«James ist Geschichte, der ist vorbei»

Der Historiker Alexis Schwarzenbach hat über seine berühmte Familie gründlich geforscht. Einem aber ist er aus dem Weg gegangen: Blocher-Vorläufer James Schwarzenbach. Dessen Name taucht heute wieder auf – im Zusammenhang mit der SVP-Initiative gegen die «Masseneinwanderung».

Alexis Schwarzenbach wahrt Distanz zur Geschichte seiner Familie, denkt aber gar nicht daran, sich von ihr zu distanzieren. (Bild: Paco Carrascosa)

Der Historiker Alexis Schwarzenbach hat über seine berühmte Familie gründlich geforscht. Einem aber ist er aus dem Weg gegangen: Blocher-Vorläufer James Schwarzenbach. Dessen Name taucht heute wieder auf – im Zusammenhang mit der SVP-Initiative gegen die «Masseneinwanderung».

Geschichte wiederholt sich. Fragmentarisch jedenfalls, wenn am 9. Februar über die Masseneinwanderungsinitiative abgestimmt wird. Damit will die SVP die Zuwanderung in die Schweiz mittels Kontigenten und Höchstzahlen begrenzen.

Dasselbe forderte 1970 ein Mann namens James Schwarzenbach mit ­seiner Initiative gegen die «Überfremdung» der Schweiz. Schwarzenbach zog damit alleine gegen das gesamte Establishment ins Feld; 46 Prozent der Abstimmenden holte er auf seine Seite. Hätte er gewonnen, wären über 300 000 Ausländer, zumeist Italiener, gezwungen gewesen, die Schweiz zu verlassen.

Immer wieder wird seither eine ­Linie gezogen: von Schwarzenbach zu Christoph Blocher, der mit seiner SVP nicht nur Programme, sondern auch Strategien vom ersten erfolgreichen Schweizer Rechtspopulisten entlehnte.

Die «Saat Schwarzenbachs»

Mit dem Historiker Alexis Schwarzenbach, einem Grossneffen von Ja­mes Schwarzenbach, wollten wir über diese Parallelen sprechen, über die «Saat Schwarzenbachs», wie es Helmut Hubacher nach dessen Tod 1994 formulierte, die in der Schweiz aufgegangen ist. Das Gespräch wurde ein anderes.

Alexis Schwarzenbach hat über seine Familie geforscht. James hat er ausgelassen. Der habe ihn nicht interessiert. Denn sein Gedankengut und die damit verbundenen Konflikte gab es in der Geschichte der bedeutenden Schweizer Industriellenfamilie schon früher: In den Nazi-Sympathien von Renée Schwarzenbach-Wille, der dominanten Figur der Familie in den 1930er-Jahren, und im Streit mit ­Renées Tochter, der linken, lesbischen Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach, die eine enge Beziehung zu Erika Mann unterhielt. Über beide, Renée und Annemarie, hat Alexis Schwarzenbach stark diskutierte Werke herausgebracht.

Das Gespräch dreht sich um die Bürde und die Befreiung davon, mit einer solchen Familiengeschichte aufzuwachsen. Und um James Schwarzenbach, den Uninteressanten.

Herr Schwarzenbach, wenn Sie sich heute die Schweiz anschauen, wie viel von der Familie Schwarzenbach steckt in diesem Land noch drin?

Eine Familie wie die unsere ist sehr weit gefächert, mit einem grossen Meinungsspektrum. Es gab extreme Rechte wie James und dezidierte Linke wie Annemarie. Dazwischen gibt es eine grosse schweigende Menge – die träge Masse von Menschen, die sich nie äussern. Das entspricht schon sehr stark der Schweiz, mit einer grossen unbeteiligten Mehrheit in der Mitte, die nicht einmal abstimmen geht, und die schwer greifbar ist.

Vor wenigen Tagen, unmittelbar nach dem Tod Nelson Mandelas, meinte Christoph Blocher, Mandela sei teilweise überschätzt worden. Auch zur Apartheid machte er eine eigentlich unfassbare Aussage: «Die Weissen hielten das Land damals sehr in Ordnung.» War das ein Déjà-vu-Moment für Sie beim Gedanken an James Schwarzenbach?

