Sexting ist längst kein reines Jugendphänomen mehr. Der Medienpädagoge Philippe Wampfler erzählt, wie seine Schüler auf den Fall Geri Müller reagieren und ob sie Lehren daraus ziehen.
Zuerst die Bundeshaus-Sekretärin und jetzt der grüne Nationalrat Geri Müller (AG): Nacktbilder sind in der politischen und medialen Öffentlichkeit angekommen. Lange galt Sexting – also das Verschicken von Nacktbildern über die sozialen Medien – als Jugendphänomen. Das hat sich offenbar geändert, vermehrt sind es Erwachsene, die durch ihren unbedarften Umgang mit erotischen Bildern und Chatprogrammen auffallen.
Der Lehrer, Medienpädagoge und Publizist Philippe Wampfler beschäftigt sich seit Langem mit Jugendlichen und mit den sozialen Medien. Soeben hat er sein zweites Buch veröffentlicht («Generation Social Media»). Wampfler unterrichtet an der Kantonsschule Wettingen Deutsch, Philosophie und Medienkunde. Im Interview erzählt er, wie seine Schüler auf den Fall Geri Müller reagieren, wie die Jugendlichen selber mit erotischen Bildern umgehen und wo sie die Grenzen ihrer Privatsphäre sehen.
Herr Wampfler, am Wochenende ist eine Geschichte ins Rollen gekommen um den grünen Nationalrat Geri Müller und Nacktselfies, die er verschickt haben soll. Lassen Sie solche Themen in Ihren medienpädagogischen Unterricht einfliessen?
Klar. Ich bespreche solche Fälle oft mit meinen Schülern und lasse sie ihre eigene Medienpraktiken damit abgleichen.
Was ist die erste Reaktion Ihrer Schüler, wenn sie solche Fälle ansprechen?
Ein Befremden. Viele können es überhaupt nicht verstehen, wie man sich so nackt präsentieren kann. Sie sagen «so etwas würde ich nie tun». Das besondere an diesem konkreten Fall ist, dass viele meiner Schüler Geri Müllers Kinder kennen. Deshalb finden sie es doppelt beschämend. Müller hat aus ihrer Sicht seine Rolle als Vorbild nicht wahrgenommen. Das Thema Sexting betrifft wohl nicht allzu viele Jugendliche. Nach meiner Einschätzung leben zwischen zehn und zwanzig Prozent der sexuell aktiven Jugendlichen ihre Sexualität auch medial aus. Das müssen jedoch nicht unbedingt Nacktbilder sein. Es können auch einfach erotische Bilder an den Freund oder die Freundin sein, als eine Art «Gutenachtgruss».
Kann ein Fall Geri Müller die Jugendlichen wachrütteln?
Ja, vor allem wenn sie sehen, wie Bilder aus einem privaten Zusammenhang an die Öffentlichkeit gebracht werden. Das betrifft unter dem Stichwort «revenge porn» vor allem erotische Bilder, die nach dem Ende einer Liebesbeziehung auf einschlägigen Webseiten veröffentlicht oder im Bekanntenkreis herumgereicht werden.
Philippe Wampfler (links) und Matthias Oppliger (Bild: Selfie)
Sind sich ihre Schüler der Verletzlichkeit ihrer Privatsphäre bewusst?
Noch haben zu wenige Jugendliche dieses Bewusstsein. Aber es werden immer mehr. Gerade auch dank Fällen wie Geri Müller. Das Problem ist, dass die Jugendlichen immer früher mit sozialen Medien und Smartphones in Berührung kommen. Sie müssen den Umgang mit dieser Technologie erst noch lernen. Gleichzeitig fangen sie damit an, ihre Sexualität zu entwickeln. Das heisst sie sind oft doppelt unbedarft, medial und sexuell. Dass es so zu missglückten Erfahrungen kommen kann, ist wenig erstaunlich.
Werden sie dadurch vorsichtiger?
Die Jugendlichen beschäftigen sich ohnehin intensiv mit den sozialen Medien. Es ist ihnen enorm wichtig, was andere von ihnen sehen können. Welche Bilder öffentlich sind und wer darauf zugreifen kann. Wird ein Fall wie Geri Müller öffentlich, erinnere ich sie daran, dass sie sich selber Gedanken machen sollen über ihre Privatsphäre. Gerade wenn es um Fragen der Sexualität geht.
Es gibt Leute, die finden, dass uns ein Fall Geri Müller gar nichts angeht. Wie beurteilen das ihre Schüler?
Wenn Bilder aus einem privaten Rahmen öffentlich werden, erleben sie das als Grenzüberschreitung. Die meisten Jugendlichen wollen nicht, dass ihre Selfies ausserhalb der von ihnen intendierten Öffentlichkeit wahrgenommen werden. So treten sie beispielsweise auf Instagram oft unter Pseudonym auf. Sie wollen verhindern, dass Eltern und Lehrer sehen, wie sie sich dort präsentieren. Das Bewusstsein um das Anrecht auf Privatsphäre jedes Einzelnen ist sehr gross. Gerade weil sie natürlich wissen, dass ihnen das gleiche passieren könnte. Sie differenzieren jedoch durchaus, bei Geri Müller zum Beispiel sehen viele ein berechtigtes öffentliches Interesse.
In dieser Woche widmet sich die TagesWoche den «Selfies». Die digital verbreiteten Selbstporträts sind mitten in der Gesellschaft angekommen. Längst sind es nicht mehr nur Jugendliche, die sich unablässig selber fotografieren. Egal ob Städtereisende, Politiker oder Kunstfans in Museen, jeder knipst sich selbst. Mehr zum Thema lesen Sie auch am Freitag in der gedruckten Wochenausgabe der TagesWoche.