Marco Maurer: «Die Begabtesten werden oft nicht entdeckt»

Marco Maurer lernte erst Molkereifachmann und ging dann an die Uni. Nun hat der Journalist ein Buch über die Folgen der Herkunft für die Bildungskarriere geschrieben. Ein Gespräch über die Schwierigkeit, dem eigenen Milieu zu entkommen.

Marco Maurer: «Zwei sich paarende Akademiker zeugen nicht automatisch intelligente Kinder, wie auch zwei sich paarende Arbeiter nicht automatisch dumme Kinder zeugen.» (Bild: Markus Roeleke)

Marco Maurer lernte erst Molkereifachmann und ging dann an die Uni. Nun hat der Journalist ein Buch über die Folgen der Herkunft für die Bildungskarriere geschrieben. Ein Gespräch über die Schwierigkeit, dem eigenen Milieu zu entkommen.

«Du bleibst, was du bist – warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet», so heisst das Buch von Marco Maurer. Im Interview spricht er über Arbeiterkinder, die es nicht an die Uni schaffen, und Akademikernachwuchs, der nicht Dachdecker werden darf.

Sie haben nach Ihrem «Zeit»-Artikel «Ich Arbeiterkind» 2013 über 400 Zuschriften erhalten. Was stand da drin?

Zu 95 Prozent waren es positive Zuschriften von Menschen, denen es wie mir ergangen ist oder die die Situation gerade durchlebten. Sie freuten sich, etwas über dieses Thema zu lesen. Ein Prozent Kritik, die anderen vier Prozent waren Leute, die gerne Dachdecker oder Floristen werden wollten, deren Eltern sich aber aus statuserhaltenden Gründen dagegen sperrten.

Ist es eine Schande für ein Akademikerkind, nicht zu studieren?

Natürlich nicht. Lehrberufe sind grossartige Berufe. Wer ein Handwerk als seine Begabung erkennt, dem sollte man helfen, sich diesbezüglich zu verwirklichen – egal aus welchem Milieu er oder sie stammt. Doch in der Realität sieht das oft anders aus. Meine Mutter etwa wollte lange, dass ich Molkereifachmann bleibe und nicht Journalist werde – ein Handwerksberuf ist halt etwas schön Bodenständiges. Aber es war für mich nicht das Richtige. Ich habe zwei linke Hände.

«Wer einmal in die niederste Schulform eingestuft wird, hat grosse Mühe, da wieder herauszukommen.»

Warum werden aus Akademikerkindern oft Akademiker und warum bleiben Arbeiterkinder oft Arbeiter?

Die Weichenstellung nach der Primarschule kommt mit etwa elf Jahren viel zu früh; sie trifft Kinder, die in einem ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadium sind. Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich sagt deswegen, dass diese Empfehlung «hochgradig unseriös» ist. Zudem: Wer einmal in die niederste Schulform eingestuft wird, hat grosse Mühe, da wieder herauszukommen. Oft fehlt dann auch das nötige Selbstvertrauen. Zuletzt spielt das soziale Umfeld eine grosse Rolle, das eigene Milieu hat einen soziologisch verstärkenden Effekt. Es geht um Fragen wie: Welchen Stellenwert hat Bildung im Umfeld des Kindes? Hat es einen Raum zum Lernen? Wird in seinem Umfeld gelesen oder nur ferngesehen? Kinder aus bildungsfernen Milieus kommen weniger auf die Idee zu studieren, und häufig sind auch die Eltern dagegen.

Mal provokativ gefragt: Sind Arbeiterkinder nicht einfach dümmer als Akademikerkinder?

Das ist ein Vorurteil, das zu verbreiten vor allem dem eigenen Statuserhalt dient. Zwei sich paarende Akademiker zeugen nicht automatisch intelligente Kinder, wie auch zwei sich paarende Arbeiter nicht automatisch dumme Kinder zeugen. Das ist durch Studien belegt.


Marco Maurer über sein Buch «Du bleibst, was du bist».

Es geht also darum, sich gegen Konkurrenz von unten abzuschotten?

Ja, die Mittel- bis Oberschicht hat Angst um die Karriere ihrer eigenen Kinder, um den Status der Familie. Die Folge davon ist, dass an unseren Universitäten und damit später in unseren Betrieben, Spitälern, Kanzleien und Redaktionen nicht immer die Begabtesten und Besten sitzen. Sondern jene, die von ihrem Netzwerk profitieren konnten. Jene, denen es etwas einfacher gemacht wurde als den anderen. Die Begabtesten und Besten werden oft gar nicht entdeckt – auch in der Schweiz.

«Die Gesellschaft entwickelt sich auseinander in einem mehrgliedrigen Schulsystem.»

Wie muss sich das Bildungssystem ändern, damit die Besten aufsteigen, und nicht die am besten Situierten?

