Lehrer und Politiker schimpfen darüber, Pädagogen sprechen von einem Paradigmenwechsel: «Kompetenzen» sollen die Schule umkrempeln. Was steckt dahinter?
In den 1960er-Jahren umfasste der Lehrplan schlappe zehn Seiten, eine halbe Seite pro Fach. Die Lernziele waren klar definiert: Lektion 1 bis 3 des Französisch-Lehrbuchs müssen innerhalb eines Quartals erledigt sein. Heute ist der Lehrplan ein Schinken mit 470 Seiten – und das ist schon die gekürzte Fassung.
Letzten Freitag stellten die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren das Werk vor – massiver Widerstand regt sich. Die Geister scheiden sich vor allem ob eines unverdächtig erscheinenden Wortes: Kompetenzen.
«Die Schülerinnen und Schüler können verschiedene Wirtschaftsräume beschreiben und unterscheiden», ist eine von 363 Kompetenzen im Fach Räume, Zeiten, Gesellschaften, das der Lehrplan 21 definiert. Früher wäre dies vielleicht im Fach Geschichte unter den Punkten «Sozialismus im Ostblock» und «China als wirtschaftliches Gebilde» behandelt worden.
Wer nicht Schiller gelesen hat, ist ungebildet
Heute steht nicht mehr das Faktenwissen im Vordergrund. Dem Lehrplan 21 ist es beispielsweise egal, ob der Geschichtslehrer China oder die USA behandelt – er kann auch Kambodscha als Beispiel nehmen –, Hauptsache, die Schüler lernen Verbindungen herzustellen und Unterschiede zu erkennen.
Der Erziehungswissenschaftler Albert Düggeli erklärt: «Der Fokus liegt weniger auf einem kanonisch vermittelten Wissen, sondern verstärkt auf Handlungswissen.» Das sei der Versuch, junge Menschen auf ein Leben in einer differenzierten Gesellschaft mit komplexen Herausforderungen auszubilden.
Zugespitzt gesagt: Im letzten Jahrhundert galt das Motto, wer nicht Schiller gelesen hat, ist nicht gebildet. Heute kommt der Name Schiller nicht mal im Lehrplan vor. Es geht um einordnen statt auswendig lernen.
Inhalte klarer definieren
Das klingt lohnenswert. Weshalb dann dieser Aufschrei von Politikern und Lehrern?
Der Grünen-Landrat und Lehrer Jürg Wiedemann findet, der neue Lehrplan fokussiere zu stark auf Kompetenzen. «Die Inhalte müssten klarer definiert sein – darauf aufbauend sollten die Kompetenzen folgen.»
Wenn man den Lehrplan wortgemäss umsetzen wolle, wäre das für die Lehrer ein schwerwiegender Eingriff, meint Max Müller, langjähriger Sekundarlehrer und ehemaliger Präsident des Lehrerverbands Baselland.
Der Grund dafür: Kompetenzen zu lehren ist ein ganz anderer Ansatz, als Wissen zu vermitteln. Die Lehrer müssen den Überblick über ihr Fachgebiet haben und gleichzeitig vernetztes Wissen unterrichten – keine einfache Aufgabe also.
Nur ein Seminar in Geschichte
Zum Beispiel im Fach Zeiten, Räume, Gesellschaften sind die Anforderungen an Lehrer sehr anspruchsvoll. Welche Revolution nimmt der Geschichtslehrer als passendes Beispiel? Bauernrevolte, Spartakus-Aufstand, Arabischer Frühling – oder doch ganz klassisch die Französische Revolution?
Für diese Entscheidung bräuchte es ein fundiertes Fachwissen und genau dieses fehle in der Ausbildung, weil der Lehrer unter Umständen nur gerade ein Seminar in Geschichte absolviert habe, sagt Müller.
Ähnlich argumentiert der Politiker Wiedemann: Weil einige traditionelle Fächer zu sogenannten Sammelfächern zusammengefasst würden, seien die Lehrpersonen nicht mehr fundiert ausgebildet. Die Lehrer lernten an der Pädagogischen Hochschule heute nur noch ein Bruchteil von dem, was früher an der Universität absolviert worden sei.
«Der Lehrplan wird scheitern»
Verschwindet der Lehrplan 21 also in der Schublade im Lehrerzimmer, weil ihn keiner umsetzen kann? Der pensionierte Lehrer Max Müller hat in seiner Laufbahn einige Lehrplan-Revisionen erlebt. Viele davon seien in der Schublade verschwunden, sagt Müller.
Dieses Mal sei es jedoch schwierig, sich um den neuen Lehrplan herum zu winden. «Dieser Lehrplan wird scheitern», prophezeit Müller, «und anschliessend wird er ‹optimiert› – das heisst verschlimmbessert». Er plädiert dafür, dass Lehrer konkrete Anhaltspunkte haben, um fundiertes Fachwissen zu unterrichten.
Nicht ganz so dramatisch sieht es Gaby Hintermann von der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt: «Das Kompetenzmodell ist bereits in einigen neueren Lehrplänen angedeutet.»
Weder Vision noch Wahnsinn
Zum Beispiel bei der auslaufenden Orientierungsschule. Dort gibt es ausformulierte Lernziele, eine Vorstufe der Kompetenzen. Für Primarlehrer ist der Lehrplan 21 hingegen eine grössere Umstellung, da im Primarschullehrplan bisher hauptsächlich Lerninhalte definiert waren.
Trotzdem will Hintermann nicht von einem Paradigmenwechsel oder gar einer Vision sprechen. «Der Lehrplan 21 ist ein Kind seiner Zeit.»
Sie hört von vielen Lehrpersonen, die den Lehrplan 21 lesen: «Das mache ich doch schon lange so.» Die Schüler würden die Umsetzung des neuen Lehrplans deshalb kaum zu spüren bekommen – der Unterricht werde nicht komplett umgekrempelt, sondern nur punktuell weiterentwickelt.
Es sei jedoch wichtig, die Änderungen nun in den Kollegien zu diskutieren, um eine pädagogische Entwicklung anzustossen, sagt Hintermann.
Erziehungswissenschaftler Düggeli: «Die Lehrplan-Revision könnte dieses Mal – vielleicht im Unterschied zu früheren Revisionen – dem Schulbetrieb wirklich neue Impulse verleihen.» Es komme jedoch darauf an, wie die Lehrpersonen mit dieser Aufgabe umgingen.
Der Lehrplan 21 ist weder Vision noch Wahnsinn. Er entspricht einfach nur dem erziehungswissenschaftlichen Zeitgeist.
(SF-Sendung «Club» vom 11.11.2014 zum Thema «Lehrer am Limit»)