Der religiöse Fanatismus macht auch vor der Schule nicht halt. Und beschäftigt immer wieder Behörden und Justiz.
Mit der Religion ist es ein bisschen wie in der Politik: Die Etablierten verlieren Anhänger, die an den Rändern haben Zulauf. Was die Religion betrifft, ist die Entwicklung in Richtung Extreme vermutlich noch auffälliger.
Während den offiziellen Landeskirchen die Mitglieder weglaufen respektive wegsterben, verzeichnen freikirchliche Vereinigungen in den letzten Jahren einen steten Zuwachs. Kommt hinzu, dass mit der Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen auch andere Religionen als die christliche hierzulande an Bedeutung gewonnen haben.
Zwar lebt die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung, selbst wenn sie offiziell einer der grossen Religionsgemeinschaften angehört, eher nach säkularen Prinzipien, dafür sind die religiösen Minderheiten umso strikter in ihren moralischen Vorstellungen.
Moral aus vergangen geglaubten Zeiten
So ist es kein Wunder, dass sich heutzutage die Schulen wieder intensiver als auch schon mit dem Thema Religion auseinandersetzen müssen. Und manchmal reibt man sich die Augen, um sich zu vergewissern, dass wir tatsächlich im 21. Jahrhundert leben.
Für Schlagzeilen sorgten in letzter Zeit verschiedentlich strenggläubige Moslems, die ihre Kinder nicht am obligatorischen Schwimmunterricht teilnehmen lassen wollten. So erst kürzlich wieder ein Fall im Kanton Aargau, wo eine Familie bis vor Bundesgericht gelangt war. Dies, weil ihr Gesuch, die 14-jährige Tochter vom Schwimmobligatorium befreien zu lassen, von den vorangegangenen gerichtlichen und behördlichen Instanzen abgelehnt worden war.
Wegweisendes Urteil
Integration komme vor Religionsfreiheit, befand das oberste Gericht der Schweiz. Zumal der Schwimmunterricht geschlechtergetrennt stattfinde und dem Mädchen ausserdem das Tragen eines Burkinis erlaubt sei. In den Medien wurde das Urteil als wegweisend bezeichnet. Die Familie will nun vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gegen den Entscheid des Bundesgerichts klagen.
Auch der Kanton Basel-Stadt musste sich schon mehrere Male mit muslimischen Eltern befassen, weil sie ihre Kinder nicht zum Schwimmunterricht schickten. Dabei ging es allerdings um den gemischt-geschlechtlichen Unterricht in den unteren Primarstufen. Also um erheblich jüngere Kinder als im Aargauer Fall. Und auch dazu gibt es bereits ein Urteil des Bundesgerichts.
Sie berufen sich auf «Schamerziehung»
Es lehnte im März 2012 die Beschwerde eines Elternpaars ab, das vom Erziehungsdepartement gebüsst worden war, weil es seine beiden Töchter trotz mehrmaliger Aufforderungen durch die Schulleitung nie am Schwimmunterricht teilnehmen liess. Auch in diesem Fall befand das Lausanner Gericht, die schulischen Pflichten und die damit verbundene «soziale Einbindungsfunktion habe Vorrang vor den religiösen Geboten einzelner Bevölkerungsteile».
Auch diese Eltern hatten sich auf die Glaubensfreiheit berufen und darauf, dass eine islamisch orientierte Schamerziehung schon vor der Geschlechtsreife einen gemeinsamen Schwimmunterricht von Buben und Mädchen verbiete. Ausserdem hätten ihre Töchter in einem privaten Unterricht schwimmen gelernt.
Zum Wohl der Kinder
Es gehe aber nicht in erster Linie um das Schwimmenlernen, sagt Pierre Felder, Leiter Volksschulen beim Erziehungsdepartement dazu, sondern vielmehr um die Gleichbehandlung aller Kinder in der Schule – um die Integration in unsere Gesellschaft mit den hier gültigen kulturellen und sozialen Werten. «Letztlich geht es um das Wohl der Kinder, die ein Recht haben auf ein selbstbestimmtes Leben.» Auch diese Eltern haben das Lausanner Urteil nicht akzeptiert und in Strassburg Beschwerde dagegen eingelegt. Die Entscheidung steht noch aus.
Die beiden Mädchen sind inzwischen 12 und 14 Jahre alt, für sie hat sich das Thema inzwischen von selbst erledigt. Denn, wie Felder sagt, gibt es in den oberen Schulklassen keinen gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht mehr.
Aber es finden zum Beispiel Schullager statt.
Und obwohl die Schulen mit Massnahmen wie Betreuung durch Lehrpersonen beider Geschlechter, Rücksicht auf Speisevorschriften und anderem mehr dafür garantieren, dass solche Ausflüge einwandfrei ablaufen, gibt es immer wieder Eltern, die mit Dispensgesuchen an die Schule gelangen. Darunter manche Eltern, die einer Freikirche angehören.
Denn, wenn auch die Fälle strenggläubiger Muslime bezüglich Schwimmunterricht grösseres mediales Aufsehen erregt haben, «auch mit Evangelikalen geraten wir immer wieder in Dissens», sagt Pierre Felder. Wie viele Gesuche jährlich aus diesen Kreisen eingehen, könne er nicht beziffern, da sie bei den jeweiligen Schulleitern eingingen und nicht zentral erfasst würden. Mit Sicherheit könne er aber sagen: «Dispensgesuche bescheren den Schulen grundsätzlich einen beträchtlichen Aufwand.»
Ausnahmen für hohe Feiertage
Vorbeugend hat man deshalb beim Erziehungsdepartement eine «Handreichung für den Umgang mit religiösen Fragen an der Schule» ausgearbeitet. Dort steht klipp und klar, dass es kein Schulangebot gebe, an dem Schülerinnen und Schüler aus religiösen Gründen nicht teilnehmen können. Gemäss Schulordnung können sie einzig an hohen Feiertagen ihrer jeweiligen Religion vom Unterricht dispensiert werden.
Damit ist der verfassungsrechtliche Anspruch auf Glaubensfreiheit erfüllt. Aber: «Wenn religiös motivierte Dispensationsgesuche für den Sport- und Schwimmunterricht oder für Klassenlager mit Verweis auf das Toleranzgebot gewährt werden, wird ein Grundrecht des Kindes missachtet: das Recht, die gleiche Bildung zu erhalten wie andere Kinder.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.05.13