Mit Fackeln gegen die Ketzer

Nirgends war der Protest gegen den «Stellvertreter» von Rolf Hochhuth heftiger als in Basel vor fünfzig Jahren.

Der «Stellvertreter» auf der Bühne des Theaters Basel: Pater Riccardo Fontana heftet sich vor dem Papst den Judenstern an. (Bild: Kurt Wyss)

Nirgends war der Protest gegen den «Stellvertreter» von Rolf Hochhuth heftiger als in Basel vor fünfzig Jahren.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat kein deutschsprachiges Theaterstück weltweit so viel Aufsehen erregt wie der vor genau 50 Jahren in Berlin uraufgeführte «Stellvertreter». Im «christlichen Trauerspiel» des damals 31-jährigen Rolf Hochhuth geht es um das Schweigen des Papstes Pius XII. gegenüber der Judenvernichtung. In keiner Stadt war die Aufregung derart gross wie in Basel, wo die Premiere am 24. September 1963 stattfand.

Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» widmete am 2. Oktober 1963 den Auseinandersetzungen am Rheinknie einen ausführlichen Bericht: «In Basel trieb der Streit um Hochhuths ‹Stellvertreter› seine bisher wildesten Blüten. In der Eidgenossenschaft brodelte, teils komisch, teils makaber, ein Kulturkampf mit faschistischen Nebengeräuschen. Animiert von der Basler katholischen Gemeinde und einer ‹Aktion junger Christen› für den konfessionellen Frieden demonstrierten rund 10 000 Schweizer nach Schweigemarsch und Fackelzug vor dem Basler Stadttheater gegen oder für die Aufführung des Anti-Pius-Schauspiels.»

«Der Spiegel» erwähnte weiter die «anonymen Attentatsdrohungen gegen das Stadttheater, die Synagoge und die Freimaurerloge in Basel». Der deutsche Intendant Friedrich Schramm «hörte sich telephonisch abwechselnd als Nazi- oder Judenschwein tituliert». Die Bombendrohungen waren in italienischer Sprache abgefasst und stammten wohl von papsttreuen Migranten. Das Stadttheater als Symbol des liberalen Bildungsbürgertums, die Synagoge als Haus der «Gottesmörder» und die antiklerikalen Freimaurer bildeten für traditionalistische Katholiken eine Art unheilige Dreifaltigkeit. Dass die gleiche Person als «Nazi» und als «Jude» bezeichnet wurde, passte zum Umstand, dass zwanzig Jahre zuvor die Ablehnung des Hitlerregimes mit dem eidgenössischen Antisemitismus ganz gut zusammengegangen war.

Wie deftig es anlässlich der Premiere vor dem Stadttheater zu und her gegangen war, beschrieb die «National-Zeitung» in einem Demobericht: «Eine Stunde lang herrschte ein unbeschreiblicher Tumult. Halbwüchsige und Buben, die noch zur Schule gehen, versuchten mit allen Mitteln die Polizei zu provozieren. Während die einen fürs Theater Partei ergriffen und ‹Bravo, Schramm› schrien, versuchten die anderen mit ‹Schramm – use!› oder mit ‹Sauschwob› die Gegenpartei zu übertönen. Ab und zu gerieten sie einander in die Haare und balgten sich gegenseitig herum. Nach einer Stunde aber, als die Schreihälse noch immer keine Vernunft annehmen wollten und der Trambetrieb noch immer unterbrochen war, wurde die Polizei schliesslich energischer.»

In der «darauffolgenden halben Stunde» sind dann «zwölf der grössten Radaubrüder von kräftigen Polizeifäusten gepackt und ins Arrestlokal im Steinenschulhaus geschafft worden».

«Wüsteste Demonstrationen»

Weniger beschreibend, dafür mehr wertend war der Artikel der sozial-demokratischen «Arbeiter-Zeitung» (AZ): «Niemand wird nach dieser Kraftprobe leugnen, dass der Katholizismus im heutigen Basel eine Macht darstellt, mit der zu rechnen ist. Aber ebenso wenig wird der Unvoreingenommene bestreiten, dass die Hintermänner dieser seit Wochen, ja seit Monaten vorbereiteten Aktion, für die nicht nur echte religiöse Gefühle, sondern auch übelste Instinkte geweckt wurden, entschieden übermarcht haben. Man kann nicht ‹die Strasse› gegen ein Buch oder ein Theaterstück mobilisieren, das die Demonstranten überhaupt nicht kennen, und dann sich damit entschuldigen, man habe sich ja schon vorher ‹in aller Form› von Gewaltakten und Pöbeleien distanziert.»

