Die Erika-Mann-Grundschule in Berlin geht neue Wege. Schüler lernen individuell und selbstständig. Auch Basler Bildungsexperten lassen sich hier inspirieren.
Kinder wuseln durch die Gänge. Die Wände und Schränke sind pink bemalt. Auf den ersten Blick erinnert wenig an verstaubte Klassenzimmeratmosphäre. Jedes Stockwerk hat ein ganz besonderes Interieur, einer fantasievollen Drachenwelt nachempfunden. Schülerinnen und Schüler haben dieses Design vorgeschlagen, sie konnten selbst entscheiden, wie ihre Umgebung aussieht. Sie sollen sich eben wohlfühlen in ihrer Schule.
Fast täglich pilgern Besuchergruppen aus ganz Europa an die Erika-Mann-Grundschule in Berlin. Vor zwei Jahren kam sogar die «Königin von Deutschland» – so wurde die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel von einigen Schülern genannt. Auch Bildungsexperten aus Basel kommen regelmässig zu Besuch, um von den Berlinern zu lernen.
Die Schule befindet sich mitten im Brennpunktbezirk Wedding, zwischen Osloer- und Seestrasse. Der Wedding ist ein Kiez, wie die Berliner zu ihren Bezirken sagen, mit einer Arbeitslosenquote um die 17 Prozent. Über 80 Prozent der Schulkinder haben Migrationshintergrund. Das muss per se kein Problem darstellen.
Auf Hausaufgaben wird verzichtet
Mit sanfter Stimme berichtet die Rektorin Birgit Habermann von den Herausforderungen ihrer Schule. Immer wieder fällt das Wort «Inklusion». Ein geflügeltes Wort, aber was bedeutet es eigentlich? «Inklusion heisst: Wir holen jedes Kind dort ab, wo es steht», erklärt Habermann. Dies betreffe nicht nur Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, zum Beispiel Schüler mit Down-Syndrom. Es gelte gleichermassen für den Jungen mit türkischem Background, der nur wenig Deutsch spricht, wie auch für das Mädchen mit geistiger Behinderung. Beide hätten einen Förderbedarf und müssten individuell behandelt werden.
Das klingt einleuchtend, doch funktioniert das wirklich im hektischen Schulalltag? «Wir haben dazu Schulhelfer und Integrationslehrer im Unterricht», sagt Habermann. Daneben greife man im Unterricht auf alternative Lernmethoden zurück. Etwa Lernstationen, an denen die Schüler selbstständig lernen können. Oder Selbsteinschätzung: Die Schüler können selbst entscheiden, auf welchem Test-Level sie geprüft werden sollen. Auf Hausaufgaben wird ganz verzichtet.
Ein wichtiger Teil des Konzepts für Inklusion ist auch der Tagesschulbetrieb. Über 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind in Tagesstrukturen eingebunden, von morgens bis spätestens 18 Uhr. Dadurch findet ein soziales Lernen statt, meint Habermann. «Es geht darum, dass die Kinder selbstständig und in einer vielseitigen Umgebung lernen.»
Ueli Keller, Bildungsexperte aus Allschwil, hat die Schule schon öfters besucht. Was ihn am meisten beeindruckte, war, dass «mit intensiver Beteiligung der Kinder und mit verhältnismässig wenig Geld eine sehr schöne und eindrückliche Schule eingerichtet» wurde.
Auch Claudia Magos, die Verantwortliche für Tagesstrukturen im Kanton Basel-Stadt, war schon an der Erika-Mann-Grundschule. «Das ganze Schulhaus wird dort zu einem Lebensraum für die Schülerinnen und Schüler», schwärmt sie. Im Tagesschulbereich stellte Magos aber doch einige wesentliche Unterschiede fest: «Beispielsweise der etwa doppelt so hohe Betreuungsschlüssel. Oder die Essensausgabe, die gestaffelt abläuft und beinahe etwas Industrielles hat.»
In der Tat sind die Bedingungen für die Betreuung ganz anders. In Basel kommen acht Kinder auf eine Erziehungsperson. In Berlin sind es offiziell 23 zu 1. In der Praxis sei der Betreuungsschlüssel jedoch tiefer, da es zum Beispiel für Integrationskinder mehr Personalressourcen braucht, sagt der Hortleiter Mike Menke. Für jedes Kind, das zu Hause nicht Deutsch spricht, darf Menke einen Zuschlag an Personal einrechnen. Auch für Kinder aus «sozialen Brennpunkten» kriegt die Tagesbetreuung einen gewissen Prozentsatz an Personal gesprochen. Konkret kann es auch so sein, dass ein Erzieher für ein Integrationskind in einer Eins-zu-eins-Betreuung zuständig ist.
Ein weiterer Unterschied liegt im Elternbeitrag für die Betreuung. Eine Familie, die Arbeitslosengeld bezieht, zahlt in Berlin ungefähr 30 Euro monatlich für die Nachmittagsbetreuung, inklusive Mittagessen und Ferienbetreuung. In Basel-Stadt kostet dieses Paket für Sozialhilfebezüger zirka 330 Franken pro Monat – ohne Ferienbetreuung. Gemessen an den Lebenskosten sind Berlin und Basel kaum vergleichbar. Ebenso wie in der Schweiz zahlen die Eltern einen einkommensabhängigen Beitrag. In Deutschland werden die Tagesstrukturen jedoch deutlich stärker subventioniert als in der Schweiz.
Ein zweites Zuhause
Auch in Berlin fehlt es an Fachkräften. So kommt es vor, dass eine Stelle nicht besetzt werden kann, weil kein ausgebildeter Erzieher zur Verfügung steht. Überfordertes Personal, das ist auch ein Stichwort, das man angesichts des hohen Betreuungsschlüssels in Wedding bestens kennt.
Dennoch ist der Platz in der Tagesbetreuung für die Integration, respektive Inklusion, sehr wertvoll, meint Menke. «Hier sprechen alle Deutsch miteinander. Das heisst, die Schüler werden sprachlich und sozial gefördert. Sie sitzen nicht zu Hause herum und schauen türkisches Fernsehen.»
Die Kinder spielen bis am späten Nachmittag auf dem Pausenhof. Da läuft ein Mädchen auf Stelzen umher, ein Grüppchen steht an der Tischtennis-Platte und kommentiert wild gestikulierend den Ballwechsel. Die Pausenglocke schrillt, einige laufen zurück in den Hort und werden dort von ihren Eltern abgeholt. Andere bleiben noch eine Weile da. Man hat den Eindruck, die Kinder bleiben nicht da, weil sie müssen – die Schule ist für sie ein zweites Zuhause geworden.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 14.03.14