Die Angst geht um in Hollywood, und Nicolas Winding Refn («Drive») leuchtet sie neongrell aus: In seinem Arthouse-Slasherfilm «The Neon Demon» schickt er ein junges Model nach Los Angeles unter die Halsabschneider.
Der Kunstblut-Schocker bereitet vor allem der alteingesessenen Filmbranche in der kalifornischen Metropole eine Gänsehaut, denn das Schauermärchen ist erst der Anfang: Hatten es Streaming-Plattformen bislang auf ein TV-Publikum abgesehen, fallen sie jetzt immer häufiger in die Domäne der Hollywoodstudios ein.
Das Auswertungsfenster zugeschletzt
Den Anfang machte, einmal mehr, Netflix. Mit dem afrikanischen Kindersoldaten-Drama «Beasts of No Nation» von Cary Fukunaga («True Detective») war der Streaming-Gigant vergangenes Jahr erstmals an den Filmfestspielen von Venedig vertreten, in den USA startete der Film rechtzeitig zur prestigeträchtigen Award-Season in den Kinos.
Mehr noch als die verwehrte Oscar-Nomination für «Beasts of No Nation» und die #OscarSoWhite-Debatte aber empörte die Branche, dass Netflix dem Spielfilm nicht das sonst übliche Zeitfenster für eine Kinoauswertung geöffnet hatte: Statt 90 Tage zu warten, wurde «Beasts of No Nation» zeitgleich mit dem Kinostart für eine zahlende Kundschaft gestreamt.
Los Gatos statt Los Angeles
Dafür wurde das Drama von den grösseren US-Kinoketten mit einem Boykott belegt, entsprechend mager fielen die Gewinne an den Kinokassen aus. Für jedes Filmstudio ein Horrorszenario, für Netflix kein Problem.
Bei über 80 Millionen Kunden weltweit ist Abwechslung das A und O: Netflix bietet für jeden Geschmack etwas, wer an einem Inhalt keinen Gefallen findet, schaltet eben um – bezahlt ist das Abonnement trotzdem. So lässt sich auch harte Kost wie «Beasts of No Nation» querfinanzieren. Doch vor allem betreibt das Unternehmen Eigenwerbung: Filmemacher mit sperrigen oder künstlerisch eigenständigen Projekten sollen in der Kleinstadt Los Gatos bei Netflix vorsprechen statt bei den Studios in Los Angeles.
Und das sind beileibe nicht nur nerdige No-Names: Nach «House of Cards» will David Fincher als Nächstes gemeinsam mit Charlize Theron die Serie «Mindhunter» für Netflix produzieren, der Streaming-Anbieter hat sich zudem die Rechte an Brad Pitts Afghanistan-Kriegssatire «War Machine» sowie an Robert Redfords Science-Fiction-Romanze «The Discovery» gesichert.
Das Prinzip der Serie
Bei so viel Aussicht auf Ruhm und Reichtum mag Amazon nicht abseits stehen. 2010 ging der Online-Versandhändler über die Rechenbücher und gründete Amazon Studios, um Serien für die eigene Streaming-Plattform Amazon Prime zu produzieren.
Dabei setzt das Unternehmen auf Partizipation: Gestandene Filmemacher wie blutige Laien sind dazu aufgefordert, ihre Scripts und Treatments einzureichen, bislang sind 5000 Drehbücher für Pilotfolgen von Serien eingegangen. Seit 2013 wurden mehrere dieser Pilotfolgen gratis ausgestrahlt und von den Nutzern bewertet: Nur wer in der Publikumsgunst obenaus schwingt, hat Aussicht auf eine Fortsetzung als – kostenpflichtige – Serie.
Mit der Transgender-Komödie «Transparent» gewann Amazon im vergangenen Jahr bereits zwei Golden Globes. Zu den namhaften Regisseuren, die für Amazon arbeiten, zählt unter anderem auch «unser Mann in Hollywood»: Der Schweizer Marc Forster dreht soeben in den USA mit «Hand of God» seine erste Serie ab. Und mit Woody Allen hat der Internet-Riese einen Regisseur geködert, der sich in seinem unermüdlichen Filmoutput bestens auf das Prinzip der Serie versteht.
Anfang 2015 kündete das Online-Unternehmen an, künftig auch Filme zu veröffentlichen. Bereits im Dezember war es soweit: Amazon brachte «Chi-Raq» von Spike Lee in die US-Kinos, eine freie Adaption der griechischen Komödie «Lysistrata» («No peace, no pussy!»). Anders als Netflix gewährt Amazon den Kinobetreibern eine Gnadenfrist von maximal zwei Monaten, bevor die Online-Auswertung startet, eine Oscar-Nomination gab es für «Chi-Raq» gleichwohl keine.
Bis zu zwölf Filmen pro Jahr will Amazon produzieren, und nicht wenige davon werden auch bei uns in den Kinos zu sehen sein. In wenigen Wochen wird «Elvis & Nixon» starten, ein vergnügliches Kammerspiel über den King, der für einmal nicht die Hüften, sondern – historisch verbürgt – die Hand des Präsidenten Richard «Tricky Dick» Nixon (umwerfend: Kevin Spacey) schüttelt.
Blutiger Hingucker
In den Schweizer Kinos läuft von Amazon aktuell «The Neon Demon» von Winding Refn, der an den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes gebührend beklatscht und ausgebuht wurde.
Das Erwachsenenmärchen über die Ware im Schönen spaltet die Meinungen: Während die einen den poppigen Hexensabbat in der Tradition eines David Lynch («Mullholland Drive») oder Dario Argento («Suspiria») goutieren, rümpfen andere die Nase und sehen in der quietschbunten Bildorgie eine leere Stilübung, die mit lesbischem Sex, Nekrophilie und Kannibalismus garniert ist.
Wie auch immer: Als Ausdruck für Amazons eisernen Willen, sich die Sehgewohnheiten eines globalen Kinopublikums einzuverleiben, ist «The Neon Demon» der perfekte Film. Zuletzt liegt ein ausgespuckter Augapfel in einer Blutpfütze, und so eitel, oberflächlich oder frauenfeindlich der Film auch war – wir schauen immer noch zu.
Hollywood hat allen Grund zum Zittern: Es wird noch mehr Blut streamen.