Mit der Ego-Kamera zum Star im eigenen Actionfilm

Kaum ein Tauchgang oder eine Motocrossfahrt ohne Actionkamera: Die robusten Mini-Camcorder haben einen weltweiten Siegeszug angetreten. Nie war es so einfach und günstig, extreme Situationen zu filmen. Das nutzen auch Basler Sportler.

Kaum ist Action im Anflug, schaut heute das dritte Auge für die sozialen Netzwerke mit. So auch beim Basler Gleitschirmflieger Markus Bertschmann, der seit vier Jahren nicht mehr ohne GoPro auf dem Helm durch Europas Lüfte fliegt.

Kaum ein Tauchgang oder eine Motocrossfahrt ohne Actionkamera: Die robusten Mini-Camcorder haben einen weltweiten Siegeszug angetreten. Nie war es so einfach und günstig, extreme Situationen zu filmen. Das nutzen auch Basler Sportler und filmen sich beim Gleitschirmfliegen, Skateboarden und bei Parcours.

Wie eine zu Eis erstarrte Autobahn schlängelt sich der Aletschgletscher durch die Berner Alpen, neben ihm sticht die steinerne Spitze des 3314 Meter hohen Olmenhorns durch die Schneedecke, darüber nur noch der Himmel. Und Markus Bertschmann. Mit dem Gleitschirm fliegt der 37-jährige Informatiker aus Basel lautlos über die Berge und geniesst eine Aussicht, wie sie nur wenige Menschen zu sehen bekommen.

«Das ist wie Tauchen in der Luft, ein super Gefühl», sagt Bertschmann. Und jeder kann es nachempfinden, immerhin ein bisschen. Denn Bertschmann filmt seine Flüge mit einer GoPro-Kamera, einer winzigen Videokamera, die er an seinem Helm befestigt. Zu Hause schneidet er aus den Aufnahmen kurze Videoclips zusammen und stellt sie ins Internet.

Der Boom der Ego-Cams

Ob Fallschirmsprung oder Tauchgang, Skifahren, Motocross oder Rheinschwimmen – kaum ein Hobby findet noch ohne die kleinen Kameras statt. Actioncamcorder wie die Modelle des kalifornischen Marktführers GoPro und anderer Hersteller boomen. Im Jahr 2013 verkauften die Schweizer Filialen der Elektronikkette Media Markt drei Mal so viele Actioncams wie im Jahr zuvor, wie eine Anfrage der TagesWoche ergab. Der Umsatz des Unternehmens GoPro verdoppelte sich im vergangenen Jahr auf fast eine Milliarde Dollar, der Gewinn auf 61 Millionen Dollar. Die Kalifornier verkauften 2013 3,8 Millionen HD-Kameras. Zum Börsengang im Juni wurde die Firma mit drei Milliarden Dollar bewertet.

Der Boom ist leicht zu erklären. Mit den Actioncams, deren ästhetisches Markenzeichen der extreme Weitwinkel von 170 Grad ist, wird jeder zum Star seines eigenen Actionvideos. Mit schockresistenter und wasserfester Schutzhülle wiegen die Kameras nur etwa 150 Gramm und sind kleiner als eine Zigarettenschachtel.

Beweisvideos von Sportlern und Selbstdarstellern

Mit speziellen Halterungen können sie am Kopf und am Helm, am Fahrrad und Auto, am Surfbrett und Gleitschirm, ja beinahe an jedem erdenklichen Ort befestigt werden. Die Bedienung ist nach kurzer Eingewöhnung leicht. Dann reicht ein Knopfdruck und die Kamera läuft. Zeichnet sie auf, all die Erlebnisse der Mountainbiker, Parcours-Sportler, Taucher. Hält die Beweise fest, die die exhibitionistische Generation Facebook so gerne im Internet teilt.

Zudem sind die Geräte vergleichsweise preiswert. Das günstigste GoPro-Modell kostet 299 Franken, das Topmodell 549 Franken. Vor wenigen Jahren musste für vergleichbar einsetzbare Ausrüstung mit HD-Qualität teures Spezialequipment gekauft werden.

Erfunden hat GoPro der kalifornische Surfer Nick Woodman. Sein Wunsch: eine schockresistente, bezahlbare und wasserfeste Minikamera, um sich beim Surfen filmen zu können. 2004 verkaufte er das erste Modell, damals eine 35-Millimeter-Filmkamera. Die Kameras wurden immer besser, 2009 kam die erste mit HD-Qualiät auf den Markt, mittlerweile gibt es davon die vierte Variante, die allerdings die Bezeichnung 3+ trägt. Andere Kamerahersteller sind auf den Trend aufgesprungen. Sony, JVC, Panasonic und Rollei, ja selbst Shimano und Garmin haben das Spielzeug für Wagemutige und Selbstdarsteller im Angebot. Für Filme, die wirken, als sei der Betrachter selbst dabei.

