Das Leben ist sinnlos, wenn man es von seinem Ende her betrachtet. Also füllt man es, chrampft und kämpft um ein Schulterklopfen, um ein «Gut gemacht», um eine Beförderung, eine Auszeichnung, ein Dokument, auf dem steht: Du bist wichtig.
Nur blöd, wenn das Wichtige nicht mehr wichtig ist. So wie der Job der Nachtwächterin in einer Karton-Fabrik, die kurz vor der Schliessung steht. Die Ich-Erzählerin weiss, dass die Fabrik nicht mehr rentiert. Trotzdem nimmt sie den Job an und zieht gleich in die Fabrik ein. Die Begründung klingt fatalistisch und gibt dem Romandebüt von Gianna Molinari auch gleich den Titel: «Hier ist noch alles möglich.»
Was genau soll hier noch möglich sein? Schutz braucht diese Fabrik keinen. Die Monitore der Überwachungskameras zeigen die letzten Arbeiter, die morgens kommen und abends gehen, Tauben, die herumspazieren.
Sie wünscht sich einen Einbrecher
Die Ich-Erzählerin sitzt da, wünscht sich einen Einbrecher und versucht, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen: «Ist der Schatten des Vogels, der über den Hallenboden streift, das Wichtige oder ist es der Vogel selbst?», fragt sie wie der alte Platon, der in seiner Höhle sitzt und nach Wichtigerem strebt als der dumpfen Schattenwelt des Daseins.
Aber was ist es, das Platon wirklich sucht? Die Nachtwächterin denkt oft an Archäologen, die nicht graben, um zu finden, sondern damit ihr Name in einer Zeitschrift erscheint, «die für Archäologen (…) von Bedeutung ist». Um was geht es hier – Forschungsresultate oder Auszeichnungen, Erkenntnis oder Ruhm?
Eine Frage, die man auch einer Schrifstellerin stellen könnte: Was ist wichtiger: Geschichten erzählen oder sich Autorin nennen zu können?
Fragen wir also die Schriftstellerin. Gianna Molinari lacht ins Telefon, sagt in einem Dialekt, in dem ein verblassendes Baseldeutsch nachklingt: «Mir geht es natürlich ums Geschichtenerzählen. Aber es ist auch etwas mega Schönes, wenn man so lange schreibt, und jetzt wird ein Buch daraus. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist grossartig, dass meine Geschichte die Form eines Buches gefunden hat.»
Von Basel nach Zürich
Auch Ruhm hat sie gefunden. Das erwähnt sie aber erst am Schluss, als dieser Artikel hier schon geschrieben, die Zitate längst gegengelesen sind: Ihr Debüt ist kaum gedruckt, schon hat Gianna Molinari dafür den Robert Walser-Preis für Erstlingswerke gewonnen. Preissumme: 20’000 Franken.
Es ist nicht Molinaris erster Preis. Vor einem Jahr hat sie einen Auszug aus «Hier ist noch alles möglich» als Kurzgeschichte mit dem Titel «Loses Mappe» beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gelesen und dafür den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis gewonnen. 2014 erhielt sie für das Manuskript ihres Romans einen Werkbeitrag des Fachausschusses Basel-Stadt/Basel-Land. Am Freitag erscheint nun der Roman im Aufbau Verlag.
Momentan ist die Schrifstellerin gerade in Berlin, als Stipendiatin am Literarischen Colloquium. Einen Monat hat sie Zeit nur fürs Schreiben. Wenn Gianna Molinari über sich selbst redet, hält sie sich knapp. Aber dabei erzählt sie viel: Die heute 30-Jährige wuchs in Basel auf, begann früh mit Schreiben und Zeichnen und bastelte kleine Büchlein draus. «Verrückte Geschichten für meine Eltern oder die Gotte», erinnert sie sich.
Sie besuchte in Basel das Gymnasium, erfuhr dann aber vom Liceo Artistico in Zürich, ein Gymnasium mit den Schwerpunkten Italienisch und bildende Kunst. Sie zog um. Irgendwann realisierte sie: Schreiben ist ihr noch wichtiger als Zeichnen. Also bewarb sie sich am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und wurde angenommen. 2015 gründete sie mit ihrer Freundin Julia Weber (ja, das ist die Autorin des wunderbaren Romans «Immer ist alles schön») das Projekt «Literatur für das, was passiert» – ein literarisches Hilfsprojekt für Flüchtlinge.
Aber dann kamen die Zukunftsgedanken: Wie Geld verdienen, wie die Miete zahlen? Also hängte Molinari noch einen Master in Germanistik in Lausanne an. Und fand danach als Programmassistentin an den Solothurner Literaturtagen einen Job, der sie glücklich macht und die Miete zahlt.
Kürzen ist ein Prozess
Schreiben kann Gianna Molinari aber nicht, wenn sie im Alltag gefangen ist. «So am Feierabend drei Stunden abtauchen, das kann ich nicht. Ich brauche mehrere Tage am Stück, um ins Schreiben zu kommen.»
«Hier ist noch alles möglich» fing mit einer Zeichnung an. Gianna Molinari zeichnete ein Rechteck, in dieses schrieb sie «Halle» rein. Dann ausserhalb des Rechtecks: «Welt». Danach kam das Schreiben: Gianna Molinari setzte sich gedanklich in die Halle und baute Strich für Strich, Wort für Wort, die Welt, die ihr Roman ist.
