Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum AKW Mühleberg zeigt, dass die Justiz sich nicht mehr von energiewirtschaftlichen Sachzwängen leiten lässt und der jahrelang bestens funktionierende Filz der Atomlobby Löcher bekommt.
Mit der Befristung der Laufzeit des AKW Mühleberg bis zum 28. Juni 2013 hat das Bundesverwaltungsgericht letzte Woche weit herum für Verblüffung gesorgt. Der 40 Jahre alte Atomreaktor vor den Toren der Stadt Bern ist seit den vertieften Sicherheitsabklärungen im Anschluss an die Katastrophe von Fukushima unter den fünf Schweizer AKW zum Sorgenkind Nummer 1 avanciert. Seit Jahren bekannte Risse im Kernmantel und die Hochwassergefahr für das Kraftwerk unterhalb der Staumauer des Wohlensees sind die grössten Risiken.
Trotz der bereits damals bekannten Sicherheitsmängel erhielt Mühleberg 2009 nach Jahren jeweils bloss befristeter Betriebsbewilligungen vom Umwelt-, Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsdepartement (UVEK) eine unbefristete Bewilligung. Diese heben die Richter mit ihrem Urteil jetzt auf. Wenn es der AKW-Betreiberin BKW bis Mitte 2013 nicht gelingt, ein verbindliches und auch finanziell tragbares Sanierungskonzept vorzulegen, das alle Sicherheitsmängel beseitigt, muss das Werk vom Netz.
Niemand will die Verantwortung
Der aktuelle Richterspruch (siehe PDF auf der Rückseite dieses Artikels), der nun auch vom Bundesgericht überprüft wird, stellt den Bewilligungsbehörden und der Atomaufsicht ein schlechtes Zeugnis aus. Moritz Leuenberger, in dessen Departement und Amtszeit die unbefristete Bewilligung erteilt wurde, sagt heute, im UVEK habe man in erster Linie aus juristischen Gründen so entschieden. Die Atomaufsicht habe damals keine Sicherheitsbedenken vorgebracht.
Auch das Eidgenössische Nuklear-Sicherheits-Inspektorat (Ensi) verteidigt sich. Ensi-Direktor Hans Wanner findet, der jüngste Gerichtsentscheid sei keine Kritik an der Arbeit der Atomaufsicht. Das Ensi habe die im Richterspruch genannten Sicherheitsmängel bereits moniert und deren Behebung eingefordert. Es liege aber an den politischen Behörden, die Betriebsbewilligung zu verlängern oder aufzuheben. Energieministerin Doris Leuthard und ihr Bundesamt für Energie hüllen sich noch in Schweigen.
Klar ist: Die Verantwortung, ein AKW aus Sicherheitsgründen abzustellen, will niemand wirklich übernehmen, weder das Departement noch das Ensi. Leuenberger ist zugute zu halten, dass das energiepolitische Umfeld 2009 ein ganz anderes war: Damals verkündete die Atomlobby noch eine Renaissance der Atomenergie.
Gleich drei Gesuche für neue Reaktoren waren auf guten Wegen. Gegen das seit Jahrzehnten bestens eingespielte Interessengeflecht der Schweizer Stromwirtschaft wagten in der Frage der Mühleberg-Betriebsbewilligung weder das Bundesamt für Energie (BFE) noch die Atomaufsicht einen anderen Entscheid.
Das Netzwerk der Atompolitiker
Seit Fukushima hat sich das Umfeld aber grundlegend geändert. Mit dem politisch breit abgestützten Ausstiegsentscheid ist auch ein Abstellen von Mühleberg und allenfalls der gleich alten zwei Reaktoren von Beznau kein Tabu mehr – auch wenn das unerwartete Gerichtsurteil die Front der AKW-Befürworter wieder auf den Plan ruft.
Die Atomlobby ist seit Fukushima zwar geschwächt, aber noch immer mächtig. Vorwiegend bürgerliche Regierungsräte sitzen als Vertreter der Kantone in den Verwaltungsräten der grossen Schweizer Elektrizitätswerke. Problemlos setzen sie dabei je nach Fragestellung den einen oder anderen Hut auf: Als Axpo-Verwaltungsrat verteidigt zum Beispiel der Zürcher SVP-Regierungsrat Markus Kägi bis heute die Atomstromproduktion, die dem Kanton Zürich Millionen in die Staatskasse spült.
Gleichzeitig wehrt er sich als besorgter Zürcher Kantonsvertreter offiziell gegen ein Atommülllager im Zürcher Weinland.
