Basel ist eine Anne-Frank-Stadt. Hier hat Annes Vater Otto Heinrich Frank 1963 den nach seiner jüngeren Tochter benannten Fonds eingerichtet und diesen als Universalerben und Rechteinhaber des berühmten Tagebuchs sowie der weiteren Dokumente, Fotos und Objekte eingesetzt. Kann der Fonds auch über die Verwendung des Namens Anne Frank bestimmen? Das ist eine von vielen Fragen.
Die 15-jährige jüdisch-deutsche Anne Frank starb Ende Februar oder Anfang März 1945, kurz vor Kriegsende, im deutschen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Das Versteck ihrer Familie in Amsterdam war im August 1944 verraten und das Mädchen mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Margot sowie rund 1000 anderen Juden mit dem letzten (!) Zug nach Auschwitz deportiert worden.
Seit den 1960er-Jahren ist Anne Frank unsere fast ständige Begleiterin, mit dem berühmten Buch aus ihren Tagebuchnotizen, mit Presseartikeln, Ausstellungen, Theateraufführungen und seit 1959 bis jüngst 2016 mit verschiedenen Filmversionen und seit 2008 auch mit einem Musical.
Hochschiessende Kontroversen gab es, als die Dependancen des Londoner Wachsfiguren-Kabinetts Madame Tussauds 2008 in Berlin und 2013 im Wiener Prater Wachsstatuen des berühmten Mädchens in ihre Ausstellung aufnahmen.
Wachsfiguren können Anknüpfungspunkte für aufklärende Erläuterungen sein. Die Chancen dafür sind aber gering.
Massgebend für die Einreihung des Mädchens in die Sammlung von Wachsfiguren – neben Hitler und Justin Bieber (aber nur Letzterer mit nacktem Oberkörper) – sind ohne Zweifel in erster Linie kommerzielle Interessen. Diese könnten nebenbei freilich auch einem guten Zweck dienen.
Zweifel sind jedoch angebracht, dass die vollmundige Ankündigung und hohle Rechtfertigung auch tatsächlich funktionieren. Versprochen wird, dass man einen «Einblick» ins Leben Anne Franks erhalte und bei der Begegnung mit der Wachsfigur «hautnah» ein Stück deutsche Geschichte erlebe.
Holokitsch zum Holocaust
Solchen Puppen ist nicht abzusprechen, dass sie Anknüpfungspunkte für aufklärende Erläuterungen sein können. Die Chancen dafür dürften aber gering sein. Gewissermassen den Segen jüdischer Honoratioren haben sie aber erhalten: Die Wiener «Anne Frank» wurde von der Direktorin des Jüdischen Museums in Wien feierlich enthüllt.
Zutreffend ist jedoch in jedem Fall, was die «Jüdische Allgemeine» 2012 unter dem Titel «Holokitsch mit Anne Frank» dazu bemerkt hat: Der Griff nach Anne Frank laufe auf eine Verniedlichung der Schoa hinaus und sei nur das vorläufig letzte Glied in der langen Kette des Anne-Frank-Merchandising. «Aus der fabrikmässigen Vernichtung der europäischen Juden ist ein Stück Popkultur geworden, allen pseudopädagogischen Vorwänden der Vermarkter zum Trotz.»
Dies sei als Hintergrund in Erinnerung gerufen, damit wir uns mit dem jüngsten Griff nach Anne Frank auseinandersetzen können. Gemäss einem Entscheid der Deutschen Bahn (DB) soll auf einem der 25 neuen ICE-4-Züge, die im kommenden Jahr in Betrieb genommen werden, der Name «Anne Frank» stehen. Das hat der Bahn den Vorwurf der partiellen Gedankenlosigkeit eingetragen.
Übersehen hat die DB, dass die Eisenbahn im kurzen Leben von Anne Frank eine besondere Rolle spielte.
Bloss partiell gedankenlos war der Entscheid darum, weil man sich dabei durchaus etwas gedacht hatte. Man habe, wie die DB nachträglich glaubwürdig versichert, «im Bewusstsein ihrer historischen Verantwortung» gehandelt, man habe «Erinnerungen wach halten», Anne Frank als «aussergewöhnliche Persönlichkeit» ehren wollen. Und man konnte sich auf ein wegleitendes Umfrageergebnis stützen: auf die Meinung von gegen 20’000 Bahnkunden. Anne kam so auf die Shortlist der 100 meistgenannten Personen – neben Konrad Adenauer und Karl Marx.
Übersehen wurde, dass die Eisenbahn im kurzen Leben von Anne Frank eine besondere Rolle spielte. Anders als Marx ist Adenauer ebenfalls mit der Eisenbahn unterwegs gewesen, aber auf eine normale Art und Weise. Nicht so das Mädchen Anne, das von der Reichsbahn, der Vorgängerin der Deutschen Bahn, in den Tod deportiert wurde.