Bei der SVP ist sowieso vieles Déjà-vu. Das Feindbild des Anderen ist immer noch da, aber das hat nicht James erfunden, in Belgien oder Österreich gab es keinen James Schwarzenbach und doch entwickelten sich dieselben Strukturen im rechtskonservativen Spektrum.

Heute erscheint die Einschätzung Blochers als absonderlich, doch sie war in der Schweiz lange Zeit weit verbreitet. Mein Geografielehrer hat uns 1984 das Modell Südafrika als Vorbild angepriesen und die Besserstellung der Inder gegenüber den Schwarzen im damaligen Südafrika damit begründet, dass das Indo­europäer seien. Ich fand das grauenhaft.

Nach der überraschend knappen Ablehnung der Überfremdungsinitiative 1970 hiess es, dank Schwarzenbach habe sich eine unbekannte Schweiz Geltung verschafft. Das könnte man ihm auch als Erfolg anrechnen.

Was für eine unbekannte Schweiz soll das gewesen sein?

Jene, die von der politischen, medialen und wirtschaftlichen Elite ignoriert worden war.

Das hat doch nichts mit Schwarzenbach zu tun. Dasselbe Phänomen, dass aus einer Kluft zwischen Volk und Elite politisches Kapital geschlagen wird, sieht man in ganz Europa. Es gibt überall Kräfte, die gewisse Ängste, die in jeder Gesellschaft vorhanden sind, nutzen. Wenn James nicht gewesen wäre, hätte es ein anderer gemacht. Ohne ihn hätten wir eine genauso starke rechtskonservative Partei in der Schweiz, mit einem ähnlichen politischen Programm.

«Blocher hat kürzlich einen Verwandten von mir gefragt, ob ich ein Linker sei.»

Sie tun sich schwer damit, James Schwarzenbach grosse Bedeutung in der politischen Geschichte der Schweiz zuzumessen.

Ich weiss, weshalb ich solche Interviews nie wollte. Ich werde ungern schubladisiert. Im Zusammenhang mit James wollen die Leute immer wissen, wie ich zu seiner Politik stehe. Doch die mit seinem Namen verbundenen Debatten sind derart emotionalisiert und aufgeladen, dass sich die Menschen gegenseitig kaum noch zuhören. Die vom Bischof von Chur angefangene «Genderismus»-Debatte interessiert mich viel mehr. Es nervt mich masslos, wenn Vitus Huonder behaupten darf, Kinder von homosexuellen Paaren würden psychische Schäden erleiden. Ich bin mit einem Mann verheiratet, er hat Kinder aus seiner früheren Ehe mit einer Frau. Wir sind eine Patchwork-Familie, aber alle haben ein gutes Verhältnis zueinander.

Ist es schwierig für Sie, über James Schwarzenbach zu sprechen, weil Sie selber ein Schwarzenbach sind?

Nein, gar nicht. Ich meine bloss, die Vergangenheit soll nicht dazu dienen, Gegenwartspolitik zu machen. Aber Sie sind nicht überzeugt von meiner Antwort.

Sie wollen nicht vereinnahmt werden.

Christoph Blocher hat einen Verwandten von mir unlängst gefragt, ob ich ein Linker sei. Wie kommt er dazu, so eine Frage zu stellen? Das geht zu weit. Aber, dass ich mit rechtskonservativer Politik nicht viel anfangen kann, ist eigentlich offensichtlich. Ich lebe als schwuler Mann und profitiere von liberalen Gesetzen, wie könnte ich ausländerfeindliche Haltungen vertreten? Den Ausschluss des Anderen in der Politik ertrage ich nicht, ich gehöre ja selber einer Minorität an. Toleranz ist ein wertvolles Gut. Aber ich lasse mich vor keinen Karren spannen, auch nicht vor jenen der Linken.

Was verlangen die Linken von Ihnen?

Dort habe ich zuweilen die Erfahrung gemacht, dass einem so lange nicht zugehört wird, bis man sich öffentlich lossagt von seiner Geschichte, seiner Familie. Dieses Bedürfnis habe ich nicht. Ich wollte die Geschichte meiner Familie verstehen und in meinen Büchern anderen Menschen die Möglichkeit geben, sich eine eigene Meinung zu bilden.

«Ich wusste, dass ich mich sexuell anders entwickeln würde.»

Ist James Schwarzenbach eine Belastung für Sie?

