Liebe Jugend: Tanz dich frei!

Dauernd ist von Freiheit die Rede. Und gleichzeitig werden die Freiräume immer weniger. Dieser Widerspruch macht uns krank.

(Bild: Nils Fisch)

Dauernd ist von Freiheit die Rede. Und gleichzeitig werden die Freiräume immer weniger. Dieser Widerspruch macht uns krank.

Letzten Samstag haben wir eine verwilderte Gartenparty gefeiert. Es war mitten in den Sommerferien, viele Anwohner waren verreist und wir haben im Radius von 200 Metern Flyer verteilt mit dem Wunsch, dass wir gerne ausnahmsweise bis etwa halb zwei mit Freunden und Familien tanzen würden. Natürlich waren die Anwohner eingeladen. Einige erschienen dann auch und als um Mitternacht eine Nachbarin bat, die Musik leiser zu stellen, folgten wir ihrem Wunsch und tanzten etwas leiser weiter.

Später wollten wir dann in einen Club übersiedeln. So weit kam es nicht. Kurz nach Mitternacht betraten mehrere Zivilpolizisten den Garten, sagten, sie hätten unzählige Klagen gekriegt. Sie sahen nur deshalb davon ab, unseren Garten mit einem Einsatzkommando zu stürmen, weil wir sofort einlenkten und die Party abbrachen. Wir waren etwa 50 Leute zwischen 20 und 40 Jahren. Kein Gewaltpotenzial. Nur Freude, Freunde und Musik im eigenen Garten.

Fünf dieser Freunde fuhren am nächsten Tag spontan mit dem Auto an den Greifensee. Dabei gelangten wir etwa 20 Meter weit in eine nur für Zubringerdienst geöffnete Strasse. Ich fand, dass wir so viel Zeit im Dienst zubringen, dass es uns erlaubt sein müsste, da durchzufahren, um an den See zu gelangen.

Verkehrs-Kleinkriminelle

Aber wir hatten die Rechnung ohne zwei nun auftretende Instanzen gemacht. Zum einen war da unser verdrängtes gutbürgerliches Gewissen, das uns eben nach 20 Metern zum Umdrehen drängte. Zum anderen war da die bis auf die Zähne sportlich gekleidete Dame, die ihren freien Tag damit verbrachte, Verkehrs-Kleinkriminellen wie uns die Schilder vorzulesen.

Die passive Aggressivität dieser selbsternannten Ordnungshüterin, veranlasste wiederum unsere temperamentvolle Fahrerin dazu, sich bei der Dame zu erkunden, ob sie denn die Dorfpolizistin sei. Was diese wiederum zum Zücken ihres am Oberarm befestigten Smartphones bewegte mit dem Hinweis, sie werde nun Massnahmen ergreifen.

Wir ergriffen die Flucht an den See, wo wir nach drei abgesperrten Privatstegen endlich einen Badeplatz fanden – das Schild, dass Baden hier aus irgendeinem Grund verboten war, ignorierten wir.

Wenige Worte wurden so oft Opfer von Rattenfängern wie die Freiheit.

Ich habe mir viele Gedanken über Freiheit gemacht. Erinnerte mich an die Nacht, in der ich hinter dem Chämerhuus Langenthal während dem Ausladen meines Musik-Equipments für ein Konzert wegen Falschparkierens von der Polizei verbüsst wurde, während vorne in der Marktgasse ein gespenstischer Nazi-Mob mit Fackeln ungehindert seine Mahnwache abhalten durfte. 

Ich dachte an die Reitschule in Bern, die als Freiraum immer wieder als Sündenbock für die Missstände und Schattenseiten der Spiessergesellschaft hinhalten muss. Ich dachte an die Freisinnigen, deren Parolen tatsächlich frei von Sinn sind, wenn sie glauben, dass Neoliberalismus und deregulierter Markt etwas mit Freiheit zu tun haben. Oder an die libertären Bewegungen, die ich auf gruseligen Facebook-Seiten entdeckt habe, die versuchen ihre braune Kacke mit dem Duft der Freiheit zu übertünchen. Ich dachte an Parteien und deren Exponenten, die mit den Schlagwörtern Freiheit und Unabhängigkeit aus Staatenbünden und Menschenrechts-Verpflichtungen austreten wollen.

