Keine Therapie für bedürftige Kinder

Kinder, die am Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom leiden, bleiben in Basel bis zu einem Jahr ohne Hilfe – weil der Staat das Betreuungssystem wechselt.

«Vater ist in grosser Not und die Mutter blicket stumm»: Der «Zappelphilipp».

Kinder, die am Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom leiden, bleiben in Basel bis zu einem Jahr ohne Hilfe – weil der Staat das Betreuungssystem wechselt.

Jan ist neun und gewohnt, sich durchzukämpfen. Er ist das jüngste von zehn Geschwistern. Der Basler Schüler leidet unter dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS).

Bis vor Kurzem ist er damit ganz gut klargekommen. In den vergangenen Wochen aber ist er dreimal aus dem Unterricht abgehauen. Er kann sich schlechter konzentrieren, wird schneller wütend, sagen die Eltern.

Sie glauben zu wissen, warum: Letzten Sommer musste Jan seine Therapie bei einer freiberuflichen Psychomotoriktherapeutin beenden. Der Staat war nicht länger bereit, die Kosten zu tragen.

Ähnlich liegt der Fall beim achtjährigen Simon. Auch er hat ADHS und eine Koordinationsstörung, auch er musste seine Therapie abbrechen. Die Auswirkungen seien drastischer gewesen, als sie erwartet hätte, berichtet Simons Mutter. In der Schule hat ihr Sohn sich dreimal in die Hosen gemacht, er starrt aus dem Fenster – bekommt kaum etwas mit.

Recht auf Förderung bleibt unerfüllt

Kinder und Jugendliche haben in der Schweiz ein Recht auf eine psychomotorische Förderung, wenn Störungen in den Bewegungsabläufen oder psychische Auffälligkeiten ärztlich festgestellt wurden. Der Staat ist verpflichtet, sie anzubieten.

So wie Jan und Simon haben in Basel-Stadt seit vergangenem August trotzdem etliche Kinder keine Förderung mehr erhalten. Bis dahin konnten ärztliche Gutachten beim Kanton eingereicht werden, der die Kosten für eine Therapie übernahm.

Nach einer Systemänderung sollen Kinder integrativ in den Schulen gefördert werden. Individuelle Therapien werden nicht länger unterstützt. Bislang haben jedoch nur wenige Schulen ein Psychomotorik-Angebot organisiert. «An Jans Schule gibt es keines. Darum wollten wir, dass er seine bisherige Therapie fortsetzen kann», sagt die Mutter. Der Kanton lehnte das ab.

Mit der Umstellung will das Erziehungsdepartement (ED) insgesamt mehr Kindern Zugang zu den Fördermassnahmen verschaffen, «auch denen von Eltern, die weniger engagiert sind», sagt Barbara Suter, Leiterin Sonderpädagogik bei der Volksschulleitung Basel-Stadt. So soll vermieden werden, dass Kinder, die Unterstützung brauchen, durchs Raster fallen.

Lücken in der Versorgung

Die Leiterin bestätigt aber, dass es Versorgungslücken gibt: De facto ist nach Angaben des Kantons mehr als die Hälfte des geplanten Quantums noch nicht erfüllt. 700 Stellenprozent seien angestrebt, erst rund 300 besetzt. Bis zum Sommer, hofft man im ED, werden die Lücken geschlossen sein.

Der Schweizerische Verband der Psychomotoriktherapeutinnen und -therapeuten schätzt die Quote niedriger ein. Allenfalls 200 von 700 Stellenprozent seien erfüllt.

In einer anderen wichtigen Frage gehen die Meinungen noch mehr auseinander. Maximal 30 Kinder, heisst es beim ED, hätten wirklich Bedarf an einer Psychomotoriktherapie. Laut Verband sind es pro Klasse in Basel etwa ein bis zwei Kinder – also erheblich mehr.

Fehlende Fachkräfte

Geld haben alle Schulen laut Kanton bereits erhalten, um die Infrastruktur für Fördermassnahmen zu schaffen. Insgesamt stehen 1,1 Millionen Franken zur Verfügung. «Noch haben sich leider zu wenige Therapeutinnen beworben, auch, weil im Vorfeld viel Stimmung gegen das neue Konzept gemacht worden ist», sagt Sonderpädagogik-Leiterin Suter. «Der angesetzte Stundenlohn liegt viel zu niedrig», kritisiert der Berufsverband. Ausserdem stünden vielerorts keine passenden Räumlichkeiten zur Verfügung.

