Ist das Kunst oder kann das weg?

Eine 30-jährige Ära geht zu Ende: Die Basler Kunststudierenden ziehen aus dem Kleinbasel weg, zum Campus im Dreispitz. Und der Institutsleiter René Pulfer geht in Pension. Eine Reportage.

(Bild: Nils Fisch)

Eine 30-jährige Ära geht zu Ende: Die Basler Kunststudierenden ziehen aus dem Kleinbasel weg, zum Campus im Dreispitz. Und der Institutsleiter René Pulfer geht in Pension. Eine Reportage.

Normalerweise zaubert der Spruch nur ein müdes Lächeln auf die Lippen von Kunstschaffenden: «Ist das Kunst oder kann das weg?» Tatsächlich aber treibt genau diese Frage seit ein paar Wochen die Studierenden des Instituts Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK) und ihren Leiter René Pulfer um. Ende Januar hat man damit begonnen, im Theobald-Baerwart-Schulhaus bei der Basler Dreirosenbrücke Sack und Leinwand einzupacken, um alles zum neuen Campus auf dem Dreispitz zu transportieren. Noch stehen am alten Ort vereinzelt Kisten rum, farbverspritzte Stühle, Tische, Maschinen, darunter auch alte Filmprojektoren, die die neue Schule nie erreichen werden.

Inmitten dieser grösser werdenden Leere treffen wir René Pulfer. Er durchsucht die letzten Schränke, packt ein, was noch mit soll, entsorgt, was nicht mehr gebraucht wird – auch Kunstwerke, notfalls. Eine spezielle Situation für den Leiter des Instituts Kunst, denn der Auszug aus diesem Schulhaus steht auch für seinen Abschied: Am 31. März hat er seinen letzten Arbeitstag. Die Rente ruft.

Als sich Videokunst durchsetzte

Er hört es nicht gern, wenn wir sagen, das komme wohl dem Ende einer Ära gleich. «Ich gehe mit gelebten Jahren», sagt er. «Man muss das mit einer gewissen Radikalität beenden.» So falsch aber ist das mit dem Ende der Ära dennoch nicht. Denn Pulfer war schon dabei, als 1985 die ersten Kunststudierenden ins Baerwart-Schulhaus einzogen.

Damals hatte er gerade mit Enrique Fontanilles die Klasse für Audiovisuelle Gestaltung an der damaligen Schule für Gestaltung ins Leben gerufen. Gegen beträchtliche Widerstände, wie er sich erinnert – gerade im Kollegium war die Skepsis gross: «Videokunst war damals recht neu, Ausbildungsgänge international rar gesät», erzählt er. «An drei Punkten machte man intern den Widerstand fest: Das Medium sei nicht künstlerisch zu nutzen, museal nicht beachtet und didaktisch nicht vermittelbar.» Doch die Video-Fachklasse kam, zog als Erste ins Schulhaus ein – und mit ihr bald auch eine junge Studentin aus dem St. Galler Rheintal, die sich Pipilotti nannte und mittlerweile zu den erfolgreichsten Künstlerinnen der Welt gezählt wird.

Die suggestive Frage, ob ihn Erfolge wie jener von Pipilotti Rist besonders stolz machen, behagt ihrem einstigen Mentor offensichtlich nicht. «Man kann so etwas nicht einfach auf mich zurückführen», sagt Pulfer. «Eine Kunstausbildung heisst auch direkte Förderung am Individuum mit dem Individuum.» Den Raum geben für die Entfaltung, die Arbeitsinstrumente für das Experimentieren, Zeit für die Erfahrungen, die Suche nach dem Ausdruck. Das wollte er den Studierenden ermöglichen.

Dass einige Abgängerinnen und Abgänger heute Stars sind: Es scheint, als wäre der Institutsleiter der Letzte, der damit prahlen würde. Vielmehr umschifft er das Name-Dropping, betont, dass ihm nicht nur jene, die durch namhafte internationale Galerien wie Hauser & Wirth vertreten würden, am Herzen liegen, sondern alle, die exemplarische Arbeit leisten, selbst wenn sie damit nicht dieselbe Öffentlichkeit erfahren wie Pipilotti Rist oder Christoph Büchel.

Im alten Schulhaus schnitt Pipilotti Rist ihre ersten Videos.

Pulfer öffnet die Tür zu einem Raum im Erdgeschoss, wo er einst die ersten Videoschnittplätze einrichtete. Bald danach zogen hier am Kleinbasler Rheinufer auch die Fachklassen Bildhauerei und Malerei ein. Jahre später wurde die HGK in die Fachhochschule Nordwestschweiz integriert, dann dem Bologna-System unterstellt. Pulfer wurde erst Professor, später Co-Leiter des Instituts Kunst, das er seit Sibylle Omlins Weggang vor fünf Jahren alleine führt.

Entrümpeln der eigenen Vergangenheit 

Für Pulfer bedeutet das Ausmisten auch das Entrümpeln der eigenen Vergangenheit. Es hat sich viel angesammelt in den Schränken: Papier, Filme, Fotos (darunter etwa eine historische Dia-Sammlung, die dem ehemaligen Direktor des Kunstmuseums Georg Schmidt zugeschrieben wird) – nicht bei allem fällt die Trennung leicht. «Ist dieses Aufräumen auch ein Stück weit Seelenhygiene?», wollen wir wissen. Pulfer lächelt und zuckt die Schultern. Er ist nicht der Mann der pathetischen Worte. Sein Humor trocken. Seine Hingabe, das merkt man aber, gross.