Essen kann man die GoPro-Kameras ebenso wenig wie Dollars. Mit seinem Unternehmen schaffte es Gründer Nicholas Woodman aber immerhin auf die Forbes-Liste der 400 reichsten Amerikaner.

Essen kann man die GoPro-Kameras ebenso wenig wie Dollars. Mit seinem Unternehmen schaffte es Gründer Nicholas Woodman aber immerhin auf die Forbes-Liste der 400 reichsten Amerikaner. (Bild: MIKE SEGAR)

Gleitschirm: Kein Extra-Risiko für die Kamera

Der Basler Markus Bertschmann fliegt seit zehn Jahren Gleitschirm. Bis zu 40 mal im Jahr schwingt er sich in die Luft, um die Schweiz und Europa von oben zu bewundern. Seit vier Jahren hebt er nicht mehr ohne seine GoPro-Kamera ab, die er am Helm montiert. Die Videos sind auf Bertschmanns Youtube-Kanal «ThatsMyVideoTube» oder auf der Website des Basler Gleitschirmclubs Fly-In zu sehen.

«Es ist toll, sich die Videos anzugucken und sich zu erinnern», sagt Bertschmann. Wenn ihn das Winterwetter zwingt, am Boden zu bleiben, lassen ihn die Videoaufnahmen vor dem heimischen Fernseher abheben. Dann geht er noch einmal auf «Hochalpines Sightseeing mit dem Gleitschirm», wie das Video vom Aletschgletscher heisst. Tollkühne Manöver für besondere Bilder lehnt er ab. «Ein erhöhtes Risiko möchte ich nicht eingehen», sagt er. Bertschmann dokumentiert mit der Kamera seine Flüge. Er verhält sich, als sei sie gar nicht da.

In der Skateanlage Port Land im Basler Hafen motiviert das blinkende Kameralicht Ivo Weibel, schwierige Tricks zu probieren. Der 28-jährige Maschinenzeichner aus Basel gehört zu den besten Transitionskateboardern der Schweiz, er fühlt sich wohl in Bowls, Pools und Rampen. Die Actionkamera hat er sich zum Tauchen gekauft. Seit Kurzem nutzt er sie beim Skaten als Zweitkamera. «Man kann sie andere Positionen einnehmen lassen, zum Beispiel unter dem Brett montieren», sagt er. Die kleinen robusten Geräte lieferten Aufnahmen, die man sonst nicht sehe. Häufig taugten die aber nur als Schnittbilder, um zwei Szenen zu verbinden.

Ausschliesslich mit einer GoPro zu filmen kommt für Weibel nicht in Frage. Dafür gebe es zu viele Nachteile. Die Tonqualität sei eher schlecht und die Bildqualität lasse bereits bei nicht optimalen Lichtverhältnissen nach. Der zusätzlich erhältliche LCD-Bildschirm sei zu langsam, um das Gefilmte schnell angucken und kontrollieren zu können. Und dann ist da das ästhetische Merkmal überhaupt, ein Weitwinkel von etwa 170 Grad. Den muss man mögen und wollen.

«Der Weitwinkel lässt es spektakulärer aussehen»

So wie Kevin Hediger. Der 19-jährige Basler ist Parcours-Profi. Nur mit Muskelkraft sucht er den direkten Weg durch die Stadt, sprintet und springt über Geländer, Garagen, Häuserdächer. «Der Weitwinkel macht die Sprünge grösser, sie sehen dann spektakulärer aus», sagt er. Die Actioncam befestigt er mit einem speziellen Stirnband am Kopf und filmt die Läufe. Die Videos guckt er sich nur privat an. Im Internet kommt die Ego-Perspektive nicht so gut an, die Fans wollen den Sportler sehen und nicht seine Sicht.

Auch im halbprofessionellen und professionellen Bereich wurden die Vorzüge von Actioncamcordern erkannt. Besonders der österreichische Getränkehersteller Red Bull nutzt die spektakulären Aufnahmen für Marketingzwecke. Das Unternehmen will einen jungen und coolen Lifestyle verkaufen, sponsert dazu Sportstars und Musik-Events. Die kleinen Kameras filmen dann nicht nur die Action, sondern immer wieder das Logo des Brausefabrikanten. Extremstes Beispiel war der Sprung des Actionsportlers Felix Baumgartner aus der Stratosphäre. Als sich der Österreicher im Oktober 2012 aus rund 39 Kilometern Höhe in die Tiefe stürzte und mit Geschwindigkeiten von bis zu 1342 Stundenkilometern der Erde entgegen sauste, dokumentierten das zahlreiche GoPro-Kameras. Und filmten seinen mit Red-Bull-Logos versehenen Spezialanzug. Ähnlich geschieht es täglich bei unzähligen anderen Athleten weltweit.

