Vor 50 Jahren wurde an der Funkausstellung in Berlin die Compact Cassette auf den Markt gebracht. Sie hat die Sozialisation meiner Generation geprägt. Eine Liebeserklärung.
24. Dezember 1984. Ich bin zehn Jahre jung und halte endlich ein vernünftiges Weihnachtsgeschenk in den Händen. Nichts gegen die Tafel Schoggi mit dem Fünfliber, Grosi! Nichts gegen das Langarm-Pyjama, Mami! Aber was mir wirklich fehlte, war ein Kassettengerät.
Götti Roland hatte vorgespurt. Er schenkte mir zwei Kassetten: «Thriller» von Michael Jackson und die «Smash Hits ’83». Damit rangierte Roli in meiner persönlichen Heldenstatistik auf Platz zwei, gleich hinter Jacko und noch vor John Deere. Meine Erzeuger begriffen, woher der Wind wehte, und doppelten nach: Mit einem Abspielgerät von Grundig (ein Deck, ein Lautsprecher, ein eingebautes Mikro, ein Chabis – aber das sah ich damals anders).
Die Familie, sie ahnte nicht, dass sich mein und ihr Leben radikal ändern würde. Ich zog mich fortan zurück und grenzte mich ab. Taffe Tage: Verweigerung der Nahrungseinnahme zu fremdbestimmten Zeiten und, noch schlimmer, Verweigerung der Sonntagsspaziergänge. Denn sonntags präsentierte DRS 3 die Hitparade. Da war unsereiner unansprechbar.
Die Qualität war miserabel, das Glücksgefühl orgastisch.
Immerhin, stellten die Erziehungsberechtigten fest, war das Kind im Zimmer und nicht draussen am Rumlungern. Nicht ausgerissen, nicht autistisch, einfach fanatisch. Nach Musik. Jeder Fünfliber wurde in Aufnahmekassettli investiert (anfänglich noch M-Sound Typ Ferro MF1 Normal 60, später vorzugsweise Maxell Chromdioxid XLII-S 90).
Die Finger auf die Record/Play-Tasten gedrückt, räkelte sich unsereiner auf dem Bett, neben sich den Volksempfänger, hielt das Mikro an den Lautsprecher, regte sich darüber auf, wenn der Moderator ins Gitarrensolo von «Purple Rain» reinquasselte oder erschrak, wenn das Band unverhofft zu Ende war. Abgesehen davon: Die Qualität war miserabel, das Glücksgefühl orgastisch. So musste sich innige Liebe und Befriedigung anfühlen.
Es folgten Stunden, Tage, Jahre glücklichen Beisammenseins. Das Aufnahmegerät kam wie ich in die Pubertät und wurde zu einem Doppelkassettendeck. Aus dieser Beziehung erblickten Kompilationen für jede Gefühls- und Lebenslage das Licht der Welt, es entstanden Mix-Tapes für jede Stimmung, jedes Mädchen. Balzten die anderen mit den Muckis auf dem Sprungturm, so tat dies unsereiner mit Musik vom Funkturm.
Balzten die anderen mit den Muckis auf dem Sprungturm, so tat dies unsereiner mit Musik vom Funkturm.
Erst 1995 haben WIR durch Nick Hornbys Roman «High Fidelity» Legitimation erlangt. Zu spät für das Mixtape. Sein Ende war bereits beschlossene Sache. Nach MiniDisc und CD-Recorder haben ihm die mp3-Player den endgültigen Todesstoss gegeben – alles charakterlose Datenträger, die keine zwei Enden haben, die nicht mit liebevollen Schnörkeln beschriftet werden, die keine Geschichten erzählen.
Geschichten wie jene 30 Kilogramm Kassetten, die ich schon drei Mal von einem Keller in den nächsten gezügelt habe. Fein sortiert liegen sie in Obstkisten, sind ausser Mode wie der Pausenapfel, und gehören dennoch nicht entsorgt. Was für andere das Tagebuch, ist für uns das Aufnahmekassettli: Dokument einer Sozialisation.
Alles gute zum 50. Geburtstag, liebe Kompaktkassette. Schön, dass es Dich gab.
Ein Tipp für Fans: www.tapedeck.org