Sentimentalitäten scheinen ihm unbehaglich. Dennoch sieht man ihm beim Rundgang durchs 112-jährige Haus an, dass er nicht ganz vor nos­talgischen Gefühlen gefeit ist. Spricht man ihn darauf an, wiegelt er ab: «Man muss auch die Chancen sehen, die der Umzug bietet», sagt er. Weg vom sanierungsbedürftigen Schulhaus, hin zum neuen Campus mit weis­sen Wänden und klaren Strukturen. Fehlt da nicht die Seele?

Nähe zu den Zwischennutzungen

Pulfers Augen zwinkern hinter den Brillengläsern, er spricht vom «Prinzip Hoffnung», das bei der Eroberung des Dreispitzes gelten soll. Gleichzeitig erinnert er sich, wie motiviert Studierende und Dozierende die Räume den jeweiligen Bedürfnissen angepasst und das Baerwart-Schulhaus in ein Kunstnest verwandelt hatten.

En passant erwähnt er die legendäre Zwischennutzung Schlotterbeck beim Basler Bahnhof. Damals sei ja auch das, was die Menschen aus den Räumen und in den Räumen gemacht haben, entscheidend gewesen. «Ein gutes Klima muss sich bilden. Das war hier im alten Schulhaus nicht anders.» Dass die einzelnen Institute über die ganze Stadt verteilt waren, hatte Vorteile: «Jedes Institut konnte eine eigene Identität entwickeln.»

Während er das sagt, räumen Studierende letzte Habseligkeiten aus den Gemeinschaftsateliers. Oft zeugen nur noch Farbspuren an den Wänden von ihren Bewohnern, in anderen Kojen stehen noch Bilder oder ein Sofa. Auch ein Schrank voller Kleider ist noch da. «Am neuen Ort wird das in dieser Form nicht mehr möglich sein», sagt Pulfer. «Die Ateliers und die zentralen Werkstätten werden – wie soll man sagen – professionalisiert?»

Eine denkwürdige Performance

Undenkbar, dass auf dem Dreispitz Szenen für ekliges Amüsement sorgen werden wie jene, als im alten Schulhaus Material für eine Skulptur auf einmal zu leben begann. Jemand, der mit Popcorn arbeitete, hatte eines seiner Werke in einem Schrank gelagert. Monatelang. Auf einmal surrte eine spezielle Mückenart durchs Institut, ein Kammerjäger musste gerufen werden. Dieser, «eingekleidet wie ein Astronaut», setzte dem madigen Treiben ein Ende und nebelte alle Räume ein. Eine Performance, die Pulfer nicht so schnell vergisst.

Im Keller, in der bisherigen Malwerkstatt, kann man den Unterschied zum Campus erahnen. Der Raum ist zwar alt, hat aber Charme. Grosse Fenster, ein mit Farbe bekleckerter Boden. Den neuen Raum auf dem Dreispitz, mit Dachschrägen und Oberlicht, werden die Studierenden sich erst aneignen müssen – immerhin weisen die Böden noch die Patina des ehemaligen Zollfreilagers auf.

Nun soll die HGK internationaler werden. Das beginnt damit, dass man alle Institute an einem Fleck zentralisiert. Auch die künftige Institutsleiterin Kunst zeugt von diesem Schritt: Chus Martinez heisst die ausgebildete Kunsthistorikerin, sie ist Spanierin, und ihre Wege führten sie als Kuratorin via Berlin, die USA und Bilbao bis zur Documenta nach Kassel.

Was die HGK auf dem Kunstcampus erwartet, ist nicht die erste Neuausrichtung, welche die Schule erfährt. Pulfer erzählt von der Zeit, als man noch von «Weiterbildungsklassen für Audiovisuelle Gestaltung» sprechen musste, um von den Subventionsgebern akzeptiert zu werden. «Die Ausbildung in Freier Kunst gab es lange Zeit nicht in der schweizerischen Bildungspolitik.»

Man wird René Pulfer weiterhin begegnen – als Künstler.

Bezeichnungen kamen und gingen (Kunstgewerbeschule oder Schule für Gestaltung etwa), was blieb, ist die liebevolle Abkürzung «Kunschti» – obschon diese längst zur Hochschule aufgestiegen ist. Manche Dinge ändern sich nie. Das weiss auch der scheidende Institutsleiter Pulfer. Auf einem Zügelkarton steht sein Name mit «v» geschrieben. Daran hat er sich über die Jahrzehnte ebenso gewöhnt wie an Reformen. Oder an die Tatsache, dass er zwar immer älter wurde, die neuen Studierenden aber immer in ihren Zwanzigern waren.

Fürchtet er nicht, in ein Loch zu fallen, nachdem er seine Schlüssel abgegeben hat? «Ich hatte lange Zeit, mich auf diesen Moment vorzubereiten», wiegelt er ab. Und an Ideen für die Zukunft mangelt es ihm keineswegs. Da ist eine Sammlung an Kunstvideos, die zweitgrösste ihrer Art in der Schweiz, um die er sich kümmern wird. Eine Frage, die ihn ebenso beschäftigt wie die Kunstwissenschaft, ist die Frage der Archivierung, der Rettung vor dem Zerfall: «Das Wissen um das Verschwinden des Wissens.»

Doch nicht nur als Archivar und Sammler wird er weiterhin aktiv sein. Auch seine eigene Arbeit als Video-Künstler, die er als einer der Schweizer Pioniere seit über vierzig Jahren pflegt, will er weiterführen: «Man wird mir wieder vermehrt als Künstler begegnen.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 14.03.14

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