Der Basler Bildungswissenschaftler Hans-Ulrich Grunder übt scharfe Kritik an der Baselbieter Bildungsdirektorin Monica Gschwind. Sie werfe den Kanton mit ihren Sparmassnahmen um Jahrzehnte zurück.
100 Tage nehmen Regierungsräte gerne in Anspruch, bevor sie sich messen lassen wollen. So viel Zeit müsse sein, um im Amt anzukommen. Die Schonfrist der neuen Baselbieter Bildungsdirektorin Monica Gschwind ist seit dem 8. Juli abgelaufen. Sieben Tage nach Jobantritt.
Am 8. Juli hat die FDP-Frau aus Hölstein umfassende Sparbeschlüsse im Bildungs- und Kulturbereich angekündigt. Bis 2019 will sie ihr Budget um jährlich über 50 Millionen Franken erleichtern. Die massiven Abstriche sorgen für Entsetzen in der Lehrerschaft wie auch bei der politischen Linken. Auf Twitter steigt die Fassungslosigkeit und Häme mit jeder neuen Wortmeldung:
Herr lass Hirn regnen. #FinanzenBL http://t.co/zKwEUAQRKq
— Jan Kirchmayr (@JanKirchmayr) 13. Juli 2015
Gschwind (Bildungsdirektion BL) bastelt sich schamlos einen Pappkameraden zurecht, um dann gegen ihn Massnahmen zu ergreifen. #FinanzenBL
— … and behold (@andbhold) 13. Juli 2015
An Gschwinds Aussagen in einem Interview mit «20Minuten online» übt auch Hans-Ulrich Grunder, Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni Basel, scharfe Kritik. Gschwind will bei den Übergangslösungen zwischen Schule und Beruf sparen. Nach einer Woche im Amt scheint Gschwind die Probleme im Schulsystem erfasst zu haben:
«Viele Jugendliche finden es gemütlicher, in die Schule zu gehen, als sich mühselig für eine Lehrstelle zu bewerben.»
Für Grunder liegt Gschwind mit dieser Einschätzung schwer daneben:
«In diesem Alter können sich viele Jugendliche nicht mit einer guten Begründung für eine berufliche Laufbahn entscheiden. Die Übergangslösungen haben sich als sehr sinnvoll erwiesen, dort wird mit hohen Erfolgsquoten defizitorientiert gearbeitet. Finanzpolitisch ist es nachhaltiger, dort zu investieren, als später Sozialfälle finanzieren zu müssen. Gschwind will eine Entwicklung der letzten 25 Jahre rückgängig machen.»
«Konkurrenzorientiertes Menschenbild»
Grunder vermutet dahinter ein «konkurrenzorientiertes Menschenbild, das darauf abzielt, die Jugendlichen möglichst früh für wirtschaftliche Zwecke verfügbar zu machen». Mit der Folge, dass viele Dropouts produziert würden. «Kurzfristig mag das günstiger kommen, langfristig ist das Habakuk.»
Auch mit den verfügbaren Zahlen lässt sich Gschwinds Behauptung nicht untermauern, verlässliche Werte sind nur eingeschränkt zu bekommen. Das Baselbieter Statistische Amt hinkt bei der Erfassung hinterher. Eine Kennzahl ist allerdings aussagekräftig: Die Zahl der Schüler in Brückenangeboten ist von 2000 bis 2013 kontinuierlich zurückgegangen – von 617 Schülern pro Jahr auf noch 410.
Überdurchschnittlich grosse Klassen
Ähnlich beurteilt der renommierte Bildungswissenschaftler die Sparmassnahme, die Klassengrössen von 24 auf 26 Kinder zu erhöhen. Schweizweit liege der Durchschnitt bei 19 bis 21 Kindern, schon 24 sei ein hoher Wert, sagt Grunder. Einbussen bei der Unterrichtsqualität seien evident: «Rein rechnerisch betrachtet, hat ein Lehrer dann weniger Zeit, sich um den einzelnen Schüler zu kümmern. Darunter leidet die Förderung.»
Die Förderung des Einzelnen, individuelle Ansätze in der Wissensvermittlung – so viel lässt sich aus Gschwinds Aussagen gegenüber «20 Minuten» schliessen – sind der gelernten Treuhänderin suspekt:
«Ich stehe eher auf der konservativen Seite. […] Experimenten wie zum Beispiel sogenannten Lernlandschaften, in denen mehrere Lehrerpersonen im Grossklassenzimmer gleichzeitig unterrichten und Schüler selbstständig arbeiten, stehe ich eher skeptisch gegenüber.»
Gefährliches Schwarz-Weiss-Denken
Gschwind beweist in den Augen Grunders auch in diesem Thema wenig Ahnung von der Sache:
«Das ist ein Rückschritt in die 1950er-Jahre. Eine lernfreundliche Atmosphäre, ein flexibler Unterricht fördern den Wissenserwerb. Die Frage, ob frontal gelehrt wird oder in der Gruppe, ist nicht das Thema. Beides kann Platz haben, muss aber pädagogisch-didaktisch begründet sein. Was Gschwind versucht, ist eine Reduktion der Komplexität. Das ist immer gefährlich. Es gibt nicht einfach ein Falsch und ein Richtig, Ja oder Nein, Unten oder Oben. Gschwind verunglimpft die Lehrer, die dafür ausgebildet sind, individualisiert zu unterrichten.»
Gegenüber «20 Minuten» spricht sich Monica Gschwind auch gegen die Sonderpädagogik und gesonderte Förderungen aus. Auch in diesem Bereich will sie Ressourcen einsparen:
«Baselland ist ja Schweizermeister, was spezielle Förderungen anbelangt. Dabei sind die Kinder heute nicht dümmer oder kranker als früher. […] Je mehr Heilpädagogen im Schulzimmer herumschwirren, desto unruhiger wird es in der Klasse. Und viele Eltern nerven sich darüber, dass so viele Sonderwünsche abgedeckt werden.»
Sparen mit dem Rasenmäher
Grunder betitelt dieses Vorgehen als «Sparen mit dem Rasenmäher»:
«Es ist eine plumpe Massnahme, sie trifft die Schwächsten und ist völlig unsozial. Der Glaube, früher habe es keine Kinder gegeben, die mehr Betreuung gebraucht haben als andere, ist falsch. Über ein Kind mit ADHS sagte man einfach: Der robotert. Bildungspolitisch schlägt Baselland hier den falschen Weg ein. In den Pisa-Studien liegen jene Länder vorne, die niemanden zurücklassen.»
Hans-Ulrich Grunder, der früher selber als Lehrer unterrichtet hat, stellt dem Baselbiet eine schlechte Prognose. Die Fehler später zu beheben, die jetzt mit dem Abbau und Reformstopp begangen werden könnten, würde zehn Jahre und länger dauern. Seine Hoffnung: Dass nicht allzu viel übrig bleibt vom Sparpaket nach der politischen Debatte.