«Menschen ertrinken langsam und leise»

Wie geht das, wenn ein Mensch im Meer stirbt? Eine präzise Schilderung angesichts einer entsetzlichen Debatte. 

Diese Menschen wurden von der NGO Moas aus dem Mittelmeer gerettet. Viele andere aber ertrinken, weil ihnen niemand hilft.

Die in Europa intensiv geführte Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen hat sich längst entkoppelt von der Realität. Nie haben in den letzten vier Jahren weniger Flüchtlinge versucht, übers Mittelmeer Europa zu erreichen. 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, schafften eine Million Menschen die riskante Überfahrt. 2018 sind es bislang weniger als 50’000. Die präzisen Zahlen dazu liefert die UNO.

Gleichzeitig sind im Verhältnis dazu in den letzten sechs Wochen so viele Menschen gestorben wie nie zu vor in den letzten Jahren. Das hat einen einfachen Grund: Nachdem die EU das Rettungsprogramm Mare Nostrum gestoppt hat, übernahmen NGO und private Initiativen die Rettung von Flüchtlingen, die in Seenot geraten sind.

Vorreiterin Schweiz

Deren Booten wurde nun zunächst von Italien das Anlanden verwehrt, später zogen andere Staaten nach. Nun werden die Kapitäne der Hilfsschiffe kriminalisiert und deren Boote in den Häfen festgesetzt. Womit die Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen derzeit dem Zufall überlassen ist.

Das stört kaum jemanden. Eine politische Debatte über das Ertrinkenlassen findet nicht statt, schon gar nicht in der Schweiz, wo man keine Zuständigkeit erkennen kann. Der Diskurs dreht sich alleine um weitere Abschreckung, um stärkeren Grenzschutz und die innereuropäische Lastenverteilung. Die Rechtspopulisten haben auf ganzer Linie gewonnen.

Die Gleichgültigkeit gegenüber den Tausenden Toten im Mittelmeer ist mitunter eine Folge der Verrohung der Sprache in der Flüchtlingsdebatte. Der frühere CDU-Minister Norbert Blüm zeigt das in einem wortgewaltigen Beitrag in der «Süddeutschen» auf, in dem er die Entmenschlichung von Migranten analysiert. «War jene Mutter, die nur eines ihrer drei Kinder so lange über Wasser halten konnte, bis das Rettungsboot sie auffischte, eine ‹Asyltouristin›»?, fragt Blüm etwa.

Die Schweiz war wie so oft Vorreiterin darin, den rechtspopulistischen Duktus salonfähig zu machen und damit die Debatte entscheidend zu verändern. Das beschreibt der «Tages-Anzeiger» in einer Analyse «der neuen Grausamkeit».

Mittlerweile scheint es selbst für aufgeklärt bildungsbürgerliche Medien reizvoll, die Grausamkeit diskursiv zu erweitern.

Auch das breitflächige Versagen der Medien trägt dazu bei, dass es keinerlei politische Initiativen gibt, den Massentod von Flüchtlingen zu verhindern. Weil andauernde Probleme keine Redaktoren mehr hinter ihrem Schreibtisch hervorlocken. «Aber jetzt, da alle Geschichten geschrieben und gesendet und alle Journalistenpreise gewonnen sind, spielen die Schicksale der Menschen auf den Schiffen keine grosse Rolle mehr», schreibt der Blog «Übermedien» in einem schmerzhaft selbstkritischen Beitrag.

Reizvoller scheint es mittlerweile selbst für aufgeklärt bildungsbürgerliche Medien, die Grausamkeit diskursiv zu erweitern. Vorsichtig tut das die «Republik», indem sie behauptet, NGOs seien Teil des Geschäftsmodells der Schlepper und damit Teil des Problems. Warum das nicht stimmt, hat die Berliner «taz» treffend aufgeschrieben: «Doch als es noch keine Rettungs-NGOs gab, gab es auch Schlepper, es gab Tote und es gab Menschen, die nach Italien und Griechenland kamen, obwohl sie nicht durften.»

Deutlich grobschlächtiger geht ausgerechnet die sonst so abgeklärte «Zeit» zu Werke. Mit Verweis darauf, dass es keine Denkverbote geben dürfe, veröffentlichte das Blatt unter dem Titel «Oder sollen wir es lassen?» soeben ein Pro und Contra zur Seenotrettung durch private Organisationen im Mittelmeer. Schon die Anordnung des Artikels ist ein gefährlicher Fehlgriff, weil sie nahelegt, dass es Abwägungssache ist, sterbende Menschen retten.

Die «Zeit» übernimmt damit publizistisch das Betriebskonzept der Rechtspopulisten in ganz Europa: Es darf keine Gewissheiten geben, keine unverrückbaren Institutionen, keinen moralischen Konsens.

Welche Kompromisse bei den Menschenrechten wären denn angebracht?

«Das Ertrinken im Mittelmeer ist ein Problem aus der Hölle, ein politisches Problem, zu dessen Lösung die private Seenotrettung null und nichts beizutragen hat», schreibt «Zeit»-Autorin Marjam Lau. Um ihre Argumentation zu veranschaulichen zieht sie einen gewagten Vergleich:

«Wer in Not ist, muss gerettet werden, das schreibt das Recht vor und die Humanität. Beide schreiben allerdings nicht vor, dass Private übernehmen, was die Aufgabe von Staaten sein sollte. Wie problematisch das ist, wird schnell deutlich, wenn man das Prinzip einmal auf ein anderes Feld überträgt: Es gibt immer mehr Wohnungseinbrüche und Überfälle, die Polizei ist zu schlecht besetzt – warum nicht private Ordnungskräfte sich selbst einsetzen lassen?»

Und weiter:

«Vor solchen Zusammenhängen verschliessen viele Retter allerdings die Augen, denn sie wähnen sich moralisch auf der unangreifbaren Seite. An dem Problem, das sie beklagen, wirken sie damit allerdings mit. Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.»

Kompromissloses Verständnis von Menschenrechten? Welche Kompromisse bei den Menschenrechten fände Frau Lau denn angebracht?

Den privaten Rettern geht es zunächst einmal nur darum, Menschen vor dem Tod durch Ertrinken zu bewahren. Was geschieht, wenn sie nicht da sind? Wenn keiner da ist, die Menschen aufzufischen, die ins Meer fallen?

Julian Pahlke, Seenothelfer der Organisation «jugendrettet», hat nach der Lektüre des «Zeit»-Artikels die letzte Konsequenz dieses entsetzlichen Diskurses aufgeschrieben:

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