James ist Geschichte, der ist vorbei. Wenn Sie mich mit ihm in Verbindung setzen wollen, tun Sie es halt.

Wieso hat es Sie nie gereizt, sich als Historiker mit James Schwarzenbach auseinanderzusetzen?

Über James wurde schon viel geschrieben, da gab es andere Familienmitglieder, die mich mehr interessiert haben. Als Jugendlicher las ich in den Zeitungen viel über Annemarie Schwarzenbach, meine Grosstante, und ich habe alles geglaubt, was drin stand – nämlich, dass sie drogensüchtig war und lesbisch und deshalb in grosse Konflikte mit ihrer Familie geriet. Zu dieser Zeit wusste ich, dass ich mich sexuell anders entwickeln würde als die meisten. Ihre Geschichte machte mir Angst, ich dachte, mir würde dasselbe widerfahren in dieser «bösen» Familie. Später fand ich heraus, dass Renée Schwarzenbach, Annemaries Mutter, eine Liebesbeziehung zu einer Frau unterhalten hatte. Sie war lesbisch – und alle wussten es. Da stimmte also etwas nicht in der Erzählung.

Und dann begannen Sie nachzuforschen.

Ich wollte wissen, wie die Familie mit einer Frau umging, die in eine andere Frau verliebt war. Erstaunlicherweise hat ihr Vater, General Wille, ihr zu ihrer «vortrefflichen Freundin» gratuliert. Die Deutschfreundlichkeit der Familie Wille, die zu einer offenen Sympathie für die Nazis führte, war das zweite wichtige Thema für mich. Ich wollte wissen, wie es dazu kam, dass meine Vorfahren Hitler ideell und finanziell unterstützt haben.

In so einer Familie konnten Sie gar nicht anders, als Historiker zu werden.

Ich habe 15 Cousins, wenn ich die Coucousins dazuzähle, sind wir über hundert. Aber ich bin weit und breit der einzige Historiker. Historiker wurde ich wegen meiner Mutter, sie wurde als Schweizerin in Ägypten geboren. Als Kind dachte ich mir, sie musste bei den Pyramiden gelebt haben. In meinen ersten Kinderzeichnungen zeichnete ich Palmen, Pyramiden, Löwen. Seit diesem kindlichen Interesse wusste ich, dass ich Geschichte studieren will. Die Geschichte meines Vaters hatte mich nie interessiert. Ich habe sie immer als sehr schweizerisch empfunden, als schwer, sie war nicht beflügelnd, sie hat meine Fantasie nicht angeregt.

«Ich wollte in ein Land, in dem mich keiner kennt.»

Die Schwarzenbachs als einflussreiche Industriellenfamilie in der Schweizer Geschichte ­haben Sie nicht fasziniert?

Es war ein Horror. Als Kind fragten mich die Leute oft, wessen Sohn ich sei. Das war unangenehm. Ich wollte nichts mit meinen Vorfahren zu tun haben. Ich wollte für das wertgeschätzt werden, was ich selber bin.

Und was war Ihr Weg dahin?

Ich musste aus Zürich raus, also ging ich nach England, um zu studieren. Ich wollte in ein Land, in dem unsere Familie keine Verwandten hat, in dem mich keiner kennt. Ich wollte mich neu erfinden, kam aber ziemlich schnell auf die Welt. Man kann sich als 19-Jähriger nicht neu erfinden. Denn man ist geprägt durch ­seine Familie, seine Herkunft.

Doch Sie blieben nicht in ­England.

Ich wäre sehr gerne dort geblieben, um zu forschen. Dann lehnte die Schweiz den Beitritt zum EWR ab. Ich hatte mich sogar auf der Botschaft registriert, um an der Abstimmung teilzunehmen. Nach dem Nein war ich unglaublich frustriert. Es bedeutete, dass ich keine Möglichkeit hatte, in Europa zu wohnen und zu arbeiten. Notgedrungen kehrte ich nach dem Studium nach Zürich zurück.

Da mussten Sie sich mit Ihrer Herkunft versöhnen.