Nachdenklichkeit und Oberflächlichkeit
Die DB wollte den indirekten Vorwurf der Geschichtsvergessenheit nicht auf sich sitzen lassen. Sie verwies auf das DB-Museum Nürnberg, wo der Rolle der Reichsbahn zur NS-Zeit eine eigene Dauerausstellung gewidmet ist, und auf das öffentliche Mahnmal «Gleis 17» am S-Bahnhof Berlin-Grunewald, an dem regelmässig auch Gedenkveranstaltungen stattfinden.
In typischer Weise unglücklich war der von PR-Profis abgefasste Begleittext der ersten Ankündigung, in dem Anne Frank einer Gruppe von Personen zugerechnet wurde, die allesamt – mit der Bahn unterwegs? – «neugierig auf die Welt» gewesen seien. Die «Frankfurter Allgemeine» bemerkte, das Mädchen sei nicht zu «Besichtigungszwecken» gereist, sie sei auch nicht auf Dienstreise unterwegs und nicht auf ein Forschungsabenteuer aus gewesen.
Das Problem liegt darin, dass sich die bei solchen Namensgebungen unvermeidliche Oberflächlichkeit nicht mit der im Fall Anne Frank erforderlichen tieferen Nachdenklichkeit verträgt. Mit Adenauer, Marx etc. kann man das machen, weil deren Leben nicht auf entsetzliche Weise durch ein verbrecherisches System ausgelöscht wurde. Ein gutgemeinter Vorschlag empfahl, statt Anne Franks Namen doch denjenigen Fritz Bauers zu nehmen.
Man darf fragen, wer denn in diesem Geschäft die vor allem profitierende Seite ist: der Benennende oder die Benannte?
Fritz wer? Der Name des Mannes, der in den 1960er-Jahren höchste Verdienste in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen erworben hat, ist den wenigsten bekannt. Also unbrauchbar für eine Aktion, die letztlich Züge mit Prominenz der bereits bestehenden Erinnerungswelt (zum Beispiel Albert Einstein oder Thomas Mann) einkleiden will.
Man darf auch fragen, wer denn in diesem Geschäft die vor allem profitierende Seite ist: der Benennende oder die Benannte? Wird mit der Personalisierung der Züge eine wirkliche Würdigung der Personen mindestens leicht gefördert? Welche Denkanstösse werden bei den Pendlerinnen und Pendlern, den Geschäftsreisenden, den Wochenendausflüglern etc. ausgelöst?
Im Allgemeinen könnte hier gelten: Nützt es nicht, so schadet es nicht. Im Fall der Anne Frank könnte der Denkanstoss – so die Befürchtung – dazu führen, dass Erinnerung nicht verstärkt, sondern verwässert wird. Da gehen keine Schaffner durch die Züge und erklären, was sich mit dem prominent gemachten Namen verbindet. Das dürfte sich bei als Ehrung gemeinten Strassennamen ähnlich verhalten. Anders wird es bei den zahlreichen Anne-Frank-Schulen sein, bei denen es in bestimmten Momenten sicher nicht ohne eine tiefere Beschäftigung mit dem Schicksal der Namenspatronin geht.
Anne Frank kann nicht in eine Serie mehr oder weniger normaler Leben eingereiht werden.
Zusätzlich störend ist, dass die DB nach dem Namen gegriffen hat, ohne sich mit Institutionen abzusprechen, die durch eigene Betroffenheit die Erinnerung an den Holocaust hochhalten – sowie mit der Rechtsnachfolgerin der Familie Frank. Die Deutsche Bahn hat die auf Beschwichtigung angelegte Erklärung abgegeben, dass sie sich «inzwischen» mit den Familienvertretern in Verbindung gesetzt habe und dass jüdische Organisationen ihre «beratende Begleitung» zugesagt hätten.
Man kann der DB nicht grobe kommerzielle Nutzung eines tragischen Schicksals vorwerfen. Anne ist einfach wegen ihrer positiv belegten Bekanntheit auf die Liste gekommen. Das Problem liegt darin, dass Anne Frank, auch wenn sie stellvertretend für Millionen von umgebrachten Menschen steht, gerade deshalb nicht in eine Serie mehr oder weniger normaler Leben eingereiht werden kann.
Die Diskussion zum richtigen Umgang mit Anne Frank sollte für uns vor allem eine Gelegenheit sein, eine Einladung zu einer Zeitreise – mit oder ohne Eisenbahn –, um sich wieder einmal mit dieser grauenvollen Geschichte Europas auseinanderzusetzen. Dazu gehört die Frage, wie es möglich war, dass es dazu hatte kommen können.