Die Zeitung der Katholischen Volkspartei, das «Basler Volksblatt», machte die «Freiheit für Kunst»-Leute für die Krawalle verantwortlich. Ausführlicher als die anderen Medien berichtete das konservative Organ über die Unruhe im Theatersaal. «Sobald Pfui- und andere Protestrufe laut wurden, wurde sofort das Licht eingeschaltet und mit dem Scheinwerfer nach den Rufern gefahndet, die – wenn die Polizei fündig wurde – das Haus verlassen mussten. An verschiedenen Stellen hörte man Rufe, wie ‹Beleidigung›, ‹Gemeinheit›. Einzelne Zuschauer verliessen das Haus auch unaufgefordert unter lautem Protest.» Bei späteren Aufführungen wurden Stinkbomben gezündet und Eier geworfen. Am heftigsten ging es bei der 13. Aufführung am 17. Oktober zu und her. Gemäss «Volksblatt» seien die Tumulte durch das Vorgehen der Polizei ausgelöst worden.

Die wiederholten Störungen erstaunten umso mehr, als das Stück für die Basler Aufführung entschärft worden war. Hans R. Linder, der die Premiere für die «National-Zeitung» besprach, «bekam den Eindruck, dass die Hochhuth-Gegner geradezu Mühe hatten, noch ‹lohnende› Stellen zu finden, wo sie ihre Pfiffe und Zwischenrufe anbringen konnten.» Der Regierungsrat hatte, wie er in seiner Antwort auf eine «Stellvertreter»-Interpellation ausführte, zum Voraus «der Verwaltung des Theaters seine Bedenken zur Kenntnis» gebracht. In der fraglichen Grossrats-Debatte vom 26. September verlangte der katholisch-konservative Interpellant Walter Hänggi zusätzlich, der Regierungsrat solle beim Stadttheater gegen die Anstellung Rolf Hochhuths als Volontär protestieren. Nachdem auch der einen Monat später in den Nationalrat gewählte Albin Breitenmoser (KVP) sowie ein Liberaldemokrat und ein Evangelischer in die gleiche Kerbe gehauen hatten, versprach der Regierungsrat, bei der Theaterverwaltung vorstellig zu werden.
Hochhuth blieb nicht mehr lange am Theater, aber er blieb in Basel. Trotz etlicher Probleme mit der Fremdenpolizei. Seine Entscheidung für Basel begründete er gegenüber der «National-Zeitung» im April 1964 damit, dass er hier zwar «die grössten und auch die wüstesten Demonstrationen» gegen den «Stellvertreter», aber gleichzeitig «so viel herzliche Anteilnahme und Sympathie wie an keinem anderen Ort» erlebt habe.

«Eigentlich beschämend»

Hinter den «Stellvertreter» stellten sich in der Parlamentsdebatte der zweite liberaldemokratische Redner, die Sprecher der Radikalen, wie die FDP damals hiess, des Landesrings und der SP. Als letzter Votant machte der unabhängige Sozialist Peter Stein, laut «National-Zeitung» der «einzige Jude im Rat», deutlich, «dass auch in der Schweiz die Haltung den Juden gegenüber lange Zeit alles andere als korrekt» gewesen war. Die liberalkonservativen «Basler Nachrichten» (BN) hoben folgende Aussage Steins hervor: «Gegen die Judendeportationen wurde nur schwach demonstriert. Deshalb sind die jetzigen Massendemonstrationen eigentlich beschämend.»

Die Leserschaft der «Basler Nachrichten» war am stärksten gespalten. Deren Theaterkritiker Philipp Wolff-Windegg, der in Verteidigung des «Stellvertreters» am 25. September eine der brillantesten Rezensionen veröffentlicht hatte, kam massiv unter Beschuss. In einer abschliessenden Bilanz sah sich der Chefredaktor und liberaldemokratische Nationalrat Peter Dürrenmatt zu folgender Klärung gezwungen: «Es ist bitter, aber unumgänglich, hier hinzufügen zu müssen, dass der Verfasser jener Besprechung Protestant ist wie alle seine Vorfahren und nicht Israelit. Deshalb, weil wir Anlass haben, annehmen zu müssen, manche, die sich über ihn beschwert haben, hätten gemeint, er habe als Jude ein Ressentiment abreagieren wollen» (BN 19./20.10.).