In der Schule beschliessen seit August die Lehrer und Fachpersonen, welches Kind therapiert werden soll.

Auch, dass sie gegenüber den Schulen von ihrer gesetzlichen Schweigepflicht entbunden werden sollen, finden viele Therapeuten inakzeptabel. Einige wenige Kolleginnen seien bereits in andere Kantone abgewandert, erzählt eine von ihnen. Schulen umgehen das Problem, in dem sie statt ausgebildeter Psychomotoriktherapeuten Gymnastik- und Rhythmiklehrer anstellen.

Zweifel bei Eltern und  Experten

Die Eltern sorgen sich allgemein um die Qualität der Therapie. Sie und Experten zweifeln, ob Gruppenmassnahmen sinnvoll sind.

Dieter Bürgin, der drei Jahrzehnte lang Chefarzt an der Kinder- und Jugendpsychatrischen Klinik in Basel war: «Therapie gehört nicht an die Schule», sagt er. «Übungen erreichen nicht die gleiche Intensität wie eine Therapie.»

Ähnlich denkt Simons Mutter: «Ich finde es gut, wenn Schulen sich solchen Themen widmen. Eine Einzeltherapie können sie aber wohl kaum ersetzen.»

Für Unmut sorgt auch: In der Schule beschliessen seit August die unterrichtenden Lehrer und Fachpersonen, welches Kind therapiert werden soll. Die Eltern werden nicht in diese Entscheidung einbezogen. Die Schule müsse dabei natürlich immer alle Kinder in den Blick nehmen und nach dem Dringlichkeitsprinzip entscheiden, sagt Suter. «Die Mittel sind nicht unbegrenzt.»

Baselland finanziert Therapien

In Bern, wo das Angebot bereits an die Schulen geknüpft ist, sind sie umfangreicher: Der Kanton veranschlagt mehr als sechsmal so viele Stellenprozente für Psychomotoriktherapie wie Basel-Stadt. In Baselland, wo keine Umstellungen geplant sind, zählt nach wie vor das ärztliche Gutachten, der Kanton finanziert Therapien bei Psychomotoriktherapeuten, die nicht an der Schule angestellt sind.

Zwar gibt es auch dort vereinzelt Gruppentherapien, aber nur mit zwei oder drei Kindern. In der Stadt sollen bis zu zwanzig Kinder gleichzeitig an den Massnahmen teilnehmen. Insgesamt profitieren sie zudem weniger lang von der Förderung als Kinder in anderen Kantonen. Statt für alle unter 20-Jährigen gilt das Angebot nur noch für Kindergarten und Primarstufe. «Ein Verlust für die Eltern und die Stadt», sagt Kinder- und Jugendpsychiater Bürgin.

«Es darf nicht sein, dass Kinder zu kurz kommen.»

Bereits 2008, als der Systemwechsel zum Gespräch wurde, hatte es Skepsis gegeben. In einer Interpellation hatte SP-Grossrätin Doris Gysin die Notwendigkeit der «fachlich qualitativ seriösen Abklärung» hervorgehoben und sich dafür stark gemacht, dass Familien den Therapeuten nach wie vor frei wählen können. «Es darf nicht sein, dass Kinder zu kurz kommen», sagt sie.

Kritiker sehen Befürchtungen bestätigt

«Die Befürchtungen von damals scheinen sich nun zu bestätigen», sagt Grossrätin Gysin. Simons Eltern haben bis an Pierre Felder, Leiter Volksschulen im ED, geschrieben, um auf die Missstände und ihre Bedenken aufmerksam zu machen.

Bislang ohne Erfolg. Der TagesWoche teilte das ED mit: «Der Systemwechsel lässt sich nicht rückgängig machen.»

Beide Elternpaare haben sich inzwischen entschieden, die Einzeltherapie aus eigener Tasche zu zahlen. Pro Sitzung von einer Stunde kostet die 120 Franken, viermal im Monat schicken sie die Kinder hin.

«Früher ging Jan zweimal die Woche, das war besser, aber uns fällt das finanziell nicht leicht», sagt seine Mutter. Abbrechen will sie die Therapie jedoch auf keinen Fall erneut. Der Therapeutin vertraue ihr Junge Gedanken an, die er in Gegenwart seiner Schulkameraden nie äussern würde, sagt sie. «Dieses Vertrauensverhältnis zerstöre ich nicht.»

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