Auch der Glarner Ex-Regierungsrat und aktuelle FDP-Ständerat Pankraz Freitag ist ein typischer Schweizer Atomlobbyist. Er sass bis zu seiner Wahl nach Bern ebenfalls im Axpo-Verwaltungsrat. Seither dient er der Atomwirtschaft als Verwaltungsratspräsident der Nagra und vertritt ihre Interessen als Mitglied der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie.
Im Axpo-Verwaltungsrat sitzen auch die Regierungsräte Peter C. Beyeler (FDP, Aargau, Ex-NOK-Vizedirektor), Heinz Tännler (SVP, Zug), Jakob Brunnschweiler (FDP, Appenzell Innerrhoden) sowie Reto Dubach (FDP, Schaffhausen). Und seit dem 9. März gehört diesem auch der Thurgauer Ex-Regierungsrat und SVP-Ständerat Roland Eberle an – alles einflussreiche Männer, die sich diskret, aber effizient für die Interessen der Stromkonzerne engagieren.
Ergänzt wird das pro-atomare Netzwerk in den Kantonen durch viele atomfreundliche Vertreter in National- und Ständerat. 94 eidgenössische Parlamentarier vorab aus SVP, FDP und CVP standen vor den Wahlen vom letzten Herbst auf der Mitgliederliste der Pro-AKW-Organisation Aves.
Aufsichtsbehörden fehlt der Biss
Dieser starken Lobby stehen noch immer schwache Behörden gegenüber. Zwar hat Fukushima im BFE und beim Ensi ein Umdenken in Gang gesetzt. Doch der jahrzehntelang eingeübte Kuschelkurs gegenüber der Stromwirtschaft verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen, zumal das Personal bis heute weitgehend das gleiche geblieben ist.
Das BFE sieht seine Hauptaufgabe nach wie vor nicht darin, der Schweiz die Sicherheit der Atomanlagen zu garantieren, sondern die Sicherheit der Stromversorgung. In der Frage der Atommüll-Entsorgung etwa hält es stur an seinem vor Fukushima gefassten Plan fest und droht das politisch heikle Unterfangen einmal mehr gegen die Wand zu fahren.
Auch das Ensi ist unter seinem neuen, im Vergleich zu seinem Vorgänger offeneren Direktor Hans Wanner noch kein wirklich starkes Aufsichtsgremium geworden. Den Verantwortlichen ist immerhin klar geworden, dass grössere Unabhängigkeit und mehr Fachkompetenz nötig sind. So trennte man sich letztes Jahr aus Gründen möglicher Interessenkonflikte von Ensi-Verwaltungsratspräsident Peter Hufschmied und Verwaltungsratsmitglied Horst-Michael Prasser, deren Nähe zur Stromwirtschaft politisch nicht mehr tragbar war.
Doch bei der Neubesetzung verliess der Mut zu einem grundlegenden Kulturwandel die Verantwortlichen bereits wieder: Statt mit Walter Wildi, dem ehemaligen Präsidenten der Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen, endlich auch einen atomkritischen, wirklich unabhängigen Fachmann zu wählen, schickte man Werner Bühlmann, den pensionierten Leiter der Rechtsabteilung im BFE, ins Ensi-Aufsichtsgremium. Bühlmann ist der Mann, der vor drei Jahren massgeblich am Entscheid zur unbefristeten Betriebsbewilligung für Mühleberg beteiligt war.
Die abtrünnige «Atom-Doris»
Doch der Atomfilz hat Löcher bekommen. Prominentestes Beispiel dafür ist Energieministerin Doris Leuthard. Die ehemalige Verwaltungsrätin der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg, von AKW-Gegnern einst als «Atom-Doris» angefeindet, hat unter dem Eindruck von Fukushima in der Schweizer Energiepolitik in kurzer Zeit mehr bewegt als der erklärte Atomgegner Leuenberger in seiner ganzen Amtszeit. Nicht weil sie eine überzeugte Atomgegnerin ist, sondern weil sie sich als lernfähig erwies, den historischen Moment verstand und seither dem gesunden Menschenverstand statt den Interessen der Stromindustrie folgt.
Nach dem Ausstiegsentscheid kritisierte Leuthard die Schweizer Stromkonzerne, deren lieb Kind sie einmal war, als «träge» und reist mittlerweile als Botschafterin der Schweizer Clean-Tech-Industrie in der Welt herum. Ihr Beispiel dürfte Schule machen: Dass es in der Schweiz dereinst eine Energiezukunft auch ohne AKW gibt, daran glauben heute die meisten Schweizerinnen und Schweizer. Auf diesem Hintergrund ist der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts nur folgerichtig.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.03.12