«Der freie Markt hat uns versklavt»

Der tschechische Ökonom Tomáš Sed­láček über die Gründe der Schuldenkrise und die Hilflosigkeit der klassischen Wirtschaftslehre.

Tomáš Sed­láček: «Kein Staat geht wegen fehlendem Wachstum bankrott, sondern wegen exzessiven Schulden.» (Bild: David Oliveira)

Der tschechische Ökonom Tomáš Sed­láček über die Gründe der Schuldenkrise und die Hilflosigkeit der klassischen Wirtschaftslehre.

Zwölf Jahre schrieb Tomáš Sed­láček an «Die Ökonomie von Gut und Böse». Darin legt er eine umfassende Kulturgeschichte des Wachstumsdenkens vor. Ein «Buch für 500 Intellektuelle» sollte es werden – mittlerweile wurde es in 14 Sprachen übersetzt.

Es waren die richtigen Gedanken zur richtigen Zeit, nachdem die Finanzkrise seit 2007 Millionen von Menschen und ganze Staaten in den Ruin treibt. Seither ist der 35-jährige Makroökonom der grössten tschechischen Bank ČSOB Nonstop auf Achse. Er wird an Festivals, auf Konferenzen und in Fernsehshows eingeladen und hat sein Sachbuch fürs Nationaltheater in Prag adaptiert.

In packenden Vorträgen ergründet Sedláček die Ursprünge unseres ökonomischen Denkens und die Ursachen für die jüngsten Perversionen des Wirtschaftssystems. Dabei stützt er sich nicht nur auf die ökonomischen Theorien Adam Smiths und John Maynard Keynes’, sondern genauso auf Dialoge aus «Matrix», auf Fabeln aus «Lord of the Rings» und Geschichten aus dem Alten Testament.

«Erinnern Sie sich an die biblische Geschichte der sieben fetten und sieben mageren Jahre, von denen der Pharao träumte?», fragt Sedláček plötzlich während des Gesprächs: «Josef riet dem Pharao, esst nicht alles während der guten Jahre, so bleiben Reserven für die mageren. Viele Staaten haben genau das Gegenteil gemacht. Sie haben nicht nur alles gegessen, sondern noch mehr, als gewachsen ist. Und nun sind wir erstaunt, dass die Lagerhallen leer sind. Oder noch schlimmer: dass sie voller Schuldscheine sind.»

Herr Sedláček, Ihre Kritiker ­werfen Ihnen vor, dass Sie un­wissenschaftlich argumentieren. Ihre Analysen und Vorschläge hören sich oft einfach an angesichts der Misere der ­globalen Wirtschaftskrise.

Wir haben in den vergangenen Jahren künstliches Wachstum geschaffen – mit Geld, das wir nicht hatten. Das muss aufhören. Um das zu verstehen, braucht es keine Mathematik, keine Ökonometrie oder Theorien des «homo oeconomicus».

Sie kritisieren den Wachstumsglauben. Haben denn die Ökonomen aus Ihrer Sicht den gesunden Menschenverstand verloren?

Ja, und die ganze Mathematik hat wesentlich dazu beigetragen. Wenn sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort genutzt wird, hilft sie Dinge erklären. Doch falsch eingesetzt, vernebelt sie den gesunden Menschenverstand.

Sie verurteilen auch die Deutungshoheit der Ökonomie in unserer Gesellschaft gegenüber anderen Sozialwissenschaften wie zum Beispiel der Philosophie oder Soziologie.

Die Ökonomie wurde zur eigenen ­Religion und zum Fetisch. Wir erklären damit die Kirche, Recht, Fami­lienbeziehungen, Politik. Wir nutzen die ökonomische Logik für fast alle Bereiche des Lebens. Kann man ­Liebe mathematisch erklären? Ja, wahrscheinlich könnte man das. Ist es pervers? Ja, absolut, also lassen wir es doch lieber sein!

Wie konnte es so weit kommen?

Die Marktwirtschaft hat uns in der Vergangenheit grossartig gedient und uns zu enormen Reichtümern verholfen. Doch gleichzeitig wurde der freie Markt zu unserem Meister und hat uns versklavt. Früher hiess es noch: Eine ­demokratische Marktwirtschaft produziert Wachstum. Heute ist es genau umgekehrt: Wachstum ist zur «conditio sine qua non» geworden, zur unabdingbaren Voraussetzung für eine demokratische Marktwirtschaft.

Wird es also Zeit, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten, weil er als wirtschaftliches Modell ­ausgedient hat?

Nein, wir stecken nicht in einer Kapitalismuskrise. Der Kapitalismus ist nicht perfekt, aber er hat viele Vorteile gegenüber anderen Systemen. Das Problem ist vielmehr der Wachstumskapitalismus.

Sie behaupten also, dass eine Marktwirtschaft ohne Wachstum möglich wäre?

Absolut. Kein Staat geht wegen fehlendem Wachstum bankrott, sondern ­wegen exzessiven Schulden. Staaten können – vorausgesetzt sie haben keine Schulden – auch ohne Wachstum über Jahrzehnte in einer guten Position ­verharren. Es braucht eine gewisse Umstrukturierung des Systems, damit auch für Arbeitslose und Arme gesorgt ist, aber gegen Armut und Arbeitslosigkeit gibt es wesentlich cleverere Mittel als Wachstum.

Zum Beispiel?

Nehmen wir das Aufnahmegerät, das vor uns auf dem Tisch liegt. Wenn die Nachfrage nach solchen Geräten plötzlich nachlässt, können die Unternehmer zehn Prozent der Leute entlassen. Sie können auch darauf warten oder künstlich nachhelfen, dass die Nachfrage ­wieder steigt. Oder sie arbeiten einfach weniger; dann haben sie zwar einen kleineren Verdienst, dafür mehr Freizeit, um das Erreichte zu geniessen.

Also Kurzarbeit für alle als Mittel gegen Arbeitslosigkeit? Das tönt gewagt.

Ich propagiere dieses Konzept derzeit in Tschechien. Lasst uns alle am Donnerstagabend heimgehen, für einen Sabbat, einen Tag, den wir mit unserer Familie verbringen oder in die Berge gehen. Du bist müde, die Technologie ist müde, selbst die Natur ist müde und braucht eine Auszeit.

Können solche Reformen alleine die Exzesse in unserer Gesellschaft eindämmen? Braucht es nicht tiefgreifendere Massnahmen?

Sie wollen wissen, ob Evolution oder Revolution? Ich habe den Kommunismus in der Tschechoslowakei noch miterlebt; dort brauchte es die Revolution, um sich vom alten System zu trennen. Trotzdem gehöre ich heute zu den Reformkapita­listen. Natürlich gibt es die Selbstver­sorgungsinitiativen und Gemeinschaften mit eigenen sozialen Währungen; aber das funktioniert nur im kleinen Massstab.

Inwiefern würde eine Abkehr vom unbedingten Wachstums­streben auch unsere Umwelt­probleme lösen?

Ein Wachstumsverzicht wird uns sicherlich helfen, von einer Schwer­-gewichts-Ökonomie zu einer leichteren, wissens­basierten und umweltverträg­licheren Wirtschaft zu gelangen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.01.13

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