«Lasst uns endlich alle Walfische aufessen!»

Ein Plädoyer für mehr Dilettantismus. Weil nicht alles perfekt ist und selbst Goethe nicht immer recht hatte.

Was beabsichtigt Japan wirklich mit der wiederaufgenommenen Jagd nach Walen?

(Bild: Nils Fisch)

Ein Plädoyer für mehr Dilettantismus. Weil nicht alles perfekt ist und selbst Goethe nicht immer recht hatte.

Es muss ja nicht gleich so weit kommen. Als Johann Wolfgang von Goethe in seinem Roman «Die Wahlverwandtschaften» seine Protagonisten im Garten ihres feudalen Anwesens herumwerkeln liess, endete alles im Chaos: das Beziehungsgefüge und, fast noch schlimmer, der Garten.

Es hätte ein englischer Landschaftspark werden sollen. Der war damals gerade schwer Mode und vor allem Gegenstand der Kunst. Der höchsten Kunst, um genau zu sein. Jedenfalls nach dem Verständnis der Gartenkünstler um 1800.

Doch genau von dieser Kunst verstanden die Figuren Eduard und Charlotte wenig. Und wenn der grosse Künstler Goethe etwas nicht leiden konnte, dann miese Dilettanten. Zwar schrieb er in seinen Roman:

«Es ist eine so angenehme Empfindung, sich mit etwas zu beschäftigen, was man nur halb kann, dass niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird (…)»

Doch das soll nicht darüber hinwegtäuschen, was er davon hielt, wenn irgendwelche Pfuscher wie Eduard und Charlotte sich plötzlich als Künstler aufspielen und, statt mit ihrer Zeit etwas Nützliches anzustellen, sich nur noch um ihren Garten kümmern. Noch während der Park-Eröffnungsfeier bricht ein künstlich angelegter Damm unter der Last der geladenen Gäste zusammen. Leute ertrinken. Sterben. Uiuiui!

Wenn wir heute jemand einen Dilettanten schimpfen, dann tun wir dem Beschimpften je nach dem weniger Unrecht als dem Wort.

Glauben wir Goethe, ist Dilettantismus offenbar gefährlich. Ich aber sage: Fuck you, Goethe! Ich will mehr davon! Mehr Dilettantismus!

Vor ein paar Wochen bin ich mehr oder weniger zufällig mitten in ein Konzert geraten. Es spielte eine Beatles-Coverband. Deren Musiker, muss ich annehmen, waren wohl eher keine Profis. Dafür hellauf begeistert. Und auch wenn sie nicht ganz jeden Ton trafen, war das Publikum bald beschwingter als manche Familie, die dieser Tage unter dem Weihnachtsbaum «Oh du fröhliche» zum Besten gibt. 

Noch selten habe ich so viel Enthusiasmus für eine, nüchtern betrachtet, doch eher bescheidene musikalische Darbietung erlebt. Was das Publikum leistete, war Toleranz in ihrer schönsten Form. Es war grossartig dilettantisch!

Wenn wir heute jemand einen Dilettanten schimpfen – und das tun wir eigentlich immer, wenn wir den Begriff in den Mund nehmen –, dann tun wir dem Beschimpften je nach dem weniger Unrecht als dem Wort. So lesen wir in Meyers Grossem Konversationslexikon aus dem Jahr 1902:

«Dilettant (v. ital. dilettare, »ergötzen«), derjenige, der eine Kunst oder Wissenschaft lediglich zu seinem Vergnügen betreibt, ohne sie zu seinem Lebensberuf oder zum Gegenstand eines erschöpfenden Studiums zu machen.»

Was der Dilettant macht, schreibt Meyer in seinem Lexikon, treibt er «aus Liebhaberei» – wohl wissend, dass er «nicht vom Fach» ist. Genau deswegen ist er mir sympathisch. Weil er spielerisch bleibt, ohne sich aufzuspielen. Weil er dazu steht, was er ist. Weil er uns lehrt, ihn so zu nehmen, wie er ist. Und das mit Freude.

Ein Dilettant kann aber auch ganz handfest Nützliches tun. Ich denke da an Menschen wie den Basler Bastian Seelhofer, der im Herbst spontan mit Freunden ein Hilfswerk für Flüchtlinge aus dem Boden stampfte, ohne «vom Fach» zu sein. Oder an das pensionierte Architekten-Paar, Benno und Jacqueline Fosco-Oppenheim, welches das Auto neu dachte, um den Klimawandel zu entschleunigen. Vor solchen «Dilettanten» können die «Profis» in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik doch eigentlich nur den Hut ziehen.

