«Krieg verändert die Art des Schreibens»

Schreiben gegen die kollektive Verdrängung: Iman Humaidan arbeitet in ihren Romanen die Zerrissenheit des Libanon während und nach dem Bürgerkrieg auf. Als Aktivistin kämpft sie dafür, dass Literatur auch in Krisenzeiten ihr Publikum findet. Die nächsten drei Monate residiert sie als Gast des Literaturhauses Basel und als Stipendiatin des Atelier Mondial am Rheinknie.

Iman Humaidan kam im Exil nicht zur Ruhe. Heute lebte sie wieder im Libanon und schreibt gegen das Vergessen an.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Schreiben gegen die kollektive Verdrängung: Iman Humaidan arbeitet in ihren Romanen die Zerrissenheit des Libanon während und nach dem Bürgerkrieg auf. Als Aktivistin kämpft sie dafür, dass Literatur auch in Krisenzeiten ihr Publikum findet. Die nächsten drei Monate residiert sie als Gast des Literaturhauses Basel und als Stipendiatin des Atelier Mondial am Rheinknie.

In Basel war Iman Humaidan noch nie, aber andere Ecken der Schweiz kennt sie: Vor einigen Jahren besuchte sie im Rahmen eines Schreibaufenthalts Schaffhausen. In der Altstadt traf sie einen afrikanischen Händler, der Kunsthandwerk verkaufte. Und der ihr seine Geschichte der Emigration durch die Wüste, über das Mittelmeer bis in die Schweiz erzählte.

Sie blieb fast eine Stunde in seinem Laden und jetzt, da sie zurück in der Schweiz ist, will sie so bald wie möglich wieder nach Schaffhausen fahren. Um zu hören, wie die Geschichte weiterging. «Ich will die Orte wiedersehen, an denen ich schon einmal war, und schauen, was sich verändert hat.»

Schauen, was sich verändert hat – es fällt nicht schwer, diesen Satz weiterzudenken zu ihrer Romanfigur Myriam aus «Andere Leben», ihrem aktuellsten, in deutscher Übersetzung erhältlichen Buch. Wie Humaidan gehört Myriam zur libanesischen Bürgerkriegsgeneration. Im Unterschied zur Autorin hat die Romanfigur als junge Frau mit ihrer Familie den Libanon während des von 1975 bis 1990 wütenden Kriegs jedoch verlassen.

Die Geschichten vom Krieg kehren zurück

Sie geht zuerst ins Exil nach Australien, danach mit ihrem britischen Ehemann Chris nach Kenia, wo er seine medizinische Forschung betreibt, während sie in einem entwurzelten Emigrantinnenleben dämmert. Umgeben von ihren stets gepackten 13 Koffern, versunken in libanesische Musik und in Nachrichten von ihrer Jugendfreundin Olga, die ihr aus Beirut dann und wann schreibt. Bis sie sich in den Neunzigerjahren entschliesst, diesen Schwebezustand aufzugeben und zurückzukehren. Vordergründig, um das Haus ihrer Familie zu verkaufen.

Tatsächlich, um jenen Boden der Erinnerung wiederzufinden, der ihr durch die Flucht entzogen wurde. Und der sich nicht mehr finden lässt: Die Jugendliebe ist im Krieg verschollen, die alte, einst vor Kraft und Weiblichkeit strotzende Freundin Olga durch eine Krebserkrankung geschwächt. Und die übrigen Freunde und Verwandten, die geblieben sind, haben jegliches Nachdenken über die Vergangenheit und über den Krieg – was hat er vernichtet, wie existiert er in den Köpfen und im Alltag weiter, auch wenn die Waffen schweigen? – aufgegeben.

Myriam, die Zurückgekehrte, realisiert, dass nicht mehr dazugehört, wer selbst nicht durch die Grausamkeit der Gewaltjahre gegangen ist. «Als besässen Emigranten kein Recht auf Erinnerung, kein Recht, sich an die Gewalt zu erinnern, an den Krieg. […] Kriegsgeschichten wandern nirgendwohin aus. Im Gegenteil, sie kehren wieder um, zurück an denselben Ort, von dem sie ausgegangen sind, um dort erneut auszubrechen, manchmal in noch brutaleren Formen.»

Chronik des Zerfalls

Der Bürgerkrieg ist die grosse Klammer im literarischen Werk Humaidans. Geboren 1956, hat sie in ihren Jugendjahren die Utopie, die der kleine, multikulturelle Staat Libanon einst verkörperte, miterlebt. Die Hauptstadt des Zedernstaates galt einst als «Paris des Nahen Ostens», denn in ihren Strassen herrschten, anders als in anderen Kapitalen im arabischen Raum, ein Geist des Pluralismus und eine nach Westen orientierte Offenheit. Bis die dünne, einigende Kruste über den gegensätzlichen Interessen der Bewohner – Sunniten und Schiiten, christliche Maroniten und palästinensische Flüchtlinge – in den 1970er-Jahren zusammenbrach und ein mörderischer Krieg sich entlud.

Humaidan hat in ihren drei bisher erschienenen Romanen die Chronik des Zerfalls nachgezeichnet, zuerst in «Wilde Maulbeeren», das von den Umbrüchen der nachosmanischen Gesellschaft des Libanon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt, wo die Identitäten, individuelle wie kollektive, zerbrochen und neu geschmiedet werden.

