Knigge, der verkannte Gutmensch

Vor 264 Jahren kam Adolph Knigge zur Welt. Er gilt als Urvater von Stilberaterinnen und Sittenpolizisten, aber eigentlich wollte er, dass die Menschen sich besser verstehen.

Ohrringe bei Männern? Ein No-Go. Das findet zumindest der Stil-Papst.

(Bild: Nils Fisch)

Vor 264 Jahren kam Adolph Knigge zur Welt. Er gilt als Urvater von Stilberaterinnen und Sittenpolizisten, aber eigentlich wollte er, dass die Menschen sich besser verstehen.

Die Knigges dieser Welt haben etwas gemeinsam: Sie sind gebildet; sehr, sehr gebildet. Denn sie wissen, im Gegensatz zur breiten Masse, was sich gehört – wie man sich kleidet, wie man sich bettet, wie man sich mit Schmuck behängt, um eine gute Falle zu machen. Und dann haben sie erst noch die Gnade, ihr exklusives Wissen mit allen anderen, weniger Gebildeten, zu teilen.

Die Schweiz hat das Glück, nicht nur mit einem, sondern mit zwei Knigges gesegnet zu sein: Jeroen van Rooijen und Bettina Weber. Beide antworten auf die nie aus der Mode kommende Leserfrage: Hat das Stil? Er bei der «Weltwoche», früher bei der «NZZ am Sonntag» und «SRF3», sie im «Tages-Anzeiger».

So viel zu lernen

Ihre Antworten sind erkenntnisreich, man lernt als Leserin meist mehrere Dinge auf einmal.

Beispielsweise, wenn Jeroen van Rooijen auf die Frage, ob ein Mann Ohrringe tragen kann, antwortet: «Ohrringe sehen an 98 Prozent der Männer ein bisschen billig aus. Sie wirken, als hätte dieser Mann die falschen Prioritäten im Leben, als schaue er zu viel Fussball, sei in einer Kampfsportgruppe engagiert oder sei Vorstandsmitglied des lokalen Philipp-Plein-Fanclubs.» 

Man lernt:

A) Ohrringe am Mann gehen nicht.

B) Fussball geht, aber nicht zu viel.

C) Kampfsport geht gar nicht.

D) Modeschöpfer Philipp Plein geht nicht.

Was man nicht lernt: Was die richtigen Prioritäten im Leben eines Mannes wären.

Kluge Frauen in Turnschuhen

Dasselbe bei Bettina Weber. Sie fragt in einem Blogbeitrag: «Ist die Emanzipation schuld, dass Frauen jeglicher Chic abhanden gekommen ist? Dass die Frauen eine Unisex-Uniform bestehend aus Jeans-T-Shirt-Turnschuhen tragen, Schuhe mit Absatz als ungesund bezeichnen und rote Lippen als angemalt empfinden? Dass vor allem kluge Frauen hauptsächlich darum bemüht sind, ihre Weiblichkeit zu verstecken?»

Man lernt:

A) Jeans, T-Shirt und Turnschuhe sind unweiblich.

B) Es wäre wichtig für kluge Frauen, ihre Weiblichkeit zeigen.

C) Gute Weiblichkeit heisst chic, heisst Absätze und rote Lippen.

Was man nicht lernt: Weshalb weiblich sein chic sein bedeuten muss.

Eine Frage der Erziehung

Van Rooijen und Weber haben dabei den Anstand, jeglichen Humor wegzulassen – weil, ernste Sache, der Stil.

Oder vielleicht ist der Humor der Stilkenner schlicht zu subtil, um von der Masse verstanden zu werden?

Denn was man lustig findet, ist natürlich auch eine Frage des Stils. Oder eine Frage der Erziehung. Das lernen wir bei Adolph Freiherr Knigge himself, dem Urknigge aller Knigges.

1788 veröffentlichte der Deutsche sein Werk «Über den Umgang mit Menschen». Es gilt als Ursprung der Benimmratgeber-Literatur und gibt bis heute zahlreichen Anstandsfibeln seinen Namen. Jüngste Beispiele sind der «Schweizer Knigge», der «Knigge für Beruf und Karriere» oder der «Koschere Knigge».

Feiner Humor ist nichts für «Provinzial-Edelleute»

Zurück zum Humor: Knigge beschreibt in seinem Buch einen Edelmann vom Hofe, der eine Provinzstadt besucht und versucht, sich mit feinen humoristischen Geschichten beliebt zu machen.

Doch die «biederen Beamten» und «Provinzial-Edelleute» verstehen seinen Humor nicht: «Allein die kleinen Anekdoten, die feinen Züge, worauf er anspielt, sind hier gänzlich unbekannt, seine Komplimente hält man für Falschheit, die Süssigkeiten, die er Frauenzimmern sagt, betrachtet man als Spott.»

Das betrübt Knigge, er arbeitet an verschiedenen Fürstenhöfen als Beamter und muss immer wieder beobachten, wie rechtschaffene Männer ohne Erfolg bleiben, während Taugenichtse eine Karriere hinlegen – und das nur, weil sie wissen, wie man sich beliebt macht.

Könnte von der SP kommen …

Seine Erklärung: Deutschland habe so viele verschiedene Staaten, Sitten und Erziehungen, dass dies unter den Gruppen oft zu «Intoleranz» gegenüber Menschen führe, «die sich durch kleine Verschiedenheiten, wäre es auch nur in Anstand, Kleidung, Ton, Mundart oder Gebarden, unschuldigerweise auszeichnen.»

Knigges Lösung: Man soll die Sitten anderer lernen und sich anpassen. Er schreibt: «Es ist wichtig, für jeden, der in der Welt mit Menschen leben will, die Kunst zu studieren, sich nach Sitten, Ton und Stimmung anderer zu fügen.» Wie man das macht, steht in seinem Buch.

Das klingt fast so gutherzig wie die SP, wenn sie Integrationskurse für Ausländer fordert. Ob heutige Anstandsberater sich auch so um andere Menschen sorgen?

… oder doch von der LDP?

Wobei, auch Knigge legt grosses Gewicht auf die äusserliche Erscheinung, etwa, wenn er dazu rät, nicht wild zu gestikulieren und stets saubere Kleider zu tragen.

Und er zeigt sich fast schon darwinistisch, wenn er empfiehlt, ja nie Schwäche zu zeigen, nicht einmal innerhalb der Ehe, und so «wenig wie möglich Wohltaten zu fordern und anzunehmen». Das klingt dann eher wie die LDP, die an die «menschliche Befähigung glaubt, Probleme aus eigener Kraft zu bewältigen».

Allerdings würde Knigge wohl mit jedem unserer heutigen Politiker Mühe haben. So forderte er doch: «Rede nicht zu viel. Und nie von Dingen, von denen du nichts weisst.»

Von daher dürften ihm Stilberater van Rooijen und Weber näher sein. Die wissen immer, wovon sie reden.

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