Wenige Worte wurden so oft Opfer von Rattenfängern wie die Freiheit. Ich kann mich frei zwischen Big Mac und Cheeseburger entscheiden, mir stehen alle möglichen Bildungs- und Berufswege offen, mit dem neuen Sparkonto geniesse ich absolute Freiheit, dieselbe Freiheit kann mir übrigens ein SUV oder die richtige Zigarettenmarke bescheren. Gott hat uns den freien Willen gegeben: Wir können uns entscheiden, ob wir mit ihm in ewiger Glückseligkeit oder ohne ihn in ewiger Verdammnis leben wollen.

Eine zu frei interpretierte Freiheit kann zur grotesken Gefangenschaft werden.

Auf Social Media findest du unter dem Hashtag #freedom Millionen Bilder von Menschen beim Fliegen, Bungee-Jumpen, Reisen und mit dämlichen Tattoos. Ok, ich habs jetzt grad getestet: Wenn ich diesen Hashtag eingebe, kommen viele Bilder von Soldaten und amerikanischen Flaggen, nicht selten in Kombination mit einem #MakeAmericaGreatAgain – womit wir beim grössten aller Rattenfänger wären, auf den ich diesmal gar nicht eingehen will.

Amerika ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine zu frei interpretierte Freiheit zur grotesken Gefangenschaft werden kann. Und wir orientieren uns an diesem gescheiterten Land, in dem sich die Regierung auch mal die Freiheit nimmt, ihre Bürger per Gesetz umzubringen.

Wir sind umgeben von Vorgaben und Verboten, von Zielen, die es zu erreichen gilt, und von Anforderungen, die wir erfüllen müssen; von Dresscodes und Geschäftsbedingungen, Verträgen, Abos, Profilen und Kameras. Wir sind nicht frei! Freiräume müssen Bürokomplexen weichen, Partys und andere Veranstaltungen werden abgestellt. Ausser es handelt sich um einen gewinnbringenden Event, wie ein Fussball-Turnier oder ein Nationalfeiertag. Da lässt sich auf verschiedenen Ebenen Geld verdienen. Das sollte man fördern, der freien Marktwirtschaft zuliebe.

In einer Welt, die unbegrenzte Möglichkeiten vorgaukelt und gleichzeitig den Raum, diese auszukosten, einschränkt, werden Freiheitsliebende zu Klaustrophoben.

Wir sind erschüttert, dass es Hooligans gibt, Raser und Amokläufer. Ich bin überzeugt, dass die Gesellschaft, wie sie heute funktioniert, zusehends Neurosen, Aggressionen, Depressionen, Psychosen und Gewalttätigkeit fördert. In einer Welt, in der einem auf der einen Seite unbegrenzte Möglichkeiten vorgegaukelt werden, auf der anderen aber der Raum, diese auszukosten, zusehends eingeschränkt wird, werden Freiheitsliebende zu Klaustrophoben, Suchende zu gefundenem Fressen und Verunsicherte zu tickenden Bomben.

Ich hab das schon mal gesagt: Wir brauchen Spielplätze für den inneren Schweinehund. Und einen offenen Dialog in Beziehungen aller Art. Und Mut, Verständnis, Zeit für Schwäche. Und eine Gesetzgebung, die der Jugend ihre Freiräume, ihren Trotz und ihre Kreativität lässt.

Eine Gesellschaft, die Jugendlichen ihren Freiraum verwehrt, die die Landschaft mit Verboten übersät und wegen Gartenpartys Einsatzkommandos losschickt, ist nicht frei, sondern frei von Liebe. Deshalb liebe Jugend: Tanz dich frei!

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