In der Wachstumsfalle

Bis anhin konnten die negativen Folgen des Wachstums dank Erfindergeist und Technik bewältigt werden. Das wird künftig nicht mehr gelingen.

(Bild: Lukas Gloor )

Bis anhin konnten die negativen Folgen des Wachstums dank Erfindergeist und Technik bewältigt werden. Das wird künftig nicht mehr gelingen.

Es gibt Geschichten, die im Gedächtnis haften bleiben, wenn man einmal von ihnen erfahren hat. Zum Beispiel die tragische Geschichte der Osterinsel.

Der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond erzählt sie in seinem Buch «Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen» (Frankfurt, 2005) wie folgt: Die Osterinsel ist eine 24 Kilometer lange und 13 Kilometer breite Vulkan-insel im Südpazifik zwischen Südamerika und Asien. Politisch gehört sie heute zu Chile. Das Klima ist subtropisch warm.

Wahrscheinlich etwa um 900 nach Christus wurde die Insel von polynesischen Argonauten entdeckt und besiedelt. Die ersten Siedler fanden beinahe paradiesische Zustände vor: angenehme ­Temperaturen, fruchtbaren Boden, Wald. Sie vermehrten sich rasch. Bis zu 30 000 Menschen könnten einst auf der ­Osterinsel gelebt haben. 1877 waren es bloss noch rund hundert, heute sind es ein paar Tausend. Der Boden ist ausgewaschen und karg, Bäume gibt es keine mehr. Geblieben sind nur die riesigen Steinskulpturen: überdimensionierte, längliche ­Gesichter, die dumpf ins Meer hinaus schauen. Was lief schief?

Fataler Götzenwahn

Gemäss Diamond begannen die Bewohner der Oster­insel irgendwann, die riesigen Skulpturen im Inneren des Landes herzustellen. Mithilfe von Stämmen gefällter Bäume wurden sie an die Küste gerollt. Es wird vermutet, dass sich eine Art Wettbewerb unter den Clan-Chefs entwickelte, wer die grösste Skulptur fertigen kann. Es gab immer mehr Skulpturen – und immer weniger Bäume. Der stetig wehende Meerwind begann, langsam die frucht­bare Erde abzutragen.

Was mag sich der­jenige gedacht haben, der den letzten Baum fällte?

«Die Konsequenzen beginnen mit Hunger, Bevölkerungsrückgang und enden im Kannibalismus», fasst Diamond die weitere Entwicklung kurz und trocken zusammen. Die polynesischen Siedler hatten ihr subtropisches Paradies einem fatalen Götzenwahn geopfert. Das wirft Fragen auf: Was mag sich der­jenige gedacht haben, der den letzten Baum fällte? Und: Ist heute nicht die ganze Erde in einer ähnlichen Situation wie einst die Osterinsel? Wie lange dauert es noch, bis wir die letzten Bäume gefällt haben?

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus gibt es nur noch Varianten des Kapitalismus, po­litisch begleitet von mehr oder weniger funktio­nierenden Demokratien. Das wären grundsätzlich beste Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben der Menschen in Wohlstand – gäbe es nicht einen kleinen Haken. Das Schicksal des Kapitalismus gleicht jenem eines Radfahrers: Er braucht Tempo, sonst fällt er um.

Dieser Wachstumszwang hat schon früh Warner auf den Plan gerufen. Ende des 18. Jahrhunderts war es etwa der Pfarrer und Ökonom Thomas Malthus. Er war überzeugt davon, dass die wegen der industriellen Revolution sich rasch vermehrende Bevölkerung auf der britischen Insel bald jämmerlich verhungern würde. Mit den damaligen Produktionsmethoden war die Landwirtschaft bei Weitem nicht in der Lage, genug Lebensmittel für alle zu produzieren.