Der Anfang der Versöhnung kam, als ich in Zürich Lektor bei einem Fotobuchverlag war. Das war wahnsinnig aufregend, wir arbeiteten mit den besten Fotografen und Museen der Welt zusammen. Zu jener Zeit entdeckte ich in der Bibliothek meiner Grosseltern ein Fotoalbum meiner Urgrossmutter Renée. Auf dem Umschlag standen Herzlein, es war eindeutig ein Liebesalbum. Ich schlug es auf und dachte: Wow, eine Frau aus dem Zürcher Grossbürgertum hat sich in eine Opernsängerin verliebt! Es war mit erotischen Fotografien bestückt. Das war unglaublich. Ich dachte, wenn eine so intensive, romantische Liebesdarstellung zwischen zwei Frauen möglich ist – sie hatten sich während 15 Jahren gegenseitig fotografiert – und das in dieser Familie, dann konnte der Grund für den Konflikt mit Annemarie nicht ihre Homosexualität gewesen sein. Das interessierte mich.

«Als Schweizer in Italien war man automatisch ein Schwarzenbach.»

Was lösten Ihre Forschungen ­innerhalb der Familie aus?

Während der Recherche hielten mich die meisten für komisch, man verstand nicht, weshalb ich mich für Renée interessierte. Sie war eine sehr dominante Person, und die meisten waren froh, dass sie weg war. Mein Vater hat als einer der ersten das fertige Manuskript gelesen, ein paar Tage später rief er mich an, er war ziemlich aufgebracht am Telefon. Er fragte sich, weshalb ihm sein Vater das alles nicht erzählt hatte. Das war ein Schlüsselerlebnis. Kommunikation in Familien zwischen den Generationen findet kaum statt. Mein Vater hat vieles von dem, was ich herausgefunden hatte, nicht ­gewusst. Es war schön, diese Dinge aufzuarbeiten, die ihn weiterbrachten.

Wie Annemarie war auch James Schwarzenbach ein Aussenseiter. Er politisierte sogar gegen die Interessen der eigenen Familie, indem er das Grosskapital, heute würde man Big Business sagen, angriff. War er das schwarze Schaf in der Familie?

Das Schwarze-Schaf-Ticket hatte schon Annemarie Schwarzenbach. Gut, sie war da schon lange tot. Er war ein Exzentriker, hatte das Ex­treme in sich. James war aber auch nicht so aussergewöhnlich. Er war einer von vielen jungen Männern aus dem Zürcher Bürgertum, die sich den Frontisten gegenüber aufgeschlossen gezeigt hatten.

Welche persönliche Erinnerung haben Sie an ihn?

Ich habe keine aktive Erinnerung an ihn. Meine Eltern haben mir von ihm erzählt und von dem, wofür er stand. Sie erzählten mir oft die Geschichte ihrer Hochzeitsreise nach Italien. Das war zur Zeit der Überfremdungsinitiative, die sich vor allem gegen italienische Arbeiter in der Schweiz richtete. Als sie mit ihrem Auto an einer Kreuzung etwas zu lange hielten, hupte das nachfolgende Fahrzeug und der Fahrer schimpfte «Hey Schwarzenbach!» Mein Vater wunderte sich: «Woher weiss der, dass ich Schwarzenbach heisse?» Dabei sah er nur das Schweizer Kennzeichen. Als Schweizer in Italien war man automatisch ein Schwarzenbach.

Wie stand Ihr Vater selber zur Initiative?

Mein Grossvater, der Cousin von James, war Chef des Wirtschaftsverbands «Vorort», der die Initiative bekämpfte. Das war ein grosses Politikum in der Schweiz, dass sich zwei Cousins befehdeten. Mein Vater trug damals ein T-Shirt mit der Aufschrift «Schwarzenbach-ab».

Alexis Schwarzenbach

Alexis Schwarzenbach, 1971 in Zürich geboren, studierte Geschichte am Balliol College in Oxford und promovierte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Zu seinen Büchern zählen «Die Geborene» über Renée Schwarzenbach-Wille und ihre Familie, «Auf der Schwelle des Fremden – das Leben der Annemarie Schwarzenbach» und «Königliche Träume», eine Kulturgeschichte der Monarchie seit 1789. Zuletzt publizierte er eine Biografie des Fotografen Emil Schulthess. Er ist freier Autor und Kurator in Zürich und Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. In seinem ­aktuellen Forschungsprojekt beschäftigt er sich mit der Zürcher Seidenindustrie.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 13.12.13

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