Bei Red Bull ist man sich der Wirkung der einzigartigen Bilder bewusst. «Die Kameras bieten die spannende Möglichkeit, einen Event aus einer gänzlich neuen Perspektive zu dokumentieren», erklärte das Unternehmen auf Anfrage. Man greife in den Event-Produktionen oftmals auf Kameras des Herstellers GoPro zurück, welcher einige Athleten und Veranstaltungen der Österreicher finanziell unterstütze. Wie gut das Marketing auch für den Kamerahersteller funktioniert, zeigen die Videos von Privatpersonen, die auf Facebook und Youtube landen. Viele Nutzer beenden die Filmchen mit dem GoPro-Logo. Das soll professionell wirken wie wie bei den Vorbildern aus dem bezahlten Sport. Für die Kalifornier ist es unbezahlbare Werbung.

Filmemacher: Kein Ersatz für Profi-Kameras

Selbst in Produktionen für Werbe- und Kinofilme haben Actioncamcorder Einzug gehalten, wenn auch in beschränktem Masse. Der Basler Kameramann Jonas Jäggy drehte Werbe- und Imagefilme für Opel, IBM und Swisscom. Die winzigen Kameras nutzt er, wenn es eine bestimmte Einstellung und das Drehbuch erfordern. Dann befestigt er sie an einem Auto, um Naheinstellungen von einem Rad zu bekommen. Oder an einer Drohne für Luftaufnahmen vom Nordpol. Früher hätte man dazu einen teuren Helikopter mieten müssen. «Actionkameras eignen sich vor allem für Spezialanwendungen und wenn man extreme Weitwinkel benötigt», sagt Jäggy.

Ähnlich sieht es Kristian Widmer, Geschäftsführer des Zürcher Medienunternehmens Condor Films. «Die Actioncam ist für den Profi ein Werkzeug mehr im Werkzeugkasten des Filmemachers – und wie jedes Handwerkszeug sollte dieses Werkzeug nur für den Zweck, für den es gemacht ist, eingesetzt werden», sagt Widmer. Für ungewöhnliche Bilder nehme man auch die aus Profisicht mindere technische Qualität für einige Sekunden in Kauf. Sobald nicht mehr optimale Lichtverhältnisse herrschen oder Blickwinkel wechseln, stosse die Actioncam allerdings an ihre Grenzen.

Bei Condor Films werden Actioncamcorder deswegen nur selten montiert. Bei der Produktion von Image- und Produktfilmen kommen sie laut Widmer «alle paar Monate» zum Einsatz. In der Fernsehabteilung FaroTV filmen sie nur wenige Sequenzen. Zum Beispiel wenn die Filmemacher der SF-Serie «Tierische Freunde» den Blick einer Katze aus einer Katzenbox zeigen wollen. Oder wenn die Redaktoren von «Beobachter TV» den Blickwinkel eines Beteiligten ganz bewusst realitätsnah und mit einem Amateurlook einfangen wollen. In den rund 1000 bisher gedrehten Werbespots wurde keine Sekunde mit einer GoPro gefilmt.

Actionskameras gab es schon im Zweiten Weltkrieg

Wirklich neu, sagt Widmer, sei das Prinzip der Actionkamera nicht. Schon 1920 experimentierte der sowjetische Filmemacher Dsiga Wertow damit, die Kamera vom Stativ zu lösen. Damit habe er möglichst lebensnah filmen wollen. Im Zweiten Weltkrieg liefen die deutschen Soldaten mit Arriflex-Handkameras und Siemens-D-Schmalfilmkameras zu Propagandazwecken durch die Schützengräben. Ende der 1960er Jahre habe dann die entfesselte Kamera durch Filmemacher wie Jean-Luc Godard eine zweite Blütezeit erlebt. «So betrachtet dürfte man mit Fug und Recht behaupten, dass die heutigen Actioncams nicht mehr und nicht weniger als eine dritte Phase dieser Entwicklung sind», sagt Widmer.

Eine Entwicklung, an der aufgrund des günstigen Gerätepreises so viele Menschen teilhaben können wie noch nie. Die Beweise stehen millionenfach auf Facebook und Youtube, begegnen einem auf Landstrassen und Skipisten. Ob die zaghaften Schwünge im Skigebiet wirklich für die Ewigkeit festgehalten werden müssen, sei mal dahingestellt.

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