Technik als Retterin in der Not

Die Erfindung des Stickstoffdüngers durch deutsche Chemiker, zunächst durch Justus von Liebig im Jahr 1840 und durch Fritz Haber und Carl Bosch ein halbes Jahrhundert später, löste das Problem – allerdings zu spät. In den Jahren nach 1845 war es in Irland zu einer Hungerkatastrophe gekommen: Die Kartoffelfäule vernichtete einen grossen Teil der Ernte. Damals starben rund eine Million Menschen an den Folgen der Hungersnot. Das waren mehr als zehn Prozent der Bevölkerung Irlands.

Ende der 1960er-Jahre kam es erneut zu einer ­globalen Wachstumsdiskussion, ausgelöst durch den US-Biologen Paul Ehrlich. Sein Buch «Die Bevölkerungsbombe» wurde zum Bestseller. Wenig später legte der Thinktank Club of Rome, der heute seinen Sitz in Winterthur hat, mit seinem viel diskutierten Bericht «Die Grenzen des Wachstums» nach.

Die These war dieselbe wie bei Malthus: Es gibt bald zu viele Menschen, aber zu wenig Nahrung und Rohstoffe. Diesmal war es die sogenannte «grüne Revolution», die die Problematik entschärfte: Dank verbesserter Anbaumethoden in der Dritten Welt konnten die Ernteerträge global markant gesteigert werden.

Um die Weltbevölkerung zu ernähren, muss die Lebensmittelproduktion verdoppelt werden.

Paul Ehrlich wurde dem Spott preisgegeben und mit einer inzwischen legendären Wette geradezu vorgeführt: 1980 forderte ihn der Ökonom Julian Simon auf, fünf beliebige Rohstoffe zu nennen, die in den nächsten zehn Jahren knapper und teurer würden. Ehrlich entschied sich für Chrom, Kupfer, Nickel Zinn und Wolfram – und verlor spektakulär: Sämtliche fünf Rohstoffe waren zum vereinbarten Zeitpunkt deutlich billiger.

Damit schien die Wachstumsdebatte endgültig beendet zu sein. Fortan galt: Der Erfindungsreichtum des Menschen und der Preismechanismus der freien Marktwirtschaft werden stets Mittel und Wege finden, genügend Nahrung und Rohstoffe zu produzieren, ohne dass der Planet dabei zerstört würde.

Nichts ist vergänglicher als scheinbar unvergäng­liche Thesen. Einmal mehr haben sich die Fronten in der Wachstumsdebatte grundlegend verschoben. «Wer glaubt, dass der Markt allein die Versorgungsprobleme der Menschen lösen kann, der muss ­ent­weder verrückt sein oder Ökonom», lautet heute ein Bonmot. Und Ehrlichs «Bevölkerungsbombe»-These und die Warnungen des Club of Rome sind ­wieder aktuell. Bis Mitte dieses Jahrhunderts werden neun, vielleicht sogar zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben.

Wir leben über unsere Verhältnisse

Und was noch weit schwerer wiegt: Immer mehr Menschen wollen ein Leben führen, wie es in den westlichen Industriestaaten gang und gäbe ist. Sie wollen regelmässig Fleisch essen, ein eigenes Auto fahren, Waschmaschinen, Kühlschränke und Fernsehgeräte besitzen. Um all diese künftigen Bedürfnisse befriedigen zu können, ist unsere Erde zu klein.

Der «ökologische Fussabdruck» ist ein Umwelt­indi­kator, der die Anzahl Hektaren Erde misst, die ein Mensch für die Abdeckung der Bedürfnisse ­seines Lebensstils beansprucht. Die Zwillingsschwester des ökologischen Fussabdrucks ist die Bio­kapazität. Sie gibt Auskunft darüber, wie viele Rohstoffe und Energie eine Region oder ein Land liefern kann.

Wie ökologischer Fussabdruck und Biokapa­zität im Einzelnen berechnet werden, kann man auf der Website des Öko-Thinktanks Footprint Network nachschauen. Das Resultat ist eindeutig: Wir betreiben heute schon massiv Raubbau an unserem Planeten: Der ökologische Fussabdruck der Menschen beträgt 2,2 globale Hektaren, die Biokapazität bloss 1,8 globale Hektaren. Wir leben über unsere Verhältnisse.