Dann in «B wie Bleiben wie Beirut», dem Leben im Bürgerkrieg, aufgeschlüsselt im Alltag von vier Frauen – skizzenartige Biografien, die Humaidan «während stundenlangen Wartezeiten an den Checkpoints im geteilten Beirut» niedergeschrieben hatte. Und schliesslich in «Andere Leben», der melancholischen Erinnerungssuche der Exilantin Myriam.

Verlorene Wurzeln und neue Heimat 

In Beirut stürzt sich Myriam in eine Affäre mit dem Amerikaner Nour, ebenfalls ein exilierter Libanese, der als Journalist zurückkehrt, um seine Wurzeln zu suchen – ein Konzept, das Myriam schroff zurückweist: Wurzeln habe sie im Überfluss, sie gebe ihm gerne etwas davon ab. Und erinnert sich dabei an ihren britischen Ehemann Chris, der sich seine Heimat überall dort aufbauen kann, wo er einen strukturierten Alltag zu errichten schafft.

Verlorene Wurzeln und neue Heimat – die Zerlegung dieser Begriffe bildet die Tiefenschicht, die Humaidans Geschichten durch die Trübnis tragen. «Wurzeln» hält sie für einen ideologisch korrumpierten Begriff, das habe sie der Bürgerkrieg gelehrt, wo jede Fraktion ihren Anspruch auf Verwurzelung – und damit auf Legitimation der Macht – mit Waffen durchzusetzen versuchte.

«Der Begriff passt nicht mehr in die moderne Welt der Migration, in der Menschen gezwungen sind, ihre Wurzeln neu zu pflanzen. Als jemand, die den Krieg durchlebt hat, bevorzuge ich den Begriff der Heimat – ein Ort, wo Sicherheit herrscht und man ohne ständige Furcht um sich und seine Lieben lebt.»

Die neue Generation hat genug von den alten Gesichtern

Ob der Libanon der Gegenwart ein solcher Ort sein kann – die Frage lässt sie offen, aber sie ist optimistischer als auch schon. Vor einem Jahr wuchsen sich in Beirut Strassenproteste, die anfangs ein Ende der Müllbeseitigungskrise forderten, zu Demonstrationszügen gegen die erstarrte Politik des Landes aus. Getragen wurden sie vor allem von der Nachkriegsgeneration, die sich nicht mehr abspeisen lassen will mit einem Staat ohne funktionsfähige Regierung und mit einem Parlament, dessen Mitglieder ihre Mandate eigenhändig verlängern.

In den Kommunalwahlen im vergangenen Frühling mussten die etablierten Parteien der verschiedenen konfessionellen Kräfte unerwartete Rückschläge hinnehmen zugunsten jüngerer Köpfe aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen. «In einem Land, in dem die Kriegsherren der Vergangenheit die Politik der Gegenwart bestimmen, kann keine Aufarbeitung, keine Versöhnung stattfinden», sagt Humaidan. «Ich glaube aber, dass die nachfolgende Generation sich nicht mehr in die konfessionellen Gräben zerren lässt, sondern sich in erster Linie als libanesische Bürger begreift, die Lösungen für die Probleme der Gegenwart fordern.»

Als Schriftstellerin verfolgt sie diese Bewegungen mittlerweile häufig aus der Ferne, oft aus Paris, wo ihre beiden Töchter studieren, oder aus verschiedenen Arbeitsresidenzen wie aktuell aus Basel und Freiburg. Aber nach Beirut kehrt sie regelmässig zurück und trägt ihren Teil dazu bei: Seit 2015 amtet sie als Präsidentin der libanesischen Sektion der internationalen Autorenvereinigung P.E.N., die sich für die freie Meinungsäusserung einsetzt und politisch motivierte Unterdrückung von Autoren dokumentiert.

Die Stimmen des Exils

Obwohl der Krieg viel verändert habe, «existiert in Beirut noch immer ein freier Geist, wie man ihn in den meisten Ländern des Nahen Ostens nicht findet», sagt Humaidan. «Nicht weil wir eine starke Demokratie haben, sondern weil kein starker, repressiver Staat da ist. Experimente in der Kunst waren hier immer einfacher.»

Gegenwärtig bereitet sie ein Festival für den kommenden November vor, das Autoren aus Krisenländern einlädt, von denen manche ins Exil gehen mussten, andererseits aber jungen libanesischen Autoren eine Plattform gibt. Und damit jener Literatur, welche die Nachkriegsgeschichte des Landes mit einem neuen Ton einfängt, der «schärfer und knapper ist als die althergebrachte blumige Sprache».

Die Literatur der Exilanten und Kriegsversehrten, hervorgebracht von den Umwälzungen im Nahen Ostens in den vergangenen Jahren, seien eine Stimme, der man zuhören müsse. «Krieg und Krisen verändern die Art des Schreibens», sagt Humaidan. «Sie sind wie Vulkane, die die klassische Sprache sprengen und eine zentrale Aufgabe von Literatur in den Vordergrund drängen: Literatur verdaut die Probleme der Gegenwart – und trägt dazu bei, dass es sich nicht verdrängen lässt, über sie zu sprechen.»

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Am Dienstag, 6. September, um 19 Uhr erzählt Iman Humaidan im Literaturhaus Basel von ihrer Arbeit und gibt über die Lage von Schriftstellern im arabischen Raum Auskunft.

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