Mit 30 Jahren fängt das Lernen erst richtig an

Anbieter von Sprachreisen haben eine neue Zielgruppe entdeckt: über 30-Jährige. Immer mehr Menschen lernen auch nach ihrer Jugend neue Sprachen. Warum, das haben wir in London nachgefragt – und einen 30+-Sprachkurs gleich selbst getestet.

Anbieter von Sprachreisen haben eine neue Zielgruppe entdeckt: über 30-Jährige. Immer mehr Menschen lernen auch nach ihrer Jugend neue Sprachen. Warum, das haben wir in London nachgefragt – und einen 30+-Sprachkurs gleich selbst getestet.

London im Juli 2015. In Basel schwitzen die Kollegen seit Wochen bei über 30 Grad im Schatten. In der britischen Hauptstadt herrschen angenehme 22 Grad. Eine gute Entscheidung, den Sommer weder im heimischen Büro noch am überfüllten Strand zu verbringen – sondern an einer Sprachschule.

Das finden fast alle meiner Klassenkameraden. Es ist unser erster Tag in London. Zwölf Sprachschüler aus neun Ländern drängen sich in den etwas zu klein geratenen Schulungsraum von EC-London. Und alle stellen einander die gleichen Fragen: «What’s your name? Where are you from? What’s your profession?»

Wir alle sind «30+» – so lautet auch der Zusatz der Sprachschule EC London. Auch junge Sprachschüler werden hier unterrichtet, aber jedes Alterssegment hat seinen eigenen Bereich. Und wenn man die späten Teenies und frühen Twens mit ihren schrillen Kleidern und den tiefen Augenringen im Eingangsbereich getrost hinter sich lassen kann, um durch die grosse Glastür mit der Aufschrift «30+» in eine andere Welt einzutauchen, dann bekommt das eigene, manchmal als durchaus fortgeschritten betrachtete Alter plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Ja, in unserer so jugendaffinen Welt tut es manchmal gut, sich der Vorteile des «Alters» bewusst zu werden.

Und derer gibt es viele: «hochmotiviert» seien die Sprachschüler 30+, sagt David Byrne, Academic Manager von EC London 30+. Alle hätten sich bewusst dazu entschieden, ihre Ferien und ihr Geld in diese Weiterbildung zu investieren – und das spüre man im Unterricht. Sprachschüler 30+ wollen wirklich lernen – was bei den Teens und Twens, die meist von ambitionierten Eltern geschickt würden, nicht immer der Fall sei.

Verschiedene Lehrstile, verschiedene Inhalte

Diese Kundschaft sei anspruchsvoll, sagt Byrne. Während es die Jüngeren aus der Schule gewohnt seien, hinzunehmen, was der Lehrer ihnen vorgebe, hätten die Schüler über 30 eigene Vorstellungen davon, was sie lernen wollen. Sie wüssten meist genau, wo ihre Schwächen liegen und fragten gezielt danach, an diesen zu arbeiten.

Es sei nicht immer leicht, diesen verschiedenen Ansprüchen gerecht zu werden, gibt Byrne zu. Aber deshalb bietet EC London 30+ eine Vielzahl an Intensivkursen zu verschiedenen Themen an. Grammatik im realen Kontext, Sprechen und Schreiben, Business-Englisch und vieles mehr werden von anderen Lehrkräften unterrichtet als die Grundkurse; und selbst bei denen wechseln sich täglich zwei Lehrer ab. So bekommen die Sprachschüler verschiedene Temperamente, verschiedene Lehrstile und verschiedene Inhalte präsentiert.




Ü-30-Schülerinnen sind hochmotiviert, aber auch anspruchsvolle Kundschaft für Sprachschulen.

Dennoch wiederholt sich unter den Sprachschülern die immer gleiche Art des Smalltalks nach dem Woher und dem Warum. Das wird auch nach zwei Wochen nicht langweilig, denn die Antworten sind immer wieder überraschend anders. Die meisten Mitt-Dreissiger bewegen sich zu Hause in ihrem eigenen Biotop aus Gleichgesinnten, und so kann die Durchmischung der Berufe und Lebenssituationen äusserst anregend sein. Wo lernt man sonst einen Ingenieur aus Istanbul, einen Filmemacher aus Neapel oder eine Lehrerin aus Polen kennen?

Grosse Fragen auf Englisch diskutiert

Keine Durchmischung gibt es hingegen hinsichtlich des Bildungsstandes und des Einkommens: Fast alle haben studiert, fast alle führen ein Leben im Mittelstand, fast alle finanzieren den Kurs selbst. Die Karrieremenschen finden sich eher im Business-Englisch-Kurs – doch dort sei die Stimmung nicht so herzlich, sagt ein Mitschüler, der nach einer Woche die Seiten gewechselt hat.

