Mikrofilm: Bibliothek der Zukunft

Es gibt viele Gründe, nach Basel zu reisen. Doch nicht alle kommen wegen Herbstmesse, Altstadt oder Fasnacht. Manche kommen wegen Mikrofilmen ans Rheinknie – denn das Mikrofilmarchiv des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Basel beherbergt einen einzigartigen Schatz an mittelalterlichen Handschriften.

Mittelaterliches Handschriften-Liedbuch (Bild: stp)

Es gibt viele Gründe, nach Basel zu reisen. Doch nicht alle kommen wegen Herbstmesse, Altstadt oder Fasnacht. Manche kommen wegen Mikrofilmen ans Rheinknie – denn das Mikrofilmarchiv des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Basel beherbergt einen einzigartigen Schatz an mittelalterlichen Handschriften.

Er ist eine Kuriosität der besonderen Art: Der Mikrofilm. Jeder Student, jede Studentin einer historischen Wissenschaft wird einmal in seiner Universitätslaufbahn darüber stolpern. Dünnes Zelluloid, aufgerollt auf eine Plastikspule, eine Girlande aus winzigen Dias. Um zu entschlüsseln, was ein Mikrofilm verborgen hält, braucht man ein sogenanntes Lesegerät. Mit viel Fingerspitzengefühl muss der Film in die Halterung der unförmigen Apparatur gefummelt werden. Erscheint dann auf der düsteren Mattscheibe ein Schriftbild, ist es oft seitenverkehrt – die ganze Prozedur startet von Neuem. Dann heisst es kurbeln, bis man an die gesuchte Stelle gelangt ist, und hoffen, dass nicht schon wieder eine der vielen Spezialleuchten ihren Dienst verweigert.

Ja, er ist ein unhandliches Ding, der Mikrofilm. Doch trotz des vielbeschworenen digitalen Zeitalters, trotz Mobiltelefonen, die auch fotografieren und alles mögliche abbilden können, ist der Mikrofilm noch heute ein unentbehrliches Hilfsmittel. Zum Beispiel für Musiker und Musikwissenschaftler. Viele Handschriften, die Musik aus dem Mittelalter oder der Renaissance enthalten, werden von den Bibliotheken unter Verschluss gehalten – ihre Benutzung würde das Pergament zu stark beschädigen. Um sie dennoch für die Forschung einsehbar zu machen, fotografierte man auf Bestellung die gewünschten Handschriften und verschickte die Daten als Mikrofilm.

1937 galt diese Technik als zukunftsweisend, und so gründete Jacques Handschin im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Basel das Mikrofilmarchiv. Systematisch wurden Reproduktionen der relevanten Handschriften bestellt. Heute, nach 75 Jahren, haben sich über 10.000 Filme angesammelt. Sie enthalten Musik vom 6. bis zum 20. Jahrhundert, musiktheoretische Traktate und liturgische Handschriften, Briefe und Tagebücher von Komponisten der Neuzeit. «Das ist ein unglaublicher Bestand», sagt die Sängerin Agnieszka Budzinska-Bennett, die mit ihrem Ensemble Peregrina stets auf der Suche nach wenig bekannten mittelalterlichen Gesängen ist. «Schon oft bin ich zur Vorbereitung für ein neues Konzertprogramm im Mikrofilmarchiv fündig geworden.»

Auch die Arbeit der Musikhistorikerin Karin Paulsmeier wäre ohne das Mikrofilmarchiv kaum realisierbar gewesen. Sie ist Spezialistin für alte Notenschriften, der erste Band einer dreiteilig angelegten Buchreihe zur Notationskunde ist gerade erschienen. «Während meines Studiums Ende der 60er Jahre war ich fast jeden Tag im Archiv», berichtet sie. Nirgendwo sonst konnte sie sich so leicht in den verschiedensten alten Handschriften umschauen und Musik finden, «die anders nicht zu bekommen war. Ich habe viele Forscher erlebt, die von weit her nach Basel gereist sind, um mit den Mikrofilmen aus dem Archiv zu arbeiten.»

Doch mit der Zeit wurde der Mikrofilm durch andere Materialien ersetzt. «In den 80er Jahren gab es einen regelrechten Boom an Faksimiles», berichtet Paulsmeier. «Wichtige Handschriften wurden in aufwendigen Reprints aufgelegt. Und heute sind es die Digitalisierungen, die die Mikrofilme nach und nach ablösen.»

Ist das Mikrofilmarchiv also ein alter Hut? «Nein», sagt Matteo Nanni, Assistenzprofessor am Musikwissenschaftlichen Institut. «Wir kennen die Existenzdauer digitaler Daten noch nicht. Sie wird von Experten als äusserst kurz bewertet. Demgegenüber liegt die durchschnittliche Haltbarkeit eines Mikrofilms bei ca. 500 Jahren.» Und er ergänzt: «Viele Wissenschaftler und Musiker nutzen unser Archiv, da bisher schätzungsweise nur 10 bis 15 Prozent der existierenden Musikhandschriften des Mittelalters digital zugänglich sind.» Sogar Unikate beherbergt das Basler Mikrofilmarchiv: «Es gibt Filme von Handschriften in unserem Bestand, die während des Zweiten Weltkrieges zerstört wurden. Wer heute darüber arbeiten möchte, muss zu uns nach Basel kommen», sagt Nanni.

Auch der Mittelaltersänger Marc Lewon hält das Mikrofilmarchiv für unerlässlich. «Die Bibliotheken stellen zwar systematisch ihre Handschriften ins Netz, doch bis unter all den alten Codices, die für die Germanisten und Romanisten interessant sind, mal einer mit Musik fällt, kann es Jahre dauern – die Bibliotheken scannen ja nicht nur für uns Musiker und Musikwissenschaftler», erklärt Lewon. Dennoch plädiert er für eine Erneuerung des Basler Mikrofilmarchivs: die Filme sollten durch Scans auf DVD ersetzt werden. «So hätte man immer an einem Ort Zugang zu etlichen Quellen, ohne sich ständig auf all den Websites einloggen zu müssen. Zudem kann ich von vielen online-Portalen nicht ausdrucken – die Noten also nicht fürs Konzert verwenden.»

Auch darin unterscheiden sich die Mikrofilme: Man kann sie in den Universitätsbibliotheken auf Papier ausdrucken. So stehen beim Festkonzert zum 75. Jubiläum Werke aus dem Basler Mikrofilmarchiv auf den Notenständern: Gesänge von Johannes Ciconia aus dem frühen 15. Jahrhundert. Es spielt das Ensemble La Morra, es sprechen Pedro Memelsdorff und Felix Diergarten.

Quellen

Festkonzert: 5. November, Predigerkirche Basel, Totentanz 19, 19 Uhr.

Online-Portale mit digitalisierten Handschriften (Auswahl):

Digital Image Archive Of Medieval Music

Musicologie Médiévale

Bibliotheque numérique

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