Selbst Goethe musste zugeben, «dass Dilettanten zum Vortheil der Wissenschaft vieles beitragen».

Um fair zu sein: Auch Goethe sah im Dilettantismus nicht nur Schädliches. Im Austausch mit seinem Kumpel Friedrich Schiller, gesammelt unter dem Titel «Über den Dilettantismus», gesteht er ihm auch Vorteile zu. Nicht nur in der Kunst, für die der Dilettant durch seine Tätigkeit in Einzelfällen empfänglich werden kann. Er gibt auch zu, «dass Dilettanten zum Vortheil der Wissenschaft vieles beitragen». Womit Goethe sicher recht hat. Denn notgedrungen beherrscht kaum einer das viel gelobte «thinking out of the box» besser als derjenige, der eben nicht vom Fach ist. Das bringt Innovation!

Vielleicht hat der Wirtschaftsverband Economie Suisse diesen Sommer gerade deshalb gegen die «schleichende Professionalisierung» des Parlaments mobil gemacht. Sie wollen keine Berufspolitiker. Sie wollen Dilettanten. Innovation!

Einen Kandidaten für dieses Anliegen hätte ich schon mal: meinen Kumpel Kleie. Er arbeitet im Fischverkauf, ist ein belesener Bürger und beschäftigt sich in seiner Freizeit gerne mit den grossen Themen, die die Gesellschaft bewegen: Migration, Einkaufstourismus, Veganismus. Dabei überrascht er immer wieder mit bahnbrechenden Ideen. «Wenn das Volk mich braucht», pflegt er zu sagen, «dann gehe ich auch in die Politik.»

«Jetzt geht es nicht um Moral! Jetzt geht es um Schadensbegrenzung!»

Als ich diesen Kumpel Kleie zuletzt sah, hatten gerade die Japaner bekannt gegeben, dass sie trotz internationalem Moratorium den Walfang wiederaufnehmen. Kleie freute sich. «Endlich macht mal einer wirklich was gegen den Klimawandel», sagte er. Ich stutzte. «Überleg doch mal», wandte er ein. «Seit Jahrzehnten haben uns die Klimamoralisten ins Gewissen gebissen, damit wir ökologischer leben. Genützt hats kaum etwas.»

«Stimmt», sagte ich, «doch was hat das bitte schön mit Walfang zu tun?»

«Na, das ist doch offensichtlich!», behauptete Kleie. «Der Mensch ändert sich ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Temperaturen steigen. Jetzt geht es nicht um Moral! Jetzt geht es um Schadensbegrenzung!»

Ich verstand noch immer nicht.

«Das Hauptproblem am Klimawandel ist doch, dass der Meeresspiegel steigt, weil das Eis schmilzt», erklärte er. «Das ist wie in der Badewanne: Steigt man aus, sinkt das Wasser. Mit dem Meer müssen wir es genau gleich machen. Wir sollten endlich all die Walfische aufessen. Das ist gut für die Menschheit – und gleichzeitig gut fürs Geschäft, wenn die Menschen für ein hehres Ziel essen.»

Jetzt verstand ich. Goethe hatte recht! Dilettantismus kann gefährlich sein! Ich präzisiere deshalb meinen Wunsch: Mehr Dilettantismus, aber nur dort, wo es ihn verträgt. Legen Sie einen Garten an, von mir aus auch einen englischen. Gründen Sie eine Band! Tanzen Sie ungelenk in der Disco! Machen Sie, was Ihnen sinnvoll erscheint. Zeigen Sie sich tolerant gegenüber anderen Dilettanten. Haben Sie Freude daran. Aber seien Sie auf der Hut!

Auf ein vergnügsames neues Jahr!
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Übrigens, bevor Sie jetzt auf dumme Gedanken kommen: Würde man tatsächlich alle Wale aus dem Meer fischen, der Effekt wäre gering. Nimmt man alle Walarten zusammen, die über eine Tonne wiegen, sprechen wir von einem Gesamtvolumen von etwa 0,052 Kubikkilometer. Das Volumen des Meeres wird dagegen auf 1,338 Milliarden Kubikkilometer geschätzt. Mit der Ausrottung der Wale liesse sich die Freiheitsstatue also nicht vor ihrem Untergang retten.

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