im Jahr 2016 endete und Pächter das Restaurant übernahmen, für die der Betrieb wirtschaftlich rentieren muss. Die Preise gingen rauf, der Grill war kurzzeitig weg und das Aussenareal wurde umgepflügt, da das ehemalige Mühlegebäude zu einem Werkstatthaus umgebaut wurde. Zwar gibt es immer noch Kinderangebote wie den Spielboden oder die Druckwerkstatt, die Kinder nutzen sie regelmässig. Aber die Eltern bleiben weg.

Facebook, Flyer, Plakate – das genügt nicht, um an die Leute heranzukommen. Man muss sie direkt ansprechen.

Das Beispiel zeigt: Mit der Durchmischung und dem Quartierzusammenhalt ist es wie mit Muskeln – sie aufzubauen, ist Knochenarbeit. Und wenn man nicht aufpasst, sind sie schnell weg. Ein Aufruf auf Facebook, Flyer, Plakate – das genügt nicht, um an die Leute heranzukommen. Man muss sie direkt ansprechen, an ihrer Wohnungstüre klingen, sie bei ihren Bedürfnissen abholen.

Damit das zustande kommt, braucht es die sogenannten Kümmerer. Menschen, die im Quartier wohnen, die eine gute Energie reinbringen, dafür sorgen, dass das Klybeck lebenswert ist.

Das weiss auch Theres Wernli, Kleinbaselversteherin, Co-Leiterin des Stadtteilsekretariats. Sie kennt die Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Quartier und sagt: «Ein Dorf erzieht ein Kind, und wenn das Dorf fehlt, ist es schwierig.» Auch Ulla Stöffler, die den Ausflug in den Europapark organisierte, wünscht sich mehr Kümmerer fürs Klybeck.

So, wie im Matthäusquartier, dort schlossen sich Bewohnerinnen und Bewohner vor 20 Jahren zusammen und sammelten jeden Morgen freiwillig Spritzen und Flaschen ein, damit die Kinder dort spielen konnten.

Die Angst vor der Aufwertung

Es gibt auch im Klybeck Gruppen, die sich für ihre Interessen einsetzen – etwa die Leute der WG Klybeck oder die alternative Szene rund um die Capri-Bar. Aber bislang fehlt der Zusammenhalt, der Blick fürs Ganze. Das könnte sich nun aber ändern. Denn es gibt etwas, das die Menschen im Klybeck, Alternative, Senioren und Ausländerfamilien, teilen: die Angst vor der Aufwertung, die mit den Entwicklungsprojekten Rheinhattan und Klybeck plus absehbar ist.

Alte Industriebauten sollen neuen Wohnquartieren weichen. Die einen im Quartier fürchten um ihr urbanes Flair, die anderen haben Angst vor höheren Mieten, welche moderne Bauprojekte mit sich bringen.

Ja, auch die Kinder vom Klybeck sollten es schön haben dürfen. Aber die dunkle Seite der Aufwertung zeigt sich bereits: Mit der Totalsanierung am Giessliweg verlieren langjährige Mieter ihr Zuhause. Und auch in Klybeck Mitte kostet eine sanierte 3,5-Zimmer-Wohnung (67 Quadratmeter) mittlerweile 1640 Franken. Auch dort mussten die ersten Familien bereits wegziehen. Wo sollen sie hin – in den Aargau?

Die Kinder vom Klybeck mögen einiges stemmen.

Angst ist bekanntlich eine schlechte Treiberin, aber vielleicht bringt sie die verschiedenen Gruppen im Quartier zusammen. Ein bisschen wenigstens. Erste Zeichen sind sichtbar: der Verein Zukunft Klybeck setzt sich seit Längerem dafür ein, dass bei der Aufwertung auch die Interessen der Bevölkerung angehört werden.

Auch er musste lernen, wie schwierig es ist, an alle Bevölkerungsgruppen heranzukommen – vielen Menschen mit Migrationshintergrund sind Klybeck plus und Rheinhattan gar kein Begriff. «Wir müssen zu den Leuten gehen und können nicht erwarten, dass sie zu uns kommen», sagt Christoph Moerikofer vom Verein. Er hat einen Workshop nur für Migratinnen und Migranten gemacht, 40 Personen sind gekommen. Immerhin.

Augen für alle und Farben für den kleinen Bruder

Zurück zum Mittwochnachmittag in der Druckstelle. Dort ist Iasmin immer noch am Malen. Ein weiteres Mädchen tritt an den Tisch. «Du kannst schöne Auge malen, machst du mir auch eine?», fragt sie. «Mir auch», sagt ein drittes Mädchen, und dann ein viertes. Bald ist Iasmin von Mädchen umgeben, alle wollen sie von der Elfjährigen ein Auge gemalt bekommen.

Bis sich ihr dreijähriger Bruder vor ihr aufbaut, die Arme nach ihr ausstreckt. Er muss aufs WC. Als Iasmin nicht gleich reagiert, packt ihre Freundin Fatima den Knaben, verschwindet mit ihm hinter einer Türe. Nach einer Weile kommt sie wieder hervor, stellt ihn auf einen Stuhl vor das Lavabo und wäscht ihm die Hände.

Dann setzt sie sich wieder an den Tisch, er klettert auf ihre Knie, sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Er nimmt einen grünen Farbstift. «Isch blau.» Fatima lacht: «Nein, das ist grün.»

Sie sind tough, die Kinder vom Klybeck. Und sie schauen zueinander, wenn es sonst niemand tut.

Dossier Die Kinder vom Klybeck

Am Stadtrand müssen die Kleinen für sich selber schauen, und ihre Eltern bangen um ihre zahlbaren Wohnungen.

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