Ja, es geht sehr lustig zu in unserem Kurs. Fast alle geniessen es, mit über 30 Jahren noch einmal Klassenkameraden zu haben und sind sehr offen. Die Themen, die die Lehrer im Unterricht vorgeben, werden von den meisten tatsächlich als angenehm altersgerecht empfunden.

Und so diskutieren wir auf Englisch über unsere Wünsche und Träume, wir umschreiben Sprichwörter unserer Heimatländer, wir debattieren über Streetart und Politik, wir führen Dialoge über Stereotypen unserer Landsmänner, wir schreiben Berichte über unsere schönsten und schrecklichsten Erlebnisse. Viele dieser Fragen haben wir uns seit Jahren nicht mehr gestellt, und es tut gut, zu überlegen, ob und was jeder von uns in seinem Leben ändern würde, wenn er müsste oder könnte – oder ob es gut so ist, wie es ist.

Ich kann reden, und ich werde verstanden. Von Italienern, Portugiesen, Brasilianern, Polinnen, Russen und Bolivianerinnen.

Gerade das scheint ein gutes Konzept zum Sprachenlernen zu sein: Themen finden, die die Aufmerksamkeit der Schüler so stark in ihren Bann ziehen, dass sie alles daran setzen, Worte zu finden, um sich auszudrücken. Das bringt den Flow ins Sprachenlernen – und für viele nach einem ernüchternden Schulenglisch die erste wirklich positive Erfahrung mit dieser Sprache: Ich kann reden, und ich werde verstanden. Von Italienern, Portugiesen, Brasilianern, Polinnen, Russen und Bolivianerinnen.

Bis wir hingegen die native speakers wirklich gut verstehen, wird es noch eine Weile dauern – auch wenn viele von uns genau dafür in Gastfamilien wohnen. Die meisten buchen ein Einzelzimmer mit eigenem oder geteiltem Bad, Frühstück oder Halbpension inbegriffen. Doch wie viel Zeit und Musse zum Sprechen mit der Gastfamilie bleibt, hängt nicht nur von der Gastfamilie, sondern auch vom individuellen Freizeitprogramm der Sprachschüler ab.

Damit nicht mehr die Frau übersetzen muss

Der Unterricht findet während drei Stunden am Vor- oder am Nachmittag statt. Bei Belegung der Intensivkurse kommen noch einmal anderthalb Stunden in der Mittagszeit dazu. In der knapp berechneten Freizeit gehen viele den schier unerschöpflichen Freizeitmöglichkeiten Londons nach: Sightseeing, Museen, Musicals, Theater, Konzerte, Shopping – und natürlich das Besuchen der vielen Pubs, wo man eigentlich am besten Englisch lernt: durch talking, talking, talking.




Job, Hobby oder einfach genug davon, dass immer die Frau übersetzen muss: Die Gründe sind unterschiedlich für das Erlernen einer neuen Sprache.

Und zu erzählen gibt es unter den Sprachschülern genug. Immer wieder: Wo kommst du her? Warum bist du hier? Für manche sind es seit der Familiengründung die ersten Ferien allein: «Ungewohnt» sei das, sagt Natalie (47) aus Winterthur, «aber auch toll». Ihr Traum war es schon lange, fliessend Englisch zu sprechen – für den privaten Gebrauch, aber auch für ihre Patienten, sagt die Ernährungsberaterin.

Manuel (36) aus Brasilien brauchte bislang nur wenig Englisch im Job – er hat eine eigene Immobilienfirma und arbeitet als Ingenieur vor allem im eigenen Land. Aber dass bei privaten Reisen stets seine Frau für ihn übersetzen musste, hat ihn dann doch irgendwann gewurmt.

Carolin (30) aus der Karibik wollte schon seit ihrer Kindheit in einem internationalen Umfeld arbeiten. Sie liess sich als Travel Agent ausbilden, nun möchte sie umsatteln: Nach einem dreimonatigen Aufenthalt an der Sprachschule in London sucht sie in ihrer Heimat eine Stelle als Englisch-Lehrerin.

Marina (33) aus Moskau unterrichtet Musikgeschichte und möchte an internationalen Konferenzen teilnehmen. Christine (45) ist Lehrerin aus Frankreich und wird von ihrem Bildungsministerium geschickt – um demnächst ihre Fächer auch auf Englisch unterrichten zu können.

Monica (48) aus Bolivien arbeitet in der bolivianischen Botschaft in Brüssel und braucht neben Französisch nun vermehrt auch Englisch.