Der Nachteil, den bildungsferne Milieus haben, müsste durch das Schulsystem ausgeglichen werden, und zwar ohne eine Benachteiligung der bildungsnahen Milieus. Konkret sollte die Empfehlung nach der Primarschule abgeschafft werden und ähnlich wie in Finnland – dort war ich an einer Schule für meine Buchrecherche – länger gemeinsam unterrichtet werden. In einer finnischen Gesamtschule wird von der ersten bis zur neunten Klassen selektionsfrei zusammen unterrichtet. So hat jedes Kind innerhalb von neun Jahren die Chance, herauszufinden, was ihm gut tut und was es gut kann. Es wird oft in Gruppen gearbeitet, die sich je nach Leistungsstärke neu bilden, und besonders gute Schüler bekommen besonders knifflige Aufgaben. Auf zehn Schüler kommen etwa zwei Lehrer.

Ein Betreuungsverhältnis, von dem Schweizer Lehrer nur träumen können.

So bleibt Raum, um Schüler, die einen Rückstand aufweisen, wieder an den Rest der Klasse heranzuführen und Zeit, um auf individuelle Probleme einzugehen. Die Besten der Klasse entwickeln sich weiter – und profitieren auch in sozialen Belangen, etwa weil sie auch auf Kinder aus anderen Kulturkreisen treffen.

Was ist denn das Problem mit der Separierung nach der Primarschule?

Sie vermittelt ein Weltbild, das die Schüler aufteilt in die Guten, die Mittleren und die Blöden. Dieses zur Schulzeit geprägte Weltbild beobachte ich noch heute oftmals bei Erwachsenen, und oft treffen diese Welten nur noch an der Kasse im Lebensmittelladen aufeinander. Die Gesellschaft entwickelt sich auseinander in einem mehrgliedrigen Schulsystem.

«An Schweizer Universitäten gibt es kaum Studierende aus bildungsfernen Haushalten.»

Wie beurteilen Sie die Lage in der Schweiz?

Weniger ein Problem als in Deutschland ist es, wenn ein Kind eines Professors eine Lehre machen will. In europäischen Vergleichsstudien bezüglich der Chancengerechtigkeit schneidet die Schweiz allerdings ähnlich miserabel ab wie Deutschland. An Schweizer Universitäten gibt es kaum Studierende aus bildungsfernen Haushalten. Ich habe das selbst erlebt, denn ich habe in Fribourg und Bern studiert und halte mich privat häufig in der Schweiz auf. 

Was macht die Schweiz gut?

Handwerker und Arbeiter sind sozial besser gestellt und besser bezahlt. Zum Vergleich: Eine Friseurin verdient in Deutschland gerade mal durchschnittlich 1400 Euro im Monat abzüglich Steuern. Die Wertschätzung für eine Leistung beginnt eben auch damit, was dafür bezahlt wird. Der Niedriglohnsektor beginnt in Deutschland mit den Praktika nach dem Studium – sie sind, trotz Mindestlohn, oftmals schlecht oder gar nicht bezahlt. Das diskriminiert Menschen aus bildungsfernen und oftmals einkommensschwachen Haushalten ein weiteres Mal. In der Schweiz sind unbezahlte Praktika glücklicherweise undenkbar. Positiv ist auch, dass offen über die Probleme debattiert wird und dass sich – im Gegensatz zu Deutschland – auch einfachere Leute an den gesellschaftlichen Debatten beteiligen. So werden halt manchmal auch Dinge ausgesprochen, die besser ungesagt bleiben würden. In Deutschland dagegen debattiert meist nur der akademische Kreis. Nicht-Akademiker glauben fälschlicherweise, nichts zur Diskussion beitragen zu können.

«Jeder Aufsteiger, den ich für mein Buch getroffen habe, hatte einen Helfer ausserhalb des Schulsystems.»

Sie sind in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, und nun verkehren Sie in Akademikerkreisen. Wie bringen Sie diese Milieus zusammen?

Ich bring sie zusammen, aber meistens nur einmal die und einmal die. Zwischen den beiden Milieus herrscht oft Sprachlosigkeit.

Besteht nicht die Gefahr, beiden Milieus fremd zu werden?

Ich glaube nicht. Es kann doch auch ein Vorteil sein, sich in beiden Milieus auszukennen. Ich habe aber für mein Buch auch mit Menschen gesprochen, die mit ihren Eltern gebrochen haben, weil diese nicht goutierten, in welche Richtung sich ihre Kinder entwickelten. Der Grundstein dafür wird durch unser selektives Schulsystem gelegt.

Was können Akademiker tun, wenn sie Arbeiterfamilien unterstützen möchten?

Wer beobachtet, dass ein Kind, das mutmasslich Potenzial mit sich bringt, in der niedersten Schulstufe eingestuft wird, der sollte eingreifen. Jeder Aufsteiger, den ich für mein Buch getroffen habe, hatte einen Helfer ausserhalb des Schulsystems, egal ob der Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube, oder Cem Özdemir. Als die Lehrerin Özdemirs bei einem Elternabend zu seiner Mutter sagte: «Bei Cem ist es doch egal, ob er sitzenbleibt oder nicht. Den schicken sie sowieso zurück in die Türkei», half der Nachbar, ein Lehramtsreferendar und Sozialdemokrat. Er war empört über den Vorfall und überzeugte die Lehrerin im persönlichen Gespräch davon, den damaligen Erstklässler Cem in die zweite Klasse zu versetzen. Heute ist Özdemir Parteichef der deutschen Grünen.

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