Die Debatte wurde aus dem Theater ins Parlament getragen.

Turbulent verliefen auch die Gastvorstellungen des Basler Stadttheaters in Olten am 29. Oktober und in Aarau zwei Tage später. Im mehrheitlich katholischen Olten, wo 1000 Personen gegen die Aufführung protestierten, warfen Mitglieder der Jungmannschaften Stinkbomben und zündeten Feuerwehrskörper. Gemäss dem sozialdemokratischen «Volk» ging das Bühnengeschehen im Stadttheater «vollständig in einem ohrenbetäubenden Krawall unter».

Im Aarauer Saalbau veranstalteten Jugendliche laut dem freisinnigen «Aargauer Tagblatt» in «zwei Szenen», in denen der Papst besonders kritisiert wurde, ein «grandioses Pfeifkonzert», was den Applaus der Gegenseite provozierte. Einzig in Zofingen hatte das Basler Stadttheater keine Probleme. Am 28. Oktober wurde das Stück vor 830 Personen aufgeführt. Parallel dazu feierte die katholische Kirche eine Protestmesse zum Zeichen der «Verehrung gegenüber dem Papsttum». Am Tag danach fand ein von 500 Personen besuchtes Streitgespräch statt, an dem auch Rolf Hochhuth teilnahm. Dabei kritisierte der jüdische Vertreter Hermann Levin Goldschmidt das Zürcher Schauspielhaus, das auf eine Aufführung des «Stellvertreters» verzichtet hatte.

«Endlich nicht mehr verboten»

Der Aufstand gegen Hochhuths «Stellvertreter» war der Schwanengesang des romtreuen Katholizismus in der Schweiz. Innert eines Jahrzehnts wurde insbesondere das Bistum Basel zu den papstkritischsten Diözesen der Weltkirche. Umso grösser war die Überraschung, als die römisch-katholische Gemeinde 1976 gegen die Verleihung des Basler Kunstpreises an Rolf Hochhuth protestierte.

Sie monierte, damit seien «alte Wunden aufgerissen» worden, «die man in der Zwischenzeit für ausgeheilt gehalten hat». Die Regierung antwortete mit dem Hinweis, dass selbst innerhalb der Kirche «Kritik an der Kirche und an einer Person, die sie repräsentiert, heute endlich nicht mehr verboten ist».

Darum ging es im «Stellvertreter»
Hochhuths Theaterstück schildert die Versuche des Jesuitenpaters Riccardo Fontana, einer Figur, die verschiedene katholische Nazigegner verkörpert, Papst Pius XII. von der Vernichtung der Juden in Kenntnis zu setzen. Während der Deportation der römischen Juden nach Auschwitz drängt Fontana den «Stellvertreter Gottes» zu einem öffentlichen Protest. Da er scheitert, wählt der Geistliche das Märtyrium und schliesst sich den Deportierten an.

 

Literatur:

Rolf Hochhuth, Der Stellvertreter. Mit Essays von Jaspers, Muschg, Piscator und Golo Mann, 41. Auflage, Hamburg 2012 (Erstauflage 1963)

R. Hoffmeister / R. Hochhuth, Dokumente zur politischen Wirkung, München 1980

Josef Lang, „Was kann man gegen die Wahrheit tun?“ „Der Stellvertreter“ provozierte 1963 die konservativen Katholiken – Ein Beispiel schweizerischer Vergangenheitsbewältigung, Tages-Anzeiger 13.8.1997

Josef Lang, Als Katholiken den Liberalismus bekämpften, Tagesanzeiger, 14. März 2006

Urs Altermatt, Debatte um Hochhuths „Stellvertreter“ 1963. Wendepunkt der katholischen Vergangenheitsbewältigung, NZZ 9.7.2003

Nadine Ritzer, Alles nur Theater? Zur Rezeption von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ in der Schweiz 1963/64, Fribourg 2006

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.03.13

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