Jaqueline (30) folgt ihrem Freund nach London, der hier beruflich verankert ist. Damit ihr das Gleiche gelingt, muss sie ihre Englisch-Kenntnisse verbessern.

Komplex komponierte Choreografie

Warum all diese Menschen ihren Sprachkurs ausgerechnet in London verbringen, hat einen triftigen Grund: Weil sie gemeinsam mit Leuten aus ihrer Altersgruppe lernen möchten. 30+ boomt, das sagt auch Philipp Hari, Swiss German Regional Manager von ESL: «Die ersten kurzen Sommerkurse für 30+ gab es 2012. Seitdem ist das Angebot stetig gewachsen.» Der Schweizer Anbieter für Sprachaufenthalte ESL bietet derzeit Kurse für Ü30 auch in Toronto (Kanada), Valencia (Spanien), Malta, Dublin und Galway (Irland) an.

Für London haben sich die meisten wegen des Kulturangebots entschieden. Und weil EC London 30+ derzeit eine der wenigen Schulen ist, die ganzjährig Sprachkurse für dieses Alterssegment anbieten.

Aber nicht nur die Altersgruppe, auch die Lehrer tragen zum Erfolg der Schule bei. Bei EC-London folgt jede Stunde einer komplex komponierten Choreografie. Für alle Lernschritte werden verschiedenste Medien verwendet, Inhalte sind zeitlich kurz getaktet, so dass keine Leerzeiten aufkommen. Auch die meisten Lehrer sind jung – und hochmotiviert. «Man muss angefressen sein von seiner eigenen Sprache und seiner eigenen Kultur», sagt Tina Verna (30), Sprachenlehrerin bei EC London. «Und man muss es mögen, ständig neue Leute kennenzulernen.» Nämlich wöchentlich. Besonders im Sommer werden alle sieben Tage neue Sprachschüler in die Klassen gespült.

«It’s so hard to say bye bye every week!»

Sie frischen den Energielevel in den Klassen immer wieder auf: «Wenn man einen gewöhnlichen Sprachkurs bucht, dann geht nach einem Drittel der Zeit die Aufmerksamkeit deutlich nach unten. Immer», sagt David Byrne. «Gegen Ende des Kurses steigt die Motivation dann wieder. Diesen Knick in der Aufmerksamkeit haben wir hier nicht: Jede Woche kommen hochmotivierte neue Leute in die Klassen.»

Der Nachteil für die Langzeitschüler: «It’s so hard to say bye bye every week!», sagt Laura. Sie ist drei Monate an dieser Sprachschule, fast jeden Freitag nimmt sie an einem Abschiedsfest teil. Sie selbst hat ihren Job gekündigt, um endlich richtig Englisch zu lernen – und danach etwas ganz anderes beruflich zu machen. In ihrer Heimatstadt Sao Paolo.

Und wie sieht es in Basel aus? Unterstützt die Arbeitslosenversicherung Stellensuchende mit Sprachreisen? «Bei den Stellensuchenden sind eher mangelnde Deutschkenntnisse problematisch», sagt Alessandro Tani, Leiter des Bereichs Arbeitslosenversicherung und Mitglied der Geschäftsleitung des Amts für Wirtschaft und Arbeit Basel Stadt. «Die Fachkräfte, die zum Beispiel im Pharmasektor, Life Science-, Banken- oder Informatiksektor auf Stellensuche sind, verfügen in der Regel bereits über die für ihren Job nötigen Fremdsprachenkenntnisse.»

Vorsicht vor Überqualifikation

Dass jemand seine Vermittlungschancen durch einen Ausbau seiner Fremdsprachenkenntnisse signifikant erhöht, sei eher die Ausnahme, sagt Tani. Doch wenn ein Stellensuchender nach erfolgreicher Weiterbildung in Fremdsprachen (bspw. Englisch) bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat, dann könne die Arbeitslosenversicherung auch einen Sprachaufenthalt im Ausland finanzieren.

Tani persönlich findet lebenslanges Lernen sinnvoll: «Wenn man sich proaktiv und angemessen weiterbildet, kann man das Risiko, irgendwann arbeitslos zu werden, entsprechend minimieren», sagt er. Doch er kenne auch Kollegen, die davon abraten: Lebenslanges Lernen fördere die Überqualifikation.

Doch auch ohne bestimmte Jobabsichten kann eine Sprachreise in ein fremdes Land eine unvergessliche Erfahrung sein. «Wenn man andere Länder versteht, versteht man auch seine eigene Heimat besser», ist Sprachlehrerin Tina überzeugt. «It opens your mind.»

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