Sie schreibt, recherchiert, wenn sie Lücken sieht, zeichnet, wenn sie mit Schreiben nicht weiterkommt. Und löscht und streicht und kürzt, wenn es zu viel ist. Trennt Wichtiges von Unwichtigem. «Es gab Phasen, in denen die Geschichte eine Riesenwucherung war», sagt Molinari. «Das Kürzen war ein Prozess.»
Klare Denkerin, präzise Schreiberin
Sechs Jahre lang dauerte dieser Prozess. Man merkt es dem Buch nicht an. Molinari ist gelungen, was nur klare Denkerinnen und präzise Schreiberinnen können: Mit wenigen Worten eine Welt zum Leuchten bringen.
Es ist eine kleine Welt. Die Halle ist in einer Fabrik und die Fabrik in einer kleinen Stadt mit einem Flughafen in der Nähe. Und in der Halle wohnt die Ich-Erzählerin des Romans. Viel weiss man nicht von ihr, ausser: Sie mag es nicht, zu verharren. Also hat sie Job und Wohnung in der alten Stadt aufgegeben und ist in diese Stadt hier gekommen und hat den Job der Nachtwächterin angenommen.
Und nun dreht sich ihr Alltag um zwei Figuren, die eigentlich gar nicht richtig hier sind: ein Wolf und ein Mann, der vom Himmel fiel.
Zum Wolf: Der Kantinen-Koch will einen auf dem Fabrikgelände gesichtet haben, die Wächterin muss ihn fangen. Sie will eigentlich nicht: Wo der Chef eine Bestie sieht, der in sein Territorium eingedrungen ist, sieht sie ein Tier, das vom Hunger aus seinem Habitat vertrieben wurde.
«Wer darf Grenzen überschreiten und wer nicht? Was stellen Grenzen mit uns an?»
Und dann entdeckt die Erzählerin ein Kreuz ausserhalb des Fabrikzauns. Es steht dort, weil an dieser Stelle vor ein paar Jahren ein toter Mann vom Himmel fiel.
Man weiss ebenso wenig über ihn wie über den Wolf, ausser, dass er schwarz war, Jeans und T-Shirt sowie ein Amulett trug. Er ist ein Namenloser, ohne Pass, ohne Identität. Die Behörden gehen davon aus, dass es sich um einen Flüchtling handelt, der sich im Hauptfahrwerk versteckt hatte und dort erfror. Vor der Landung fuhr das Flugzeug das Hauptfahrwerk aus, der Tote fiel vom Himmel. Der Wolf und der Mann: Zwei, die aus der Heimat flüchten und in fremdes Territorium eindringen. Beide riskieren dabei ihr Leben.
Das lässt die Nachtwächterin nicht mehr los:
«Seit ich weiss, dass nicht weit von meiner Halle ein Mann aus einem Flugzeug fiel und als Unbekannter gefunden wurde und ein Unbekannter blieb, scheinen mir die grundlegenden Dinge nicht mehr sicher zu sein: die Zugehörigkeit zu einer Familie, der eigene Name.»
Sie fängt an zu recherchieren, gräbt sich durch Zeitungsartikel, Dokumente, klettert in ein Flugzeug, ähnlich einer Archäologin. Und versucht, die Geschichte zusammenzusetzen, einen Sinn zu suchen, konkrete Antworten auf konkrete Fragen zu finden. Sie rechnet zum Beispiel mit Hilfe eines Legomännchens aus, wie schnell der Mann gefallen sein muss: 200 Kilometer pro Stunde.
Ähnlich recherchiert hat auch Gianna Molinari selber. Der Mann der vom Himmel fiel, fiel wirklich vom Himmel: Im Jahr 2010 im Wald in der Nähe der Zürcher Gemeinde Weisslingen. Und er liess Molinari nicht mehr los. Es ging ihr dabei um Grenzen, wie sie sagt: «Wer darf Grenzen überschreiten und wer nicht? Was stellen Grenzen mit uns an?»
Eine Frage von Leben und Tod
Für die Archäologen, an welche die Nachtwächterin immer wieder denkt, gibt es keine Grenzen. Sie graben in fremder Erde in fremden Ländern nach Wichtigem, während die Familie des Mannes, der vom Himmel fiel, nicht einmal weiss, dass er in fremder Erde liegt.
Und so lautet die Frage, die der Roman am Ende stellt, nicht nur: Was ist wichtig, sondern auch: Wer? Und das ist, was wir auch gerade bei aktuellen Flüchtlingsdebatten gerne vergessen, nicht nur eine Frage der Kultur oder der Politik, eine Frage von Pässen, Grenzen und internationalen Verträgen. Es ist eine Frage von Leben und Tod.
Gianna Molinari stellt die Frage ohne Verweis auf Realpolitik und auch ohne Pathos. Das braucht sie nicht, und das macht die Qualität dieser Schriftstellerin aus: Sie schreibt so dicht, so präzis, dass sie mit wenigen Skizzenstrichen eines der grossen Dramen unserer Zeit aufspannt.
Gianna Molinari: «Hier ist noch alles möglich», Aufbau Verlag, 192 S.