Der ökologische Fussabdruck vergrössert sich rasch und dramatisch.

Der ökologische Fussabdruck vergrössert sich rasch und dramatisch, wie das Beispiel von Schanghai zeigt. Die chinesische Megastadt hat genügend Wasser für rund 26 Millionen Einwohner. Bereits in sieben Jahren werden aber hier rund 30 Millionen Menschen leben. Wie sie mit dem verfügbaren Wasser auskommen sollen, ist offen.

Schanghai ist überall. Um die erwartete Bevölkerungszahl ernähren zu können, muss die Lebensmittelproduktion bis Mitte dieses Jahrhunderts verdoppelt werden. Selbst angesichts der Tatsache, dass es noch immer grosse unerschlossene Ackerflächen gibt, ist das keine einfache Aufgabe.

Ebenso dramatisch ist die Lage bei den Rohstoffen. Auch wenn sich der Peak Oil – der Zeitpunkt, wenn das globale Öl­fördermaximum erreicht ist – dank neuer Förder­methoden (Schiefer, Fracking) nach hinten verschoben hat, bleiben Öl und Gas endliche Rohstoffe.

Zudem lautet die Gretchenfrage heute nicht mehr: Haben wir noch genug Öl? Sondern: Verbrennen wir nicht zu viel davon? Die Erde heizt sich gemäss jüngsten Erkenntnissen stärker auf, als befürchtet. Die Konsequenzen der Klimaerwärmung sind zwar schwer abzuschätzen und umstritten, aber höchstwahrscheinlich folgenschwer.

Die digitale Revolution reicht nicht

Malthus und Ehrlich wurden einst vom technischen Fortschritt widerlegt. Helfen uns einmal mehr technische Quantensprünge aus der Patsche? Man sollte nicht zu viel darauf wetten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit einen Wachstumsschub erlebt, wie ihn Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrizität und Automobilisierung auslösten, ist nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis gering.

Facebook & Co. werden das Leben unserer Kinder weit weniger verändern als die Waschmaschine und das Auto das Leben unserer Eltern.

Oder salopp ausgedrückt: Facebook, Twitter und YouTube werden das Leben unserer Kinder weit weniger verändern als die Waschmaschine und das Auto das Leben unserer Eltern.

Die Problemberge, die sich derzeit rund um den Globus auftürmen, versuchte der Mensch einst mit Krieg und Eroberung zu lösen. Ein Weltkrieg im traditionellen Sinne ist heute undenkbar geworden. Er würde in der Vernichtung der ganzen Menschheit enden. Aber wie wäre es mit dem unblutigen «Krieg ­gegen die Klimakatastrophe»?

Genau das schlägt der ehemalige Greenpeace-­Aktivist Paul Gilding vor. Und der Vorschlag ist nicht so fantastisch, wie er tönt.

Um die Erde wirkungsvoll gegen die Schäden der Klimaerwärmung zu schützen, braucht es Anstrengungen, die «kriegsähnlichen» Charakter haben. Das führte der Hurrikan Sandy im letzten November deutlich vor Augen. Allein um eine Stadt wie New York wirksam abzuschirmen, waren ein riesiger Arbeitsaufwand und Dutzende von Milliarden Dollar nötig. Die Infrastrukturen für eine nachhaltige Energieerzeugung, aber auch für intelligente Stromnetze werden künftig Unsummen von Geld verschlingen.

Infrastrukturen für eine nachhaltige Energieerzeugung werden künftig Unsummen von Geld verschlingen.

Ein erfolgreicher «Krieg gegen die Klimaerwärmung» könnte auch die Voraussetzungen schaffen für eine nachhaltige Wirtschaft. Davon träumt etwa der Soziologe und Ökonom ­Jeremy ­Rifkin. Er spricht von einer «dritten industriellen Revolution» und versteht darunter die Verschmelzung von Internet und erneuerbarer Energie. Sie werde zu einem «Paradigmenwechsel führen, der die ganze Gesellschaft ergreift».

Rifkin ist überzeugt, dass die Menschheit sich ­derzeit in einer Endspielsituation befindet. Dank «grüner» Technologie seien die Probleme aber in den Griff zu bekommen. «Noch im 21. Jahrhundert werden Hunderte Millionen Menschen in Häusern, Büros und Fabriken ihre eigene ‹grüne› Energie erzeugen und diese mit anderen über intelligente, dezentrale Stromnetze teilen, so wie die Menschen heute ihre eigenen Informationen erstellen und über das Internet mit anderen teilen», sagt Rifkin.

Alles bloss romantische Schwärmerei?

Ein unblutiger Klimakrieg und ein dezentraler, sanfter Ökokapitalismus – alles bloss romantische Schwärmerei?

Mag sein. Doch die Alternativen sind ebenfalls wenig realistisch: Der aktuelle Wachstumstrend führt in die ­Katastrophe, und darauf zu hoffen, dass Markt und Technik allein einmal mehr alles zum Besten kehren, scheint mindestens ebenso naiv. Denn nicht nur ökologisch sind die Grenzen des Wachstums ­erreicht.

Die Hoffnung, dass Markt und Technik erneut alle Probleme lösen werden, ist naiv.

Diverse Ökonomen prognos­tizieren, dass auch in technologischer und wirtschaftlicher Hinsicht keine bahnbrechenden Neuerungen zu erwarten seien. So etwa Robert J. Gordon von der amerikanischen Northwestern University. Einen mit den beiden bisherigen industriellen Revolutionen vergleichbaren Wachstumsschub werde uns die dritte industrielle Revolution, die digitale, nicht mehr bescheren können, schreibt der Sozialwissenschaftler in seinem Buch «Beyond the Rainbow».

Das Wachstum des 20. Jahrhunderts sei ein einmaliges Phänomen gewesen, begründet durch bahnbrechende ­Entdeckungen wie den elektrischen Strom oder Erfindungen wie den Verbrennungsmotor. Die west­liche Gesellschaft, sagt Gordon, werde sich auf viele Jahre mit einem eher kleinen Wirtschaftswachstum einstellen müssen.

Menschen haben immer wieder nachhaltige Lebensformen entwickelt, auch in der Südsee. Auf der Insel Tikopia etwa ist die Geschichte der polynesischen Einwanderer ganz anders verlaufen als auf der Osterinsel. Ihnen ist es gelungen, ein funktionierendes Ökosystem zu kreieren und über Jahrhunderte im Gleichgewicht zu halten.

Sie bauten Pflanzen so an, dass die Böden nicht ausgelaugt wurden, und verbannten Schweine, weil deren ökolo­gischer Fuss­abdruck zu gross war: Die Tiere verbrauchten zu viel landwirtschaftliche Produkte und verhinderten eine ausgewogene Ernährung der Menschen.

Leider war Tikopia kein Paradies. Die Balance des ökologischen Systems musste mit drastischen ­ge­sellschaftlichen Eingriffen erzwungen werden. Eine strenge Geburtenkontrolle, Vertreibung und sogar Kindstötung sorgten für eine konstante Bevölkerungsgrösse. Erst als die christlichen Missionare aus dem Westen ­auftauchten, brach das gesellschaftliche und ökolo­gische System zusammen: Die Eindringlinge bestanden auf kinderreichen Familien – und bescherten der Nachhaltigkeit ein rasches Ende.

Unter dem Titel «Mehr oder weniger oder anders? Wachstum auf dem Prüfstand» veranstaltet das ­Advanced Study Centre der Uni Basel ein Symposium mit Workshops: Donnerstag (31.1.) und Freitag (1.2.), Ackermannshof, St. Johanns-Vorstadt 19–21, Basel. Infos und Anmeldung unter www.uniweiterbildung.ch oder www.philosophicum.ch

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